Leiten lernen
« Skitouren » Der Fitnessstand der Gruppe, Lawinen, Nebel, Eisschlag oder Gletscherspalten - wer eine Skitour organisiert, muss bereits anlässlich der Vorbereitung all diese Faktoren berücksichtigen. Um die damit einhergehende grosse Verantwortung wahrnehmen zu können, werden JO-Leiter im Rahmen einer anspruchsvollen Ausbildung auf ihre zukünftige Aufgabe vorbereitet. Dieses Jahr erwarben 2 Teilnehmerinnen und 25 Teilnehmer, aufgeteilt in fünf Gruppen, den Leiter-2-Ausweis.
« Bergerfahrung ist die Summe aller überlebten und verarbeiteten Dummheiten ». Mit diesem Schlusssatz entlässt der Lawinenfachmann Werner Munter die Gruppe in das stürmische Schneetreiben. Das ungestüme Wetter auf dem Konkordia- Trotz dichtgedrängtem Programm findet sich immer auch Zeit für eine Pause; auf dem Gipfel des Kleinen Aletschhorns ( 3750 m ).
Sportklettern. Sie besucht den Leiterkurs, weil sie gerne neue Tourenmöglichkeiten ausheckt und die Zusammenarbeit mit Jugendlichen schätzt.
Suppe selber eingebrockt Ein Schritt, zwei Atemzüge, nächster Schritt. Die aufgebundenen Ski drücken den Rucksack noch stärker auf die Schultern. Die zurückgelegten 2000 Höhenmeter haben den Geist abgestumpft - ach, wie weit ist der Gipfel noch entfernt! Nächster Schritt. Seilzug von hinten - den beiden Kameraden geht es auch nicht besser. Sehr langsam quält sich unsere Seilschaft in Richtung Aletschhorn. Aber keiner beklagt sich, denn diese Suppe haben wir uns selber eingebrockt. Der Bergführer Hansueli Marti hatte uns vor die Wahl gestellt: entweder von der überfüllten Konkordiahütte in die noch stärker belegte Finsteraarhornhütte zu wechseln oder die Hollandiahütte mit den Touren Äbeni Flue und Mittagshorn zu verbinden. Als dritte Variante bot sich die Gewalttour direkt von der Konkordiahütte über das Aletschhorn in die Oberaletschhütte an. Wir studierten Karten und Führer, addierten Höhenmeter- und Horizontal-distanz-Stunden, verglichen Azimute und planten Ausweichziele bis uns schliesslich der Ehrgeiz in Richtung Aletschhorn verführte.
« Grenzerfahrung » oder « teilnehmergerechtes Planen » Während des monotonen Stap-fens werden wir hautnah mit diesen Worten aus der Theorielektion des ersten Tages konfrontiert. In diesem erschöpften Zustand braucht es erschreckend viel Kraft, um konzentriert zu bleiben. Jetzt wäre es schwierig, sich auch noch um die Sicherheit anderer zu kümmern. Besonders der Abstieg über den mit pappigem Neuschnee beladenen SW-Grat verlangt nochmals die ganze Aufmerksamkeit. Der Schnee verstopft die Steigeisen, die Ski auf dem Rucksack kratzen bei Kletterstellen unangenehm am Fels. Wir verlieren viel Zeit. Erst um vier Uhr nachmittags steigen wir endlich wieder in unsere Skibindungen. Die Sonne brennt, sie weicht die Schneebrücken unter und die Hänge über uns auf - die Zeit drängt. Stumm mobilisieren wir die verbleibende Energie; die einzige Strategie lautet « vorwärts ». Bergführer Hansueli bleibt erstaunlich ruhig.
Abends bei der Tourenbesprechung sind wir verblüfft über seine lobenden Worte. Schon vor der Tour sei er überrascht gewesen, dass sich alle für dieses Unternehmen motivieren konnten. Das flüssige Aufstiegstempo sei erst am Schluss ins Stocken geraten. Der grosse Fehler: der zu späte Start; ein 1-2 Stunden früherer Aufbruch wäre richtig gewesen.
Hansueli Marti, 46 Jahre, ist der Bergführer der Gruppe 2. Der 46 Jahre alte Vater einer einjährigen Tochter arbeitet seit 25 Jahren als Führer, und seit 18 Jahren ist er als Experte in der Bergführerausbildung tätig. Sein Beruf liess ihn die Berge auf fast allen Kontinenten besuchen. Er schätzt die Motivation und Erfahrung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Leiterkurses. Diese Ausbildung erachtet er als wichtigen Beitrag zur Wahrung des allgemeinen bergsteigerischen Niveaus in der Schweiz.
Praxis bringt oft mehr als abendfüllende Theorielektionen Touren wie diese Aletschhorn-überschreitung in einem Tag sind in der Leiterausbildung eher eine Ausnahme. Doch der J+S-Beauftragte des SAC, Ueli Werren, ist überzeugt, dass ein solches Erlebnis für die Teilnehmenden mehr bringen kann als abendfüllende Theorielektionen. Auch die Klassenlehrer gewinnen aus einer Multiple-Choice-Prüfung kaum denselben Eindruck von ihren Schüle- Carvingstil am Kleinen Aletschhorn; im Bild Evalin Berther Schliesslich hat uns der Ehrgeiz den Weg zum Aletschhorn einschlagen lassen; im Hintergrund der Vor- und der Hauptgipfel.
Jugend-Infos,Berichte,Aktivitäten Auf dem Konkordiaplatz: Nach der Lawinentheorie bei Sturmwetter empfängt uns für die praktische Anwendung nun ein prächtiger Sonnentag.
Ein Leiterkurs wird stets von den Ausbildungsbe-dürfnissen geprägt: Unterwegs wird z.B. Spaltenrettung geübt.
rinnen und Schülern. Der 50 Jahre alte Bergführer Werren bekleidet bereits seit 13 Jahren sein Amt im SAC. Er ist der ruhige Pol im Kurs. Selber übernimmt er keine Klasse, hat aber für Anregungen oder Probleme immer ein offenes Ohr. Nur seine funkelnden Augen, die sich unter den buschigen Augenbrauen verstecken, verraten das Feuer, dass sich hinter seiner ruhigen Art verbirgt. Und dieses Feuer braucht es, um jedes Jahr im Nebenamt ein ausgereiftes, modernes Kursprogramm für rund 300 Personen auf die Beine zu stellen.
Ausbildung: Nase im Wind Obwohl er sich dank seiner Routine bequem zurücklehnen und alljährlich dieselben Unterlagen aus der Schublade ziehen könnte, feilt er immer wieder am Programm. « Die Ausbildung dem aktuellen Stand anpassen, das ist es, was mich fordert », sagt Ueli Werren. Waren dieses Jahr eine lockere Akklimatisationsphase auf dem Jungfraujoch und die informativen Folien für den Wetterkunde-unterricht neu, so werden nächstes Jahr die Romands erstmals von Werner Munter separat in französischer Sprache unterrichtet. Ansonsten soll die Sprachgrenze zumindest an einem Tag verschwinden. Dann werden in gemischtsprachlicher Gruppenarbeit Biwakhöhlen gegraben und Rettungsschlitten gebaut.
Im März 1999 findet zum ersten Mal ein J+S-Fortbildungskurs zum Thema Snowboardtouren statt. « Wir müssen uns nach den Bedürfnissen der Jugendgruppen richten », meint Ueli Werren. « Snowboardtouren sind in vielen JO bereits heute ein Renner, und sie werden immer beliebter. Deshalb braucht es in Zukunft mehr Leiter, die mit den speziellen Gegebenheiten von solchen Touren vertraut sind .» gelernter Bäcker und Konditor, arbeitet heute als Briefträger in seinem Wohnort Wiedlisbach. Hochtourenwochen in den Walliser Alpen sind für ihn das Nonplusultra. Bereits seit sieben Jahren ist er für die JO Huttwil als Leiter 1 unterwegs. Ein markanter Mitgliederzuwachs führte zum Leiter-notstand und Peter in den Leiter-2-Kurs.
Erfahrene Gruppenleiter zu selbständigen Kursleitern ausbilden Das Ziel der Ausbildung ist, erfahrene Gruppenleiter zu selbständigen Kursleitern weiterzubilden. Als Leiter 2 werden sie Anlässe mit bis zu 24 Personen organisieren und durchführen. Sie sind es, die letztlich entscheiden, ob die geplante Tour und die herrschenden Verhältnisse zusammenpassen, ob die Gruppe den Anforderungen gewachsen ist und welche Alternativen in Frage kommen.
Alpinistisches Know-how ist darum das zentrale Element des Leiterkurses. Kurze Touren auf den Kranzberg oder den Trugberg lassen genügend Raum für Ausbildungsblöcke, bei denen das Können getestet und ergänzt wird. Methodisch profitieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von den eigenen Vorträgen zu Themen wie Gruppenpsychologie und Erste Hilfe oder ihren Lektionen zu Spalten- und Lawinenrettung. Zur Routine wird die Tourenauswahl und -Vorbereitung. Zusammen mit dem Klassenlehrer werden die Resultate diskutiert und mit dem tatsächlich Erlebten verglichen.
Hanspeter Michel, 24 Jahre, wohnt in Grindelwald. Er arbeitet als Lastwagenchauffeur und Skilehrer. Beim Erzählen von einer Reise nach Ecuador blüht der schweigsame Oberländer richtig auf. Er schwärmt vom Land, von den Vulkanen Cotopaxi und Chimborazo. Diese zu besteigen sei schon « ganz verruckt » gewesen. Die JOIerinnen und JOIer aus Grindelwald sind berggewohnt und unkompliziert. Lange Touren machen ihnen nichts aus. So halten sie Hanspeter rund sechs Tage pro Monat auf Trab. Nun wird ein zusätzlicher Leiter 2 für die motivierte Gruppe benötigt. Darum nimmt Hanspeter jetzt am Kurs teil.
Gute Skitechnik ist eine Grundvoraussetzung fürs Mitmachen; Abfahrt vom Aletschhorn.
Plötzlich aufkommender Nebel kann aus einer technisch wenig anspruchsvollen Tour rasch ein ernsthaftes Unternehmen machen; im Hintergrund das Finsteraarhorn.
Bergführerexperte macht Druck Am Freitag ist Prüfungstermin in der Anenhütte: « Was machst Du? Warum öffnest Du jetzt die Seilverkürzung? Das ist Zeitverschwendung, vorwärts, hopp !» Der Bergführerexperte Gérard Vaucher setzt mächtig Druck auf, aber der zukünftige Leiter lässt sich nicht aus der Fassung bringen. Konzentriert knüpft er die Prusikknoten und rettet seinen Partner aus der imaginären Gletscherspalte. Weniger ruhige Nerven hat der Kollege, der bei der LVS-Suche wertvolle Minuten verliert. Regelmässig und präzise stösst er die Sondierstange neben der vergrabenen Piache in den Schnee.
Der Test geniesst unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern keine Sympathie. Selbst Ueli Werren schätzt den Anlass nicht: « Auch ich bin kein Prüfungstyp, doch diese Ergebnisse benötigen wir, damit die Er-fahrungsnoten der einzelnen Klassenlehrer nicht die einzige Bewer- a. < Erfahrene Leiterinnen und Leiter wissen, wo man auch während der Hauptsaison seine Ruhe hat, z.B. in der Oberaletschhütte.
tung bleiben. Ausserdem braucht es die Bewertungen, da ab und zu gegen das Kursresultat Rekurs ergriffen wird. » Tom Eisenhut, 23 Jahre, ist der Jüngste in der Gruppe. Das Strahlen und Parties waren bis vor drei Jahren seine Lieblingsbeschäftigungen. Bars und Discos sind jetzt aus seiner Freizeit verschwunden, Bersteigen ist zum Lebensinhalt geworden. Ehrgeizig und motiviert, gelang ihm bereits vor einem Jahr der Eiger-Nordwand-Durchstieg. Geld für seine Bergabenteuer verdient der gelernte Zimmermann mit Felssiche- Jugend-Infos,Berichte,Aktivitäten rungsarbeiten. Er ärgert sich, dass „ viele JOIerinnen und JOIer keinen S « Drive » mehr haben; als Leiter möch-~ te er neuen Schwung hineinbringen.
c B- Viva - Prost - Santé!
1 Der Kursabschluss wird mit einer 5 reichhaltigen Walliserplatte, mit Mb Käse, Trockenfleisch, Schinken, Wurst 36 und Wein gefeiert. Das Konto Bergerfahrung ist um eine Woche reicher geworden.
Bernard van Dierendonck, Zürich