Lonvilad Gali. Erlebnisse um einen Pass zwischen Kaschmir und Ladakh
Bernhard Rudolf Banzhaf, Basel
Erlebnisse um einen Pass zwischen Kaschmir und Ladakh Es gibt Berge, die aufgrund ihrer besonderen Form, ihres majestätischen Aussehens bestiegen werden; Gegenden, die man besucht, weil sie allein schon aufgrund ihrer Lage auf der Karte schön sein müssen. Beim Lonvilad Gali hingegen handelt es sich um einen Pass, der mich vor allem wegen seines schönen Namens lockte.
Vor mir liegt eine sichtlich viel gebrauchte Landkarte. Sie zeigt nebst behelfsmässig verklebten Rissen, Kaffeeflecken und Rümpfen -die mitunter rein zufällig mit dem Gebirgsrelief übereinstimmen - die Himalaya-Haupt-kette im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Es wimmelt von schönen Namen, bekannten und unbekannten: Srinagar, Shalimar, Jhelum, Sonamarg, Haramukh, Anant-nag, Nun und Kun... und - Lonvilad Gali; die Flurnamengeber müssen Dichter gewesen sein. Neben mir sitzt Ang Temba Sherpa, jener feine Nepali, der mich auf so mancher Tour in Ladakh und Zanskar begleitet hat, und spricht auf Urdu mit einem freundlichen jungen Mann. Wir befinden uns in Hemis Gompa im oberen Ladakh. Die Mönche spielen Fris-bie. Auf den Feldern fallen die Gerstengarben, während die Bauern dazu monotone Lieder singen. Der junge Mann redet langsam und mit heller Stimme. Seine gesunden Zähne sind vom Kautabak ebenso braun wie sein Gesicht von der Sonne Ladakhs. Unter einer Wollmütze versteckt sich struppiges schwarzes Haar. Ein kleines, in grünen Filzstoff einge-nähtes Amulett baumelt auf seiner Hemdbrust. Namen von Wegen und Orten dringen an mein Ohr: Dras, Zoji La, Kargil, Suru. Mohammed Hadi - so der Name des jungen Mannes, den alle einfach Hadi nennen - ist Säumer und stammt aus Braqchan bei Panikhar im Surutal. Halt! Panikhar! Liegt das nicht am Fusse dieses Lonvilad Gali? Ich taste mit dem Zeigefinger über die Karte - tatsächlich. Ich beginne, mich mit Hadi zu unterhalten, und frage ihn über diesen geheimnisvollen Pass mit seinem wohlklingenden Namen aus. Er sei vergletschert, was aber Hadis Pferde an seiner Überschreitung nicht hindern könne. ( Nein, auch die Flüsse bieten kein Problem, denn an den kritischen Stellen bestehen Brücken. Einzig die grossen Wachhunde der Baitinomaden sind gefährlich. Von wo aus man startet? Warte. ) Er beugt sich interessiert über meine Karte und fragt mich, ob auch Pahalgam darauf zu finden sei.
Tatsächlich, hier, zwischen zwei braunen Klecksen - das also wäre der Ausgangspunkt! Daran anschliessend werden aber mehrere Namen erwähnt, die auf der Karte nicht aufge- führt sind. Auch Hadis Begleiter Hassan mischt sich nun in gewiegtem Englisch in die Diskussion ein, und schon folgt mein geistiges Auge dem Weg über die Hauptkette des mächtigen Himalaya - dort, wo der Lonvilad Gali Kaschmir mit Ladakh verbindet. Wir werden bald handelseinig: ( Am 20. Juni 1985 kommen Ang Temba und ich nach Pahalgam und treffen dich dort. Dann überschreiten wir gemeinsam den Lonvilad Gali, bleiben ein paar Tage in deinem Dorf und wandern weiter zum Indus. Bring zwei gute Pferde mit. ) Hadi ist einverstanden.
Bis zum 20. Juni sind es noch acht Monate. Hadi kehrt mit seinen Pferden nach Hause zurück, nach Braqchan bei Panikhar, und Ang Temba und ich fliegen nach Kathmandu.
Vier Monate später: Aus Ostnepal kommend, treffe ich erneut in Kathmandu ein. In meiner Post liegt ein kleiner Brief, zerknittert und abgescheuert, als käme er von einem fernen Stern. Zehn kleine indische Briefmarken kleben vorne und hinten, viele schwarze Stempel haben sie entwertet. Fein säuberlich, wie gemalt, stehen mein Name und meine Adresse in lateinischer Schrift darauf, während der Absender sich in arabischer Schrift verewigt hat. Ich öffne den Brief - wieder Arabisch! Wer könnte mir nur geschrieben haben? Einer der vielen schwarzen Stempel ist lesbar:
Am 16. Juni beziehe ich mit Ang Temba das Hausboot ( Rajdoot ) auf dem Dal-See in Srinagar. Abdul Ahad Dugloo begrüsst uns herzlich. Er schwingt ein Telegramm in seiner hoch erhobenen Hand, Aufgabeort Kargil:
Die nun folgende Reise scheint uns eine kurzweilige, zweieinhalbstündige Busfahrt zu versprechen. Doch leider verwandelt sie sich bei zunehmender Tagesdauer in eine der üblichen indischen Busfahrten: lang - ja schier unendlich. Zwar fährt der Bus - das heisst, wenn er unterwegs ist - in flottem Tempo und die - und ( Drive slowly>-Tafeln vor suspekten Brücken wirken beinahe wie waagrechte Striche in der grünen Landschaft. Auch lassen sich die Fahrer der drei gleichzeitig in Srinagar gestarteten Vehikel zu regelrechten Elefantenrennen auf offener oder selbst auf wenig übersichtlicher Strecke hinreissen. Aber eben, viele Pausen und ein gewiss reizvoller, aber nicht notwendiger Abstecher nach Konkernag verlängern die Strecke nach Pahalgam beträchtlich. Dafür sehen wir unzählige Gläubige in schattigen Hainen ihr Festtagsge-bet zum Eid-al-Adha verrichten - das Ende des Ramadan ist gekommen.
In Pahalgam empfängt uns eine angenehm kühle Atmosphäre. Mehrheitlich indische Touristen, die geschickt der Bruthitze der Tiefebenen entfliehen, lassen sich auf Pferderücken durch die bewaldete Landschaft tragen. Wir erkunden die Gegend und treffen, nachdem uns noch heftiger Gewitterregen durchnässt hat, etwa eine Stunde vom Ort entfernt auf Hadis Zelt. Er selbst sitzt allein am stark rauchenden Feuer, das von getrocknetem Pferde-dung genährt wird. Suleiman, sein Begleiter, Im tief eingeschnittenen Seitental vor dem Lonvilad Gali ( Ladakh ) holt die zwei Pferde: einen Schimmel, der schon letztes Jahr mit dabei war, und einen ebenso gutmütigen wie starken Rappen. Am folgenden Morgen brechen wir auf. Der breite, ausgetretene Weg verrät, dass er viel benützt wird. Dies jedoch nur in den Sommermonaten Juli und August, wenn hier zehntausende hinduistische Pilger der heiligen Eisgrotte von Amarnath zustreben.
Alles wirkt sehr grün und fruchtbar. Mächtige Deodarbäume säumen den Pfad. Die Pferde gehen gut, und der Schwarze hält die Ohren fast waagrecht nach vorn. Suleiman -ein erfahrener, drahtiger Mann mit einer Adlernase - trottet, in eine Art Halbschlaf versunken, hinter ihnen her. Später, zwischen Chandanvari und Sheeshnag, kommt aber dann seine erste grosse Stunde. Wir gehen auf eine Gruppe Nomaden zu, die am Wegrand lagert. Ihre buntgeschmückten Pferde grasen in unmittelbarer Nähe.
Kaschmir! Gibt es ein Paradies auf Erden, ist es dies, ist es dies, ist es dies... Der Mogulkaiser, der dieses Urteil über die
Hadi singt. Auf dem Rücken trägt er einen derben Sack, mit dem er im Nebel über die fahlen Matten huscht, um trockenen Pferdemist einzusammeln. Unterdessen knetet Suleiman, stumm versunken, seinen Teig. Er achtet nicht einmal auf unseren Sherpa, der dem streikenden Kerosinkocher gütlich zuredet. Ruhig fressen die Pferde, ohne zu spüren, wie der Schnee langsam auf ihre müden Rücken rieselt und dort zu tausend Perlen schmilzt, die ihrerseits unter der Körperwärme wieder verdampfen und sich erneut mit dem Nebel vermischen. Gedämpft klingt die helle Stimme des Säumers herüber, damit den Kreislauf in den Tönen dieses Himalaya-Landes unterma- lend. Später endlich vereint sich der beissende Rauch, das Klatschen des Fladenbäckers, das Summen unseres Kochers und das Pfeifen des Dampftopfes zu unserer eigenen Symphonie. ( Chai piega, guruguru chai, bodh hae.> ( Trink Tee, Salztee, es hat genug davon. ) Das ist Suleimans Stimme. Er sagt es mit einer Inbrunst und Würde, als gelte es, Fausts Prolog zu rezitieren. Hadi lehnt sich zurück, klaubt etwas vom trockenen Pferdemist aus dem Sack und legt ihn in die Glut, die er kurz anbläst. Suleiman schöpft seine dunkle Brühe, in der schwarze Fettaugen schwimmen. Ang Temba räuspert sich, spricht ein kurzes lamaistisches Gebet und trinkt in langsamen Schlucken seinen Tee. Eine grosse innere Ruhe bemächtigt sich unser.
Nun scheint sie eingetroffen zu sein, die unangenehme Überraschung, auf die ich seit heute morgen stets insgeheim gewartet hatte. Dies sind meine ersten Gedanken, als ich zwei Meter vor dem im unergründlich weichen Schnee eingebrochenen Rappen stehe. Doch mit vereinten Kräften gelingt es uns, das Pferd wieder zu befreien. ( Guchpara nehi hae, rasta bodh ajja haeKein Problem, der Weg ist sehr gut ), versichert Hadi. Der Schnee wird tatsächlich tragfähiger, so dass die Tiere nicht mehr so tief einsinken. In weiten Kehren streben sie jetzt der Passhöhe des Sainane La oder Gulgol Gali zu, während ich einen direkteren Anstieg wähle. In meinem Schlepptau befindet sich ein sehr junger Bakhrawali, wie die Baitinomaden auch genannt werden. Mit seinem wallenden Gewand, den langen, nach oben gebogenen Schnabelschuhen und dem Stock mit Silberknauf in der Hand erinnert er mich unwillkürlich an eine orientalische Mär-chenfigur.
Gemeinsam erreichen wir die Passhöhe, 4406 m. Die Sonne blendet, mein neuer Freund murmelt ein islamisches Gebet, dann sagt er ( Salami ) und entschwindet, einer wehenden Fahne gleich, auf den weissen Hängen der anderen Seite. Auch Hadi und Suleiman zitieren Suren aus dem Koran, Ang Temba ruft sein tibetisches
Für die erste, steile Passage befreien wir sie von ihren Lasten, die wir selber hinuntertragen. Dann folgen wir auf hartem Firn einem Im Surutal: Die Sonne bestreicht die höchsten Bergspitzen stark abfallenden Tal, das uns schliesslich in die Ebene von Rangmarg führt. Zu meinem grossen Erstaunen erblicke ich hier auf 3100 m Wasserbüffel. Auch Ang Temba kann es kaum fassen: dsipeschel hai altitjud baffaloim selben phonetischen Englisch notiert, wie er seine Briefe zuweilen schreibt, wenn sein ( Ghostwriter ) unabkömmlich ist.
In kleinen, massiven Erdhütten hausen hier die hochgewachsenen Bakhrawali. Aggressive Hunde bewachen die Szene. Einer scheut sich nicht, uns sofort anzugreifen. Der singende Ton der durch die Luft schwirrenden Zeltstange Suleimans und die heransausenden Kieselsteine aus Ang Tembas Hand bewegen ihn jedoch zum Rückzug. Zwei Mädchen kommen und bitten um Medizin gegen Kopfschmerzen.
Das Wetter drückt etwas auf die Stimmung. Wohl hat der Nieselregen aufgehört, aber es bleibt feuchtkalt. Selbst der Gedanke, übermorgen den Lonvilad Gali zu überschreiten, vermag mich im Moment nicht sonderlich zu erwärmen. Immer noch lauert der bissige Hund draussen in der Nacht, und der suchende Strahl meiner Stirnlampe lässt seine Augen jeweils kurz aufblitzen. Hadi hat sich am Feuer niedergelassen, dessen Widerschein Unser Ziel: die Moschee von Panikhar sein Gesicht mit einem kupfernen Schimmer überzieht. Mit gemessenen Bewegungen schöpft er sich Salztee aus dem Topf.
Wohl befinden wir uns noch in Kaschmir-einem grünen, aber wilden Kaschmir allerdings. Lawinenkegel versperren dem Fluss hier mitunter den Weg, steile, baumlose, unendlich weite Halden sind zu queren. Ab und zu schaut uns ein Murmeltier nach. Einmal begegnen uns Baltis hoch zu Ross. Mein junger Bekannter mit den Schnabelschuhen ist ebenfalls dabei. Als einziger grüsst er freundlich. Wir rasten in einem der Nomadendörfer. Hadi kocht Maisfladen, und ich unterhalte mich mit Nizam-ud-Din, dem Lehrer. Selbst Bakhrawali, begleitet er die Dorfgemeinschaft das ganze Jahr. Im Winter liegen die Weideplätze bei Jammu, im Sommer in den Hochtälern, ja sogar drüben im Surutal. Ihr grösster Reichtum besteht in der Herstellung von Wolle, wobei vom derben Ziegengarn bis zur feinsten Pashmina alles produziert wird. Ihr nomaden-haftes, hartes, aber freies Leben hat die Bakhrawali zu einem stolzen Volk gemacht.
Suleiman und Ang Temba haben sich inzwischen umgehört und wissen nun zu berichten, dass der Lonvilad Gali ohne weiteres zu begehen sei. Selbst eine Gruppe Nomaden beabsichtige, den Pass mitsamt ihrer Ziegenherde zu überschreiten. Wir brechen auf und dringen in ein tief eingeschnittenes Seitental ein, wo wir unter einem Felsdach die Nacht verbringen. Danach öffnet das Tal sich unvermittelt, um in eine grüne Ebene zu münden, an deren Ende sich ein mächtiger Gletscher über den Moränenschutt wölbt. Die zahlreichen Seitenbäche müssen entweder auf den Pferderücken gequert oder im eisigen Wasser durchwatet werden.
Früh am nächsten Morgen sind wir bereits wieder startbereit. Hadi sattelt die Pferde. Suleiman hockt mit seiner grauen chuba hinter dem Kochtopf, in dem der Salztee siedet. Ein wolkenloser Himmel - die Luft ist klar und kalt. Schon hat die Sonne die höchsten Bergspitzen erreicht. Drei Baltis treiben ihre meckernde Ziegen- und Schafherde vorbei, in deren Mitte sich zwei schwarze Kettenhunde verstecken.
Unsere kleine Karawane schliesst sich dem Zug an. Hadi führt den Schimmel, Suleiman Grünes, aber wildes Kaschmir ( Rangmarg ) den Rappen, während ich mit Ang Temba hin-terherschlendere. Der Weg führt durch Schutt und Geröll, später kommen wir auch an einzelnen Spalten vorbei. Ohne stark gestiegen zu sein, erreichen wir nach etwa vier Stunden ein fast ebenes, schneebedecktes Hochtal. Rundherum leuchten vergletscherte Berge. Hadi geht weiter - ohne Rast zu machen -, denn solange der Schnee noch hart ist, sinken die Pferde nicht ein. In ein Seitental einbiegend, gewinnen wir weiter an Höhe und gelangen schliesslich zu einer ausgedehnten Verflachung, an deren Ende wir den Kulminationspunkt des Passes erkennen können. Scharfes, blendendes Licht taucht die Landschaft in ein grelles Weiss: Das ist der ersehnte Lonvilad Gali.
Mein Höhenmesser zeigt 4240 m, die Karte 4500 m. rUpharpukchaigab ( Wir sind oben angekommen ), meint Hadi, als hätte er nach einem neuen Wahlspruch gesucht.
Wind, Wolken, Nebelfetzen. Unverzüglich setzt Schneetreiben ein. Im Schütze eines Felsens verteilt Ang Temba khorlak, Kugeln aus tsampa, dem gerösteten Mehl der Gerste, und der Salztee aus meiner Thermosflasche liefert die nötige Flüssigkeit dazu. So plötzlich, wie der Niederschlag eingesetzt hat, so rasch hört er wieder auf. Die Sonne bricht durch, und in der brütenden Nachmittagshitze wandern wir talwärts, nach Ladakh hinein. Die Pferde ziehen die Luft ein, sie wittern die tieferen, angenehmeren Regionen, der Stall lockt, sie beschleunigen ihren Schritt. Ein letztes Biwak auf einer herrlichen Wiese. Morgen werden wir das Dorf unserer Freunde erreichen, Braqchan bei Panikhar.