Königreich aus Wasser und Stein Venedig links liegenlassen
Der Tagliamento ist der letzte grosse Fluss Mitteleuropas, der weitgehend unreguliert fliesst. Müssen andere ihr Wasser bolzengerade zur Mündung führen, kann der Tagliamento noch mäandrieren, wie er will. Porträt eines ungezähmten, aber bedrohten Paradieses.
Er entspringt im Norden des Friauls an der Grenze zum Veneto, bei Mauria auf 2600 Metern über Meer. Nach etwa 170 Kilometern mündet er unterhalb von Lignano in die Adria. Und er ist einzigartig in Europa: der Tagliamento. Den Oberlauf säumen die Karnischen Alpen. Ab Gemona di Friuli bleiben die Berge zurück, das Land wird hell und weit. Der Fluss breitet sich aus und bewässert die Felder der Ebene.
Der Tagliamento ist der letzte Strom im Alpenraum, der flussdynamische Prozesse in grossem Massstab verursacht. Hier sind alle Flusslauftypen vom gestreckten Oberlauf über den verzweigten Mittellauf bis zum mäandrierenden Unterlauf ausgebildet. Ein 150 Quadratkilometer grosser Auenkorridor im mittleren Abschnitt lässt eine eindrucksvolle Flusslandschaft entstehen. Angeblich soll der Tagliamento von der Weltraumstation ISS mit blossem Auge zu erkennen sein.
Ein Blick auf Bänder aus Blei
Bei Venzone, wo ein Drittel der Strecke von den Bergen ans Meer hinter dem Fluss liegt, steht auf einer Kuppe die Kapelle S. Antonio Abate. Von hier aus erreicht man den Zufluss der Venzonassa. Der Weg führt durchs Val Moeda zur Forcla di Ledis. Man blickt weit hinab ins Tal. Die Arme des Tagliamento wirken wie Bänder aus schimmerndem Blei, die sich vom hellen Grund abheben. Weite Schuttkegel liegen am Fuss der Bergflanken. Auch das Geröll und die Hänge fliessen in dieser Gegend. Der Schotter gibt unter den Füssen nach wie Schnee.
Im Gebiet von Venzone sprechen die meisten Familien untereinander Furlan. Auch die Ortsschilder zeugen von den kulturellen Eigenheiten der Region: Sie tragen den friulanischen, den italienischen und manchmal noch den deutschen Namen eines Ortes. San Rocco zum Beispiel heisst in Furlan Santaroc. Die Menschen grüssen sich mit «Mandi». Auch beim Restaurant auf dem Monte Prat oberhalb von Comino hängt ein Schild mit diesem Wort.
Vom steilen Südhang oberhalb des Orts blickt man auf die «tausend Inseln». Das Tal ist mit eiszeitlichen Schottern gefüllt. Der Tagliamento hat hier ein mittleres Gefälle und bildet eine bis zu zwei Kilometer breite Wildflusslandschaft. Manchmal kreist ein Gänsegeier mit seiner Flügelspannweite von fast drei Metern über dem Fluss. Im «Progetto Grifone» wird eine Population der Aasfresser gehegt und gepflegt.
Offroader im Referenzökosystem
Touristische Infrastruktur fehlt weitgehend. Manchmal sind ein paar Kajakfahrer und Flusswanderer zu sehen. Bis ins Jahr 2011 war das Flussbett auch Tummelplatz für Offroader, die sich durch den Schotter wühlten. Glücklicherweise wurde das Treiben verboten.
Unterhalb von Comino macht sich der Tagliamento breit, so wie die Aare und die Linth, bevor sie begradigt und in Kanäle gezwungen wurden. Artenreicher Auenwald mit Laubbäumen säumt den Strom und bietet Lebensraum für seltene Pflanzen, etwa die stark gefährdete Deutsche Tamariske (Myricaria germanica). An einer Geländekante hören die Büsche plötzlich auf, hier beginnt die Kieswüste. Beim Anblick der Kiesvorkommen hörten Unternehmer schon ihre Kassen klingeln, auf Druck von Umweltorganisationen hat ein Unternehmen sein Vorhaben aber im Mai 2011 zurückgezogen.
Brütende Sonne, flimmernde Luft schon Mitte April. Zwischen den Steinen ist viel Leben. Kaulquappen rudern in Tümpeln, Keimlinge von Gräsern und Weiden stossen aus dem feuchten Sand, daneben schlagen Weidenzweige aus. Ein Ameisenlöwe gräbt seine Falle in den Sand. Im Frühjahr halten sich die Insektenlarven im Wasser und unter Steinen auf. Sandbänke wechseln mit Kies. Die Sonne lässt Reflexe übers Wasser gleiten. Die Strömung zeichnet Wellen in den Schlick.
Hochwasserschutz wie im 19. Jahrhundert
Obwohl der Tagliamento bei niedrigem Wasserstand im Sommer mehr nach einem Strand aussieht, kann er sich in kürzester Zeit zum reissenden Fluss entwickeln. Wegen des kalkigen Untergrunds halten die Hänge der Voralpen bei starkem Regen das Wasser nicht zurück. Bei Hochwasser schichtet der Fluss die Steine um und schabt am Ufer. Furchen und Abbrüche an Kiesbänken zeigen, welche Kraft das Flussbett formt. Zweieinhalb Liter Wasser pro Laufmeter versickern hier im Mittellauf. Dabei sammelt sich wertvolles Grundwasser an. Wo undurchlässige Sedimente liegen, steigt das Wasser wie aus einer Düse auf und bildet an der Oberfläche konzentrische Kreise.
Professor Norbert Müller, der sich an der Fachhochschule Erfurt mit Landschaftspflege und Biotopentwicklung beschäftigt, führt hier Workshops für seine Studenten durch. Er wehrt sich vehement gegen die Pläne der Regierung der Region Friaul-Venezia, den Fluss gegen Hochwasser zu verbauen. Ausgerechnet hier sollen aus «Hochwasserschutzgründen» rund 8,5 Quadratkilometer grosse Hochwasserrückhaltebecken angelegt werden. «Dieses Vorhaben widerspricht jeder modernen Hochwasserschutzplanung», schreibt Müller in der Zeitschrift «Nationalpark». In den Auenwäldern wäre die Rückhaltekapazität am grössten. Statt der massiven Eingriffe wäre es wichtig, die Hartholzauenlebensräume und Auwälder im Oberlauf wiederherzustellen, da auch sie wichtige Rückhaltefunktion haben. «Wir brauchen den Tagliamento als Referenzsystem in Forschung und Lehre für die alpinen Flusslandschaften.» Darum wurde schon vor Jahren seine Aufnahme in das globale Netz der UNESCO-Biosphärenreservate vorgeschlagen, bisher ohne Erfolg. Für Norbert Müller würden damit «gezielte Anreize gegeben und Fördermittel investiert, um ein harmonisches Miteinander von Natur und Mensch zu unterstützen».
Spilimbergo Heimat der Mosaikkunst
Die Ansässigen kennen von jeher die Kraft des Tagliamento. Die Orte sind vor Hochwasser geschützt auf Hügel gebaut, so auch das Städtchen Spilimbergo. Früher sorgten die Kiesel des Flusses für ein wenig Einkommen in der Bevölkerung. Die Menschen kamen im Winter an die Ufer, um die Kiesel für Mosaike zu brechen. Noch heute lassen sich Besucherinnen und Besucher aus aller Welt in der Mosaikschule in Spilimbergo ausbilden.
Erst bei Latisana zwischen Triest und Venedig wird der Fluss in einen rund 100 Meter breiten Kanal gezwängt. Denn nahe der Küste ist das flache Land begehrt. Nur hier auf den letzten Kilometern vor der Mündung in die Adria richtet der Fluss bei Hochwasser grössere Schäden an, wenn er über die Kanäle schwappt.
Praktische Infos
Tagestouren
Rundwanderungen ab Moggio Udinese, Venzone und Carnia.
Mehrtägige Touren
Wer in der Gegend über die Zone mit den Agritourismi hinaus will, trägt sein Essen selber mit. Die hoch gelegenen Berghütten im Stil von Biwaks sind unbewartet.
Anreise
Von Zürich via Mailand, Venedig Mestre, Udine nach Venzone
Beste Jahreszeit
Frühling und Herbst. Im Sommer ist es sehr heiss.
Karten
Tabacco 1 : 25 000, Blätter 20 und 18
Tabacco 1 : 150 000, Friuli Giulia Venezia
Literatur
Eberhard Fohrer, Friaul-Julisch Venetien, Würzburg 2010
Gerhard Pilgram, Wilhelm Berger et al., Die letzten Täler. Wandern und Einkehren in Friaul, Unikum, Klagenfurt 2010
Übernachtung
Alberghi in Bordano, Cornino oder Spilimbergo, Tolmezzo, Gemona oder Udine sowie einige Agritourismi.
Informationen
Velotransporte in italienischen Zügen nur bedingt möglich