© Pius Furger
Leben auf Sparflamme Wie Wildtiere durch den Winter kommen
Die kalte Jahreszeit zehrt an den Kräften der Wildtiere. Um zu überleben, sind sie mit ganz unterschiedlichen Strategien ausgestattet. Halten sich auch die Schneesportlerinnen und Schneesportler an gewisse Regeln, ist eine Koexistenz von Wildtieren und naturnahem Bergsport durchaus möglich.
Die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt, Schnee bedeckt die Landschaft, die Nahrung ist knapp. «Der Winter ist für wild lebende Tiere in der Tat eine grosse Herausforderung - eine Art Flaschenhals, durch den sie durchmüssen», sagt Wildhüter Hans Gartmann, der seit über 30 Jahren Chef des bündnerischen Jagdbezirks Hinterrhein-Heinzenberg ist. Und trotzdem kämen gesunde Wildtiere in der Regel gut durch die kalte Jahreszeit. Die Natur habe jede Spezies mit einer eigenen Überlebensstrategie ausgestattet.
Wer überleben will, muss sich etwas einfallen lassen. Zugvögel weichen dem Winter einfach aus, indem sie vor Schnee und Kälte in südlichere Gefilde fliehen. Andere wild lebende Tiere verkriechen sich in frostsichere Höhlen oder ins Erdreich. So etwa die Mäuse, die wärmende Nestgemeinschaften bilden, oder die wechselwarmen Reptilien und Amphibien, die in Winterstarre verfallen. Eine Besonderheit im Tierreich stellen die Winterschläfer wie Igel, Fledermaus oder Murmeltier dar. Um Energie zu sparen, werden die Stoffwechselvorgänge auf ein Minimum reduziert, und die Körpertemperatur sinkt mit der Aussentemperatur auf Werte ab, die nur wenige Grade über dem Nullpunkt liegen. Der Herzschlag der Schlafmützen verringert sich auf nur noch zwei bis drei Schläge pro Minute, die Atmung ist kaum mehr spürbar. Als einzige Energiereserve dient der im Sommer und Herbst angefutterte Winterspeck. Neben den echten Winterschläfern gibt es auch noch die sogenannten Winterruher, die ebenfalls einen Teil der kalten Jahreszeit verschlafen, jedoch neben ihren Fettreserven auf im Herbst gesammelte Vorräte angewiesen sind. Zu ihnen gehört etwa das Eichhörnchen.
Verwandlungs-, Gedächtnis- und Überlebenskünstler
Ein fleissiger Vorratssammler ist auch der Tannenhäher – und zudem ein Gedächtnisgenie. Der Vogel hackt mit seinem Schnabel Arvenzapfen auf und entfernt die nussartigen Samen. Gemäss Vogelwarte Sempach sollen es 30 000 bis 100 000 solche Arvenzäpfchen sein, die der gewiefte Alpenbewohner pro Jahr sammelt und im Boden an verschiedenen Stellen versteckt. Studien hätten gezeigt, dass der Gedächtniskünstler im Winter rund 80 Prozent der Vorräte wiederfindet. Und wenn es trotzdem einmal nicht klappt, sorgen die vergessenen Samen für eine Verjüngung der Bergwälder.
Ruhen und Fressen sind auch die Hauptaktivitäten der Birk- und Schneehühner. Jede unnötige Anstrengung wird vermieden, die meiste Zeit verbringen sie in selbst gegrabenen Biwakhöhlen. Ihre karge Nahrung setzt sich hauptsächlich aus Trieben, Knospen, Samen und Früchten von Zwergsträuchern sowie Alpenkräutern zusammen.
Eine weitere Form der Anpassung ist der Winterpelz vieler Alpentiere, der diese vor Nässe und Frost schützt. Hinzu kommt etwa beim Wiesel und beim Schneehasen eine winterliche Weissfärbung des Fells, die nicht nur der Tarnung dient, sondern auch die Wärmeabstrahlung vermindert. Da der Schneehase seine im Winter dicht behaarten Hinterpfoten spreizen kann, erzeugt der Schlaumeier eine Art Schneeschuheffekt, sinkt dadurch weniger im Schnee ein und verschafft sich so auf Verfolgungsjagden einen Vorteil. Im Vergleich zum Feldhasen, seinem engsten Verwandten, hat der Überlebenskünstler zudem markant kürzere Ohren. Über ihre Löffel, wie die Ohren in der Jägersprache heissen, regeln Hasen die Blutzirkulation und können so Wärmeverluste ausgleichen. Je kälter ihr Lebensraum ist, desto kürzer sind die Ohren, wodurch die Wärmeabgabe im Winter verringert wird.
Von den Reserven zehren und Kräfte sparen
Ähnlich wie die Zugvögel verhält sich das Schalenwild. Hirsche und Rehe reisen zwar nicht in den Süden, steigen aber im Winter in tiefer gelegene, bewaldete Einstände ab, wo sie günstigere Verhältnisse antreffen. Steinböcke und Gämsen bevorzugen nach Südwesten exponierte Lagen, an denen der Schnee abgerutscht ist. Der Futterbedarf der Tiere geht stark zurück. Wie das Murmeltier zehrt auch das Schalenwild von Fettreserven, die es sich im Herbst angelegt hat.
«Wenn die Tiere nicht gestört werden, bewegen sie sich nur wenig, denn Bewegung zehrt an ihren Kräften», sagt Hans Gartmann. «Bei der Flucht im Tiefschnee verbraucht das Wild rund 60-mal mehr Energie, als dies beim Gehen der Fall ist. So besteht die Gefahr, dass die Tiere den zusätzlichen Energieaufwand nicht mehr wettmachen, was im schlimmsten Fall zum Erschöpfungstod führen kann.» Das Schalenwild, aber auch andere Wildtiere wie Schnee-, Birk- oder Auerhühner brauchen also vor allem Ruhe. Daran sollte die Spaziergängerin ebenso denken wie der Skitourengänger oder die Schneeschuhläuferin. Seit Ausbruch der Coronapandemie sind mehr Leute als sonst in der Natur unterwegs. «Solange sich die Aktivitäten auf Pisten, Loipen und offizielle Skitouren- und Schneeschuhrouten beschränken, ist dies in der Regel kein Problem für Wildtiere. Problematisch sind aber Waldabfahrten und Schneeschuhausflüge, die Wildeinstände tangieren. Im Wald sollten Wege nicht verlassen und Hunde an der Leine geführt werden», so der Wildhüter.
Zunehmend könne lokal auch die Präsenz des Wolfes, der seit 1995 in den Alpen und Voralpen auf dem Vormarsch ist, ein zusätzlicher Stressfaktor für das Schalenwild sein. Hans Gartmann präzisiert: «Der Wolf folgt dem Wild in die Wintereinstände und tritt in seinem angestammten Lebensraum mit Luchs und Steinadler wieder als Beutegreifer an der Spitze der Nahrungskette auf. Er bringt das Wild in Bewegung und zwingt es mitunter zur Flucht. Dabei erkennt er jedoch geschwächte und kranke Tiere, die dann zu seiner Beute werden. So sorgt er gleichzeitig auch für eine natürliche Regulierung der Huftierbestände.»
Seit je ist die natürliche Selektion ein richtungsgebender Evolutionsfaktor – mit dem Zweck, dass sich nur diejenigen Individuen fortpflanzen, die am besten an die Umweltbedingungen angepasst sind. Die Natur schreibt ein Gesetz, dem sich die Tiere seit Urzeiten unterwerfen: Es überlebt, wer mit seinen Energien und Ressourcen haushälterisch umzugehen weiss.