Lebensenergie dank den Alpen Die Waadtländerin Mélanie Brugger entdeckt nach einem Reitunfall die Berge
Nach einem schweren Sturz vom Pferd wählte Mélanie Brugger den unkonventionellen Weg zur Rehabilitation: Sie fing an, Berge zu besteigen.
«Der Mont Aiguille gehört zu meinen schönsten Erinnerungen», sagt Mélanie Brugger. «Nach einer unvergesslichen Biwaknacht machten wir uns auf den Weg in die Wand, und es war, als ginge das Klettern von selbst.» Wenn sie in ihrer kleinen Wohnung in Saint-Légier lächelnd von ihren Abenteuern erzählt, unterscheidet sich die Waadtländerin kaum von einer gesunden Bergsteigerin.
Humor macht sie stark
Die lebenslustige Frau weiss, was es heisst, die Zähne zusammenbeissen zu müssen. Vor bald 15 Jahren hat sich ihr Leben schlagartig verändert. Sie stürzte vom Pferd und lag danach 27 Tage lang im Koma. Dabei erlitt sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Seither leidet sie unter einer Lähmung der linken hinteren Muskelkette am Kopf. Dies beeinträchtigt ihre Bewegungen – etwa beim Auf- und beim Abstieg. Zudem erschweren plötzliche Zitteranfälle das Bergsteigen – etwa bei technisch schwierigen Passagen, in denen Konzentration gefragt ist. «In Stresssituationen zittert meine ganze Wirbelsäule», sagt sie.
Hinzu kommt, dass sie alles doppelt sieht, insbesondere bei schwindendem Tageslicht. «Besonders lustig wird es dann mit der Stirnlampe», witzelt die 34-jährige Heilpraktikerin. Sie begegnet ihrer Situation oft mit Humor.
Dass Mélanie Brugger nach so einem Unfall überhaupt mit dem Bergsteigen angefangen hat, ist bemerkenswert. Rückblickend gibt es für sie einen Schlüsselmoment, der diese Entscheidung beflügelt hat: Die damals 19-Jährige betrachtete in der Reha ein schönes Foto, das tibetische Flaggen vor der Cabane de la Dent Blanche CAS zeigte. Gemacht hatte das Bild ihr Vater. In diesem Augenblick setzte sie sich das Ziel, diese Berghütte, die auf 3507 Metern liegt, zu besuchen. «Ich wollte kämpfen. Ich wollte zeigen, dass nicht alles vorbei war.»
Lust auf mehr Berge
Als damals frisches Mitglied der Sektion Jaman trainierte sie mit ihrem Vater intensiv. Bis sie schliesslich den Aufstieg zur Cabane du Vélan CAS (2642 m) schaffte. Später folgte ein erster Besuch der Cabane Plan Névé auf 2264 Metern.
Im Juli 2010 dann, vier Jahre nach dem Unfall, wagte sie das Abenteuer Cabane de la Dent Blanche. Es sei ein bisschen verrückt gewesen, erzählt sie heute. «Ich konnte nur einen Wanderstock halten.» Auf dem Weg hinauf zog sie sich blaue Flecken zu, ging über Schneefelder, wanderte an Wasserfällen vorbei und begegnete Menschen. «Ich fühlte mich nicht wie eine Behinderte. Obwohl ich es eigentlich war.»
Sie begriff: Das Besteigen der Berge gibt ihr Halt. Körper und Geist werden eins. Es sei auf einmal kein Kampf gegen den geschundenen Körper mehr gewesen. Vielmehr, sagt sie, habe sie gelernt, mit ihm zu leben. Ihr «erster Kontakt mit Fels» am Roc Noir beim Aufstieg zur Cabane de la Dent Blanche eröffnete ihr mental völlig neue Perspektiven.
Ein gut eingespieltes Duo
Dank ihrer neuen Leidenschaft lernte sie den Bergführer Jérôme Gottofrey alias Taffon kennen. «Er ist jemand, der meine Probleme akzeptiert. Ohne grosse Worte darüber zu verlieren. Taffon hat mir gezeigt, dass dieser Unfall kein unabwendbares Schicksal ist, sondern ein Teil meines Lebens, mit dem ich umgehen muss.»
Die beiden unternahmen eine ganze Reihe sagenhafter Alpintouren, darunter die Arête des Cosmiques, der Clocher de Bertol, die Pigne de la Lé und sogar der Gran Paradiso, von denen Mélanie in ihrem Buch Détourner les Hirondelles erzählt. «Ich hätte nicht gedacht, dass wir das alles schaffen», sagt Jérôme Gottofrey. «Aber Mélanie hat ein Wahnsinnstemperament. Manchmal kam sie ans Ende ihrer Kräfte, und ich fragte mich, wie wir wieder herunterkommen würden. Aber dann schaltete sie jedes Mal in den Kämpfermodus und schaffte es, Energie zu schöpfen. Ich weiss selbst nicht woher!»
Längst ist eine Freundschaft entstanden. Und Jérôme Gottofrey weiss, worauf er bei Mélanie achten muss, wenn sie gemeinsam in den Bergen unterwegs sind. Es hapere überhaupt nicht an der Technik, sagt er. Es sei aber so, dass sie beispielsweise beim Abstieg selbst auf einem guten Weg plötzlich den Hang hinunterfallen könne. «Manchmal nehme ich das Seil erst ab, wenn wir wieder beim Auto sind.»
Gefühl von Freiheit im Wasser
Die Berge sind für die Waadtländerin eine Quelle der Lebensenergie und des Vergnügens geworden. Und gerade wenn sie wieder einmal die Vergangenheit einholt und sie wegen Schmerzen oder einem Stimmungstief zu Hause bleiben muss, gibt ihr die Vorstellung von neuen Abenteuern Kraft. Oder sie findet Ablenkung bei einem Besuch ihres Friesenhengstes Jo. Das Pferd sei trotz dem Unfall Teil ihrer Seele.
Man nimmt es Mélanie Brugger ab, wenn sie sagt, dass sie schon wieder ganz neue Abenteuer im Kopf habe. Sie schwimmt derweil nämlich oft im See. «Ich habe zweimal den Genfersee überquert, von Saint-Gingolph nach Vevey. Das Wasser gibt mir ein Gefühl der Freiheit. Dort kann ich mich natürlich bewegen und habe keine Gleichgewichtsprobleme.»
An Ideen für neue Projekte fehlt es ihr nicht. Sie möchte zwei Leidenschaften miteinander verbinden und Bergseen überqueren.