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Lebhaft und genial bis zum bitteren Ende 1897 stand der Walliser Matthias Zurbriggen als Erster auf dem argentinischen Aconcagua (6961 m)
Verwegen seine Aufstiege, brutal sein Fall: Matthias Zurbriggen aus Saas-Fee. Bei der Besteigung des Aconcagua musste sein Begleiter, der Engländer FitzGerald, aufgeben. Wie so viele Alpinisten nach ihm.
«Da wir uns alle in sehr guter Form befanden, tranken wir vor dem Aufbruch nur etwas Schokolade. Wir stiegen sehr langsam an und kamen gegen Mittag zu einer Stelle, die höchstens 520 m tiefer als der Gipfel war», schrieb Matthias Zurbriggen im Buch Von den Alpen zu den Anden, das 1937 in Berlin publiziert wurde, 20 Jahre nach seinem traurigen Tod.
1897 jedoch war Zurbriggen nur ein paar Hundert Meter und ein paar Stunden vor dem Höhepunkt seines wechselvollen Lebens: Er wollte mit seinem Herrn, dem Engländer Edward A. FitzGerald, den damals noch 7020 Meter messenden Aconcagua besteigen. Der «Wächter aus Stein» – so die wörtliche Übersetzung aus der Inkasprache – ist der Kulminationspunkt der 7500 Kilometer langen Kette der Kordilleren und damit der höchste Gipfel nicht nur Südamerikas, sondern des gesamten amerikanischen Kontinents.
Berühmt-berüchtigt: Lagerplatz III Independencia auf 6480 m
Gerade die Höhe setzte FitzGerald so zu, dass die geplante Erstbesteigung der Felsenpyramide zum dritten Mal zu scheitern drohte. Nicht zufälligerweise dort, wo auch heute noch viele Aconcagua-Aspiranten umkehren: beim Lagerplatz III Independencia auf 6480 Metern über Meer. Von dort bis zum Gipfel ist der eigentlich leichte Normalweg gnadenlos den klirrenden Höhenstürmen ausgesetzt. «Eine schreckliche Enttäuschung für mich! Zweimal war ich nun schon dicht am Ziel meines Ehrgeizes gewesen», hielt Zurbriggen fest. Deshalb und auch weil er von einer deutschen Konkurrenzexpedition wusste, fragte er seinen Herrn, ob er alleine weitergehen dürfe, was dieser bewilligte. «Ich machte mich wieder auf den Weg zum Aconcaguagipfel, den ich 16 Uhr 45 betrat. Beim Steigen über die ausserordentlich steilen Schutthänge hatte ich ziemliche Atembeschwerden, oben fühlte ich mich vollkommen wohl.»
Matthias Zurbriggen wurde am 15. Mai 1856 in Saas-Fee geboren, kam mit zwei Jahren ins italienische Macugnaga am Fuss des Monte Rosa, verlor in der Jugend den Vater bei einem Grubenunfall, riss mit 13 Jahren von zu Hause aus und arbeitete dann als Hirt, Schmied, Zimmermann, Säumer, Postillion oder Berg-, Tunnel- und Eisenbahnarbeiter. Mit 25 Jahren kehrte er erstmals zur Mutter zurück, um ihr vor seiner geplanten Auswanderung nach Chile Lebewohl zu sagen, was er aber unterliess, um Bergführer zu werden.
Am 14. Januar 1897 stand er nun auf dem höchsten Punkt der westlichen Hemisphäre, auf dem Aconcagua in Argentinien, nur zwölf Kilometer östlich der Grenze zu Chile. Er baute einen zwei Meter hohen Steinmann, auf den er FitzGeralds Eispickel pflanzte. «Ganz Südamerika lag zu meinen Füssen ausgebreitet mit seinen Seen, Gebirgen und Ebenen, mit Dörfern und Städten, die wie kleine Flecken aussahen.»
Zurbriggen rettet FitzGerald nur knapp vor dem Absturz
Schon einmal wollte Zurbriggen mit FitzGerald als Erster auf dem höchsten Gipfel eines Kontinentes, nämlich des australischen, stehen: 1894/95 nahm der Engländer den Schweizer mit, um den Mount Cook (3724 m), den höchsten Gipfel Neuseelands, zu besteigen. Doch drei einheimische Bergsteiger hörten vom Plan und kamen der ausländischen Expedition an Weihnachten 1894 zuvor. FitzGerald war so sauer, dass er vom Cook nichts mehr wissen wollte und stattdessen andere Gipfel erstmals erkletterte, so den Mount Tasman (3497 m) und den Mount Sefton (3151 m), bekannt als das Matterhorn Neuseelands, an dem Zurbriggen seinen Gast nur knapp vor dem tödlichen Absturz rettete.
Bevor die wochenlange Heimreise angetreten wurde, nutzte der Walliser Bergführer aber die Chance, den Mount Cook doch noch zu besuchen. Am 14. März 1895 turnte er alleine über den seither nach ihm benannten Nordostgrat. Heute wird Zurbriggen in Neuseeland fast so verehrt wie der bekannteste Alpinist des Inselstaates: Sir Edmund Hillary, Erstbesteiger des Mount Everest.
Tragischer Tod des genialsten Auslandbergführers
In den Alpen erinnert der Colle Zurbriggen (4272 m) zwischen der Ludwigshöhe und dem Corno Nero am Monte Rosa an den Mann, der sich in fremden Sprachen und Gegenden so gewandt zurechtfand wie in steilem Eis. 20 Jahre lang galt Zurbriggen, auch Dalponte genannt, als der König der Ostwand des Monte Rosa, der mit 2400 Metern höchsten Wand der Alpen. Dort gelangen ihm mehrere Erstbegehungen, die freilich nicht seinen Ruf als einer der kühnsten Bergführer seiner Zeit begründeten.
Von 1892 bis 1902 war Zurbriggen in den Bergen der Welt unterwegs. Ein Jahr lang erforschte er mit dem Engländer William Martin Conway den Karakorum; es war die erste Expedition dieser Art. Die wichtigste Auslandbergfahrt war hingegen die Anden-Expedition mit FitzGerald vor 125 Jahren. 1906 wiederholte Zurbriggen seine Erstbegehung des Nordends in der Monte-Rosa-Ostwand. Danach bricht sein Führerbuch plötzlich ab, wie eine Wechte an einem scharfen Grat.
Zurbriggen starb vereinsamt, verwahrlost und versoffen: Am 21. Juni 1917 hat sich der genialste Auslandbergführer der Schweiz in Genf erhängt. «Zurbriggen war leidenschaftlich, ausschweifend, lebhaft und überschwenglich», schrieb Conway im Nachruf. «Sein Leben endete, als er es bis zur Neige ausgetrunken hatte.»