Kleines und Neues aus Kandersteg
Von A. Wäber, Bern.
Fridolin Becker vergleicht in seinem Itinerar der Grauen Hörner die Berge am Eingang Graubündens mit den Gemälden am Eingang einer Kunstausstellung, an denen die Großzahl der Besucher achtlos vorbeieilt. Dieser Vergleich trifft teilweise auch für die Berge zu, welche das obere Kanderthal umschließen.
Das Kanderthal ist wohl eines der begangensten Thäler des Berner Oberlandes, aber gleichwohl keines der am besten gekannten. Tausende von Touristen durcheilen jedes Jahr das Thal, lassen dabei ihren Blick flüchtig über seine Felswände und Firnhäupter gleiten und machen, wenn es hoch kommt, dem Öschinensee oder der Gasternklus einen Anstands-besuch; aber der großen Mehrzahl von ihnen ist das Kanderthal nichts anderes, als die Vorhalle, aus der man über die Riesenschwelle der Gemmi in den Hochsaal des Wallis gelangt.
Von Seiten der Bergsteiger erfreut sich Kandersteg schon größerer Aufmerksamkeit, ist es ja doch der Ausgangspunkt zur Blümlisalp, zum Doldenhorn und zu den Gletscherbergen, welche das Hochthal der Gemmi umstehen: Alteis, Balmhorn, Rinderhorn und Wildstrubel; für die andern Berge von Kandersteg aber, die unterhalb der kritischen Kurve von 3000 m bleiben, fällt von dieser Aufmerksamkeit wenig ab. Es geht ihnen nicht besser, als den Grauen Hörnern, ja wohl noch schlimmer, denn diese sind doch wenigstens Herren in ihrem Gebiet und brauchen sich vor keinem Höheren zu ducken, während die an sich recht stattlichen Berge zwischen Adelboden und Kandersteg, Ueschinen und Gemmi, Gastern und Öschinen, von ihren stolzen Nachbarn in den Rang unterwürfiger Vasallen zurückgedrängt werden.
Von den Hochgipfeln des Kanderstegs habe ich nicht viel, aber doch etwas Neues zu berichten; die meisten derselben sind in unsern Jahrbüchern schon wiederholt besprochen worden; dagegen möchte ich besonders auf einige lohnende, aber allerdings untergeordnete Punkte aufmerksam machen, die in der alpinen Litteratur noch kaum erwähnt worden sind. Wem solche Kleinigkeiten zu gering erscheinen, der mag die folgenden Seiten überschlagen; vielleicht giebt es aber doch unter den Lesern des Jahrbuches viele, welche finden, die Berge dritten und vierten Ranges gehören schließlich gerade so gut zum Gesamtbild der Alpen, wie diejenigen ersten und zweiten Ranges, und mit der Begehung und Beschreibung nur der Hauptgipfel sei die touristische Aufgabe des S.A.C. ebensowenig gelöst, wie die Aufgabe unserer Topographen durch die Vollendung des Dreiecknetzes erster Ordnung erschöpft war.
First ( 2550 m ).
Die First erhebt sich westlich von Kandersteg fast in der Mitte der Lohnerkette, welche die Wasserscheide zwischen der Kander und der Engstligen bildet. Sind die südlichen Gipfel dieser Kette, der Groß-Lohner und der Klein-Lohner, schroffe nackte Felsstöcke, umgeben von wüsten Schutt- und Trümmerhalden, so zeigt das Gebirge in seinem nördlichen Teil, von der Almenkrinde ( dem Bondergrat Fellenbergs, zwischen Klein-Lohner und Bonderspitz ) bis zum Elsighorn bei Frutigen, zahmere Formen und reichere Bekleidung. Westlich gegen Adelboden dacht es sich allmählich ab und der ganze Abhang, stellenweise bis zum Grat hinauf, ist mit Weide und Wald bekleidet. Der Ostabfall gegen Kandersteg ist steiler, felsiger; seinen Fuß bildet eine schroffe Kalkmauer, über welche die Bäche in staubbachartigen Fällen herabschießen. Die Weide ist auf die kurzen Hochthäler beschränkt, die vom Kamm ostwärts bis zum Fluhrand abfallen und dort, hoch über der Sohle des Kanderthales, abbrechen. Durch den südlichsten dieser Thalstrünke, die Allmenalp, führt der Weg zur First; aber wie wir da hinaufgelangen sollen, sehen wir nicht. Erst nachdem wir von der unscheinbaren Kapellevon Kandersteg aus den Irtig, weiterhin die Kander und die Wasser der Allmenalp überschritten haben, bemerken wir einen Pfad, der sich in kurzem Zickzack die bewachsene Schutthalde am Fuß der Wand hinaufzieht und sich oben in einer Nische der Fluh zu verlieren scheint. Wir steigen hinauf und nehmen ein schmales, aber gut gangbares Felsband wahr, das über der fast wasserlosen Runse eines periodischen Bächleins schräg nach rechts ansteigt. Dann folgt ein schmaler Steig, der sich über glattgewaschene Felsplatten in die Höhe windet, und wir betreten ein breites nach Ost abschüssiges Grasband, welches in halber Höhe der cirka 250 m hohen Fluh allmählich steigend sich nach Norden zieht.
Die ganze Felspartie erfordert kaum eine Viertelstunde Steigens und ist, abwärts wie aufwärts, auch für Ungeübte leicht zu begehen, obwohl das „ Fluhwegli " selbst bei manchen Anwohnern im Verrüfe stehen soll.
Der Pfad zieht sich nun über das Grasband nach Norden, umgeht in einem winzigen Wäldchen den Eckpfeiler der Reinhartsalp und erreicht die Allmenalp unweit des Wasserfalles des Allmenbaches, überschreitet diesen und steigt über den Rasenrücken zwischen ihm und dem Steinthal-bach zur untersten Hütte ( 1730 m ). Von hier aus geht es ziemlich steil über steinige Alpweide zu der Hütte im Steinthal ( 2033 m ) und pfadlos über immer steiler und magerer werdendes Gehänge, das oft von klein-plattigen Steinhalden, hier und da von Schneeflecken durchsetzt ist, nordwestlich zum Grate der First und über diesen zum Gipfel ( 2550 m ), der nach Osten zum Kanderthal einen zerklüfteten Felsgrat entsendet und nach Westen gegen die Mulde des Elsigenseeleins mit jähen, von Fluhsätzen unterbrochenen Schutthalden abfällt.
Ich bestieg die First am 12. Juli 1892 in großer Gesellschaft. Zu meiner Familie, die inklusive pater familias sieben Köpfe zählt, hatte sich noch eine sechsköpfige Familie gesellt, deren Bekanntschaft wir in Kandersteg gemacht hatten. Als Führer und Träger begleitete uns Abraham Müller, von dem in den nachfolgenden Blättern noch mehrmals die Rede sein wird.
Um 5 Uhr 45 Min. brachen wir von der „ Viktoria " auf, um 7 Uhr 30 Min. hatten wir die untere Hütte der Allmenalp und um 8 Uhr 30 Min. die Hütte im Steinthal erreicht, wo wir eine halbe Stunde Rast machten. Hier blieb ein Teil unserer Gefährten zurück; wir andern brachen um 9 Uhr auf und langten um 10 Uhr 15 Min. auf dem Gipfel an. Wir haben also nach Abzug der Rast 4 Va Stunden für den Aufstieg gebraucht, eine ziemlich lange Zeit, wenn man bedenkt, daß der Niveau-Unterschied noch nicht ganz 1400 m beträgt und das Terrain überall gut gangbar ist; dabei ist aber zu berücksichtigen, daß unsere Gesellschaft zahlreich war, zur größeren Hälfte dem zarteren Geschlechte angehörte und daß die jüngste Firstbesteigerin damals noch nicht achtjährig war. Ein rüstiger Gänger wird relictis impedimentis den Aufstieg wohl in 3 bis 3'2 Stunden machen.
E. v. Fellenberg sagt in seinem trefflichen Itinerar für 1882/84, pag. 43, die First biete eine hübsche, doch weniger ausgedehnte Fernsicht als der Bonderspitz. Ich kann diesem Urteil nicht beipflichten. Ich habe den Bonderspitz und das Elsighorn von Adelboden aus je zweimal bestiegen und kenne ihre Aussicht; diejenige der First scheint mir hinter der Aussicht vom Bonderspitz in keiner Weise zurückzutreten, dagegen bieten beide allerdings nicht den prächtigen Blick auf den Thunersee, den das frei am nördlichen Ende der Kette aufsteigende Elsighorn gewährt ). Sieht man vom Bonderspitz weiter durch Adelboden hinaus, so bietet die First den besseren Einblick in das obere Kanderthal. Die sehr ausgedehnte Bergschau ist bei beiden Gipfeln im wesentlichen dieselbe. Am schönsten ist der Blick nach Osten, wo sich, links von der Birren, rechts von den Fisi-stöcken eingerahmt, das Öschinenthal mit seinem stillen Seelein öffnet, überragt von den Berghäuptern der Berner Alpen: Eiger, Mönch, Jungfrau, Blümlisalp und Doldenhorn, und der Blick nach Süden, wo sich rechts von dem tiefen Einschnitt des Gasternthaies die Gruppe Balmhorn, Alteis und Rinderhorn in überraschender Majestät aufbaut.
Das Wetter hatte sich während unseres Aufenthaltes auf dem Gipfel verschlimmert; als wir denselben um 11 ühr 30 Min. verließen, krochen schon die Nebelschlangen aus Thälern und Schluchten an den Bergen empor.
Um 12 Uhr 15 Min. waren wir wieder im Steinthal, wo wir mit den Zurückgebliebenen unser Mittagsmahl hielten; um 1 Uhr 15 Min. ging es weiter, zum Allmenbach hinunter, den wir passierten, um den Fahr- sc. Viehweg von Allmen über Steinweidli 2 ), Reinhartsalp Und Außer-Ueschinen nach Kandersteg zu gewinnen. Als wir den Bach überschritten, fielen die ersten Regentropfen; im Steinweidli nötigte uns um 2 Uhr das Gewitter, für eine Viertelstunde in der Hütte unterzustehen; über Reinhartsalp und Außer-Ueschinen gingen wir im Regen und um 4 Uhr 15 Min. langten wir nässetriefend, aber guten Humors, in der „ Viktoria " an.
Wie schön es auf Reinhartsalp ist, konnten wir damals im Nebel und Regen nicht sehen; wir haben aber den Spaziergang über das Fluh-wegli nach Allmen und über Reinhartsalp und Außer-Ueschinen zurück — es ist ein bequemer, schattiger Nachmittagsspaziergang von cirka 3 Stunden — ein Jahr später wiederholt und waren erstaunt über den gewaltigen Eindruck, den hier der Doppelberg Altels-Balmhorn macht. Die schöne Alp mit ihren Hütten und Steinblöcken und ihrem steilen, da und dort von lichtem Tannwald umsäumten Absturz bildet einen prächtigen Vordergrund zu dem gewaltigen Bergbilde, dessen Großartigkeit durch den Einblick in die Tiefe des zwischenliegenden Thales erhöht wird. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, so muß auf Reinhartsalp der Standpunkt des effektvollen Bildes „ Alpglühen« von Lorenz Rüdisühli zu suchen sein.
Groß-Fisistock ( 2943 m ).
Die Fisistöcke bilden ein beinahe gleichschenkliges Dreieck, dessen Basis das Kanderthal und dessen Seiten das Gastern- und das Öschinen-thal sind. Die Spitze liegt im Osten, dem Doldenhorn gegenüber, bei dem Joch zwischen dem Biberg- und dem Faulengletscher ( Flacher Gletscher Fellenbergs ), das Herr und Frau Dr. Dübi im Jahre 1885 überschritten haben J ). Die Basis ist das Kanderthal von der Gasternklus bis zum Öschinenbach. Vom Groß-Fisistock, der sich an der Spitze des Dreiecks erhebt, zieht sich eine tiefe Furche bis zum obern Rand der Basis und scheidet die Fisi Alp von dem Fisi-Schafberg. Den nördlichen Schenkel bildet der Vorder-Fisistock ( 2810 m ), dessen mächtige Felstürme wohl jedem Besucher des Öschinensees in Erinnerung stehen, den südlichen der Hinter-Fisistock ( 2790 m ) und der Schafberg ( 2660 und 2205 m ). 2 ) Alle drei Seiten fallen mit schroffen Terrassenwänden ab, aber über die Felsstufen der Basis, die hoch hinauf bewaldet sind, führt ein Alpweg zur Fisi-Alp ( 1966 m ). Der ganze Stock gehört nach der geologischen Karte dem mittleren Jura an; soweit ich das Gestein zu Gesicht bekam, war es ein grauer, braun verwitternder, thoniger Kalkschiefer, der stellenweise, so am Wege zur Fisi-Alp, in grauen bis violetten Thonschiefer übergeht.
Wir bestiegen den Fisistock am 19. Juli 1893, einem der wenigen schönen Tage, die uns der nasse Juli des sonst so trockenen Jahres beVgl. A. Roth und E. v. Fellenberg: Doldenhorn und Weiße Frau ( Koblenz 1863 ), Karte, und H. Dübi: Doldenhorn und Fründenjoch ( Jahrbuch S.A.C. XXI, pag. 142 ).
2 ) In Fellenbergs Itinerar für 1882/83 heißt der Groß-Fisistock Vorder- oder Inner-Fisistock, der Hinter-Fisistock ( 2790 m ) dagegen Außer- oder Hinter-Fisistock. Ich gebe die Nomenklatur, wie mir Abraham Müller sie bezeichnet hat. Allerdings habe ich den Punkt 2943 auch Inner-Fisistock nennen hören.
I",8A. Waber.
scherte. Das gute Wetter war am Abend des 18. so plötzlich gekommen, daß wir ihm nicht recht trauten und uns, statt eines höheren Zieles, einen Ausflug auf Fisi vornahmen. Um 6 Uhr 10 Min. brachen wir, d.h. meine Familie mit Abraham Müller und seinem Sohne „ Hämli ", vom Hotel Gemmi auf. Der Weg zweigt zwischen dem Irfig und einem weiter oben unter dem Fisistock hervorquellenden Bache von der Straße rechts ab, führt durch sumpfige Wiesen an den Berg und steigt zuerst über eine bewachsene Schutthalde, dann durch Wald zur ersten Terrasse hinauf. Rechts über der Schutthalde erblicken wir zwei Öffnungen in der Fluh, die eine fensterähnlich, die andere dem Spitzbogen eines gotischen Portals gleichend; beide zeigen Balkenwerk, das auf frühere Benutzung schließen läßt. Es ist das Zwergen- oder Griffelloch; der erste Name versteht sich von selbst, denn wo im Oberlande sich eine Höhle findet, da haben Bergmännlein darin gehaust; nur Heilige und Drachen machen ihnen hier und da den Besitz streitig. Der Name Griffelloch kommt nach Abrahams Aussage davon her, daß früher, „ als noch nicht alles überall bis aufs Tüpfli gleich sein mußte ", die Kandersteger den Thonschiefer für die Griffel ihrer Schuljugend aus der Höhle geholt haben.
Wir steigen weiter durch prächtigen Wald den Berg hinan; bei der Kurve 1500™ gabelt sich der Pfad: geradeaus gelangen wir auf den untern Biberg ( 1542 m ) und über den Bärentritt auf den öschinenweg hinab, ein reizender Spaziergang, der kaum'2V2 Stunden in Anspruch nimmt und namentlich Alpenrosenfreunden zu empfehlen ist ' ). Unser Pfad biegt scharf nach rechts und windet sich dann, da wo die rauhe Abkürzung über Schleifen wieder einmündet, steil zur Fisi-Alp empor; er ist gut angelegt und unterhalten, aber für einen „ Fahrweg " sehr schmal; die Fisi-Alp wird denn auch fast nur mit Jung- und Schmalvieh befahren.
Es ist 8 Uhr 10 Min., als wir auf Fisi-Alp ( 1966 m ) anlangen, und ohne uns aufzuhalten, steigen wir in südlicher Richtung zu dem Eingang des Schutt-Thälchens hinauf, das sich als Anfang der oben erwähnten Furche vom Groß-Fisistock herabzieht. Hier scheiden sich die Wege: der weibliche Teil der Kolonne geht unter Hämlis Führung durch das Blockmeer eines alten Felssturzes hinüber zum Fisi-Schafberg. Wir andern, meine Söhne und ich, beginnen mit Abraham um 10 Uhr 40 Min. den Aufstieg über die steilen steinigen Rasenhänge der rechten Thalseite und haben eben die ersten Fluhsätze überwunden, als lauter Zuruf vom Eingang des Thälchens uns zurückblicken läßt. Es waren zwei Söhne befreundeter Familien, die sich uns anzuschließen wünschten. So war denn unsere Kolonne 6 Mann stark, worunter vier Jünglinge von 16 bis 18 Jahren. Wir lassen die Felstürme des Vorder-Fisistocks, die von hier aus leicht zugänglich sind, etwas links über uns und erreichen, die Schnee und Felshänge ihrer Südseite traversierend, zuletzt etwas absteigend, den Fuß des Groß-Fisistocks und über einen steilen Schnee- und Schutthang den Gipfelgrat, dessen höchster Punkt einen mächtigen Steinmann trägt.
Es ist 11 Uhr 30 Min.; wir haben also vom Eingang des Thälchens, der cirka 2200 m hoch liegt, 2 Stunden 50 Minuten gebraucht. Der Aufstieg wurde erschwert durch den vielen Neuschnee, den das schlechte Wetter der letzten Tage gebracht hatte; unter günstigeren Umständen wird der Gipfel in kürzerer Zeit gewonnen werden können, vielleicht durch eine Gratwanderung vom Vorder- zum Groß-Fisistock, die ich mit einer so starken, teilweise wenig berggewohnten Kolonne nicht riskieren wollte.
Der Groß-Fisistock ist von weither sichtbar; man erblickt ihn von den Jurahöhen — vom Weißenstein bis zum Chasseron — rechts neben oder vor dem Doldenhorn als zierliche Spitze; selbst von Höheschwand bei St. Blasien im Schwarzwald und vom Gebweiler Belchen aus ist er sichtbar. In der Nähe von Bern gewahren wir ihn von den Höhen von Säris-wyl und Frieswyl aus als unscheinbaren Punkt links neben dem Stockhorn. Die Aussicht, die man vom Fisistock genießt, ergiebt sich aus dem Gesagten: Nach Westen und Norden schweift der Blick ungehindert über die Vorberge und das Hügelland bis zum Jura, über welchen am Horizonte die Vogesen und der Schwarzwald auftauchen. Die Berner Alpen werden uns teilweise durch das Doldenhorn und die Blümlisalp verdeckt, die wir in der Verkürzung sehen; die Walliser Alpen durch den Lötschthalgrat und das Balmhorn mit dem Alteis; immerhin glaube ich in weiter Ferne ein paar Zermatterberge hinter dem Lötschenpaß erblickt zu haben. Prächtig ist der Blick in die Nähe; das Kanderthal übersehen wir bis nach Frutigen hinunter; scheinbar senkrecht unter uns liegt der liebliche Öschinensee; wenden wir uns nach Süden, so sehen wir hinter dem tief eingeschnittenen Gasternthal Balmhorn und Alteis in stolzer Pracht aufsteigen. Rechts vom Alteis, eingerahmt vom Kleinen Rinderhorn und dem dunkeln Felsgemäuer des Lohner, zeigt sich das vielgipfelige Gletschergebiet des Wildstrubels, an das sich die langgestreckte Niesenkette und das Gipfelgewirr des Simmen- und Saanenthals anschließen. Schade, daß der Steinmann so hoch und breit dem schmalen Grate aufsitzt! Topographisch ist er unzweifelhaft richtig gestellt, aber dem Touristen zerschneidet er die Rundsicht in unliebsamer Weise.
Um 12 Uhr 20 Min. traten wir den Abstieg auf demselben Wege an und um 2 Uhr 10 Min. trafen wir auf der Fisi-Alp ein, wo uns die andern erwarteten. Sie hatten unterdessen den Schafberg ( 2205 m ) besucht, sich von dem wackeren, ortskundigen Hämli die Aussicht erklären lassen, Abenteuer mit zudringlichen Schafen bestanden und sich, wenigstens die Mädchen, mit Steineklettern und Abrutschen auf kleinen Schneefeldern königlich amüsiert.
Unser Mittagsmahl hielten wir oberhalb der Alphütte bei einer Quelle. Wir waren nun in zahlreicher Gesellschaft, denn auch die beiden Familien, deren Söhne mit uns auf den Fisistock gestiegen waren, hatten sich da gelagert. Die Fisi-Alp ist auch ohne die Besteigung des Fisistockes ein höchst lohnendes Ausflugsziel. Kaum hundert Schritte von unserem Haltplatze am Rand der Fluh, die fast senkrecht zum obern Biberg abfällt, bietet sich ein prächtiger Blick auf den Öschinensee und seine gewaltige Umrahmung. Die Blümlisalp erscheint hier in geringerer Verkürzung imposanter als auf dem Groß-Fisistock. Verbindet man mit dem Besuch dieses Punktes denjenigen des Schafberges, um die Berge des Gastern-thales zu schauen, so hat man zwar kein Rundbild, aber zwei herrliche Einzelbilder genossen.
Um 3 Uhr 45 Min. traten wir den Rückweg an, und um 5 Uhr waren wir wieder im Thal zurück, zufrieden mit unserem Tagewerk.
Felgenhorn ( 2791 m ).
Das schöne Wetter schien anhalten zu wollen; es wurde deshalb beschlossen, dem Rinderhorn einen Besuch abzustatten. Den Weg zur Gemmi wollten wir, d.h. meine Söhne und ich, mit Abraham durch das Ueschinenthal und über das Felsenhorn nehmen. Da wir für heute kein weiteres Ziel hatten als Schwarenbach oder das in den letzten Jahren sehr gut geführte Hotel Wildstrubel auf der Daube, so brachen wir erst um 7 Uhr 20 Min. vom Hotel Gemmi auf. Das Wetter war noch schön, aber heiß und dunstig.
Das Ueschinenthal hält in seinem oberen Teile nicht, was es unten verspricht. Jedermann, der die Gemmi überschritten hat, erinnert sich des prächtigen Wasserfalls, den der Ueschinenbach rechts von dem untersten „ Kehr " des Gemmiweges bildet, und ist vielleicht auch, um ihn besser zu sehen, vom Wege rechts hinübergegangen zu der Brücke, die sich über den Bach spannt. Wenn ein Wasserfall in Kandersteg neben den Katarakten der Gasternklus und den Sturzbächen des Öschinen- und Gasternthaies zur Geltung kommen soll, so muß er schon etwas Rechtes sein. Der Fall des Ueschinenbaches ist ein Katarakt, wie der Kanderfall in der Klus; seine Wassermasse und seine Wucht sind geringer, seine Farbe nicht schöner als bei jenem; was ihm seinen besondern Reiz giebt, das ist die malerische Vereinigung von Fels, Wasser und Wald. Weniger grandios als der Kanderfall in der Klus, ist er auch weniger düster.
Dieser Fall unten, unweit der Mündung des Ueschinenbaches in die Kander, ist nicht der einzige. Überschreiten wir die Brücke und steigen, dem linken Ufer folgend, durch den engen Thalhals hinauf, meist durch Wald, so erblicken wir zu unserer Linken eine ganze Reihe ähnlicher Fälle. Mit einem Schlage aber ändert sich die Scene; wir sind nach einstündigem Marsch aus der romantischen Schlucht in die Mittelstufe des Ueschinenthales hinausgetreten, das sich nun in ziemlich gleichmäßiger Steigung und südwestlicher Richtung cirka 5 km. lang bis an den Fuß des Schwarzgrätli hinzieht. Es ist ein einförmiges stilles Hochthal: Weide, da und dort von steinigen Bachrunsen und Schutthalden, selten von dünnen Waldstreifen durchsetzt. Der vorhin so wilde Bach fließt rasch, aber ohne sich große Sprünge zu erlauben, durch die schmale Sohle des Thales, das östlich von der einförmigen Kalkmauer des Gellihorns ( Mittaghorn der Kandersteger ), westlich von der höheren, aber nach dieser Seite kaum minder einförmigen Kalkmauer des Groß-Lohners umschlossen wird. Den Hintergrund bilden die Weiße Fluh mit dem Schwarzgrätli und der schaufei-förmige Ortellenstock ( 2562 m ), neben dem wir dann und wann den Felsturm des Tschingellochtighorns aufsteigen sehen.
Um 9 Uhr 20 Min. haben wir die oberste Alp, Unterbächlen ( 1872 m ), erreicht und um 10 Uhr lagern wir uns in cirka 2000 m Höhe, am Fuß des Schwarzgrätli, an dem mittleren Quellbach der Ueschinen neben einem Bergsturz, der nach Abrahams Meinung erst ganz kürzlich heruntergekommen sein mußte. Nach halbstündiger Rast brachen wir auf, nicht dem Schwarzgrätli zu, sondern direkt hinauf gegen Punkt 2300, wo die Felsbänder reiche Ernte an Edelweiß bieten, und um 12 Uhr stehen wir nach ziemlich unangenehmem Steigen über Fluhsätze und großblockiges Geröll am Eingang der Oberstufe, des Ueschinenthäli, dessen Gletscherchen sich vom Steghorn und dem Roten Totz herabsenkt. Hier machen wir einen Halt, um uns zu orientieren; dann geht es um 12 Uhr 10 Min. weiter, dem Felsenhorn zu, das sich wie eine ungeheure, schief gestellte Tafel links vor uns erhebt. Den kleinen See, der vom Ueschinenthäligletscher gespeist wird, lassen wir rechts unter uns; er ist heute nichts, als eine schmutzige, unansehnliche Pfütze; der Gletscher, der sonst den Südrand bildete, ist zurückgewichen und hat einen häßlichen Strandboden zurückgelassen; die schwimmenden Eisblöcke, die ich 1889 hier gesehen, sind verschwunden eine lange, sandige Landzunge streckt sich weit in den lehmgelben Wasserspiegel hinaus. Alles in allem bietet er heute ein unsäglich trübseliges Bild, das durch die rasch zunehmende Trübung des Himmels nicht wesentlich verbessert wird.
Wir steigen ziemlich verdrießlich über die Trümmerhalden östlich vom See empor. Das Felsenhorn soll eine interessante Flora besitzen; wir haben wenig davon bemerkt, denn der Berg ist tief herab verschneit. Einzig ein paar Büschel von Artemisia Mutellina sind mir in Erinnerung geblieben, die Abraham mit Freuden begrüßte und sammelte, denn die Edelraute gilt den Älplern als Heilmittel für allerlei Schäden.
Jahrbach des Schweizer Alpenclub. 30. Jahrg.11 An die Trilmmerhalde schließt sich ein weites Karrenfeld, das sich hoch hinaufzieht. Der Neuschnee macht den Anstieg über dasselbe beschwerlich und hier und da nicht unbedenklich; wir binden uns deshalb an das Seil und stimmen nach kurzem Anstieg gerne unserem Führer bei, als er uns vorschlägt, statt den Berg rechts zu umgehen und von Südwest auf die Spitze zu gelangen, direkt durch eine lange enge Karren-rinne ( wäre sie steiler gewesen, so würde ich sie Kamin nennen ) auf den Nordgrat zu steigen. Der Weg war mühsam, das Gestein scharfkantig, der Boden der schmalen Rinne teilweise unter trügerischem Schnee verborgen; ich habe hier wiederholt die alte Erfahrung bestätigt gefunden, daß die Dicke des Bauches keinen ausreichenden Ersatz für die Kürze der Beine bietetItem; die Rinne führte uns in eine Scharte des Nordgrates, der mit mächtigen Kalkmauern gegen Schwarenbach abfällt; nun noch einige Minuten lustiger und luftiger Kletterei über eine Felsecke zum obersten Plateau, und um 1 Uhr 55 Min. stehen wir auf dem höchsten Punkt.
Das Felsenhorn soll eine prächtige Aussicht gewähren, die gegen Süden nicht wesentlich von derjenigen verschieden sein kann, die uns die Daube bietet. Wir sehen davon nicht viel und das wenige in ungünstiger Beleuchtung. Tief zu unsern Füßen liegt das Hochthal der Gemmi mit den düstern Wasserspiegeln des Daubensees und des Seeleins bei Schwarenbach. Imposant ist der Anblick der Berge, welche die Gemmi umschließen: die Trias Alteis, Balmhorn, Rinderhorn, und die Stöcke und Hörner um den Lämmerngletscher; alles Weiterliegende ist halb oder ganz verdeckt; die Berge haben die Nebelkappe so tief herabgezogen, daß sie kaum erkennbar sind; der Himmel verdüstert sich mehr und mehr, und als die Nebel nun von der Daube her über die Gemmi zu huschen beginnen, da packen wir auf und treten um 3 Uhr 10 Min. den Abstieg zur Roten Kumme an, über welche südlich vom Felsenhorn ein Pfad vom Ueschinenthäli zur Gemmi führt. In früherer Zeit soll durch die Rote Kumme ein leidlicher Viehweg gegangen sein, über den die Adelbodener ihre „ Walliserkuhli " zum Ueschinenthäli und weiter nach Engstligen trieben. Jetzt ist nur noch ein schlechter Schafweg vorhanden. Es regnete, als wir um 3 Uhr 45 Min. über den Südwestgrat des Felsenhornes die Paßhöhe der Kumme erreichten, und es regnete bis nach Schwarenbach hinaus, wo wir um 5 Uhr einkehrten. Das Rinderhorn gaben wir für diesmal auf; die Zuversicht auf die Gunst des Wetters war einem wohlbegründeten Mißtrauen gewichen; um 7 Uhr waren wir in Kandersteg zurück.
Alteis ( 3686- ).
Erste Besteigung vom Gasternthal aus.
Dein unsterblichen Helden von Tarascon, Tartarin, dem Löwentöter und Jungfraubezwinger, wohnten, so berichtet uns sein Biograph, Alphonse Daudet, zwei Seelen in der Brust: die eine, Tartarin Don Quixote, zu kühnem Thun entflammt, standhaft in Mühsal und Gefahr, voll Sehnsucht nach glorreichem Abenteuer mit Riesen und Zauberern; die andere, Tartarin Sancho, weichlich, bequem, ängstlich des Leibes pflegend, voll Sehnsucht nach der Hochzeit des Camacho und der glückseligen Insel Barataria; beide unauflöslich miteinander verwachsen und doch in ewigem Hader unter sich.
Ich möchte niemand unrecht thun; aber ich glaube, diese beiden Seelen finden sich bei den meisten Menschen, sogar den meisten Clubisten. Nicht bei allen! Wer niemals in schlafloser Nacht unter irgend einer Balm oder in einer elenden Schäferhütte, nie beim Durchwaten endloser weicher Schneefelder, nie beim Anstieg über eine rutschige Trümmerhalde im Sonnenbrande, oder beim Abstieg in strömendem Regen nach ab-geschlagenem Anlauf, das Murren und Schelten Sanchos in seinem Innersten vernommen hat, den will ich hiermit ausdrücklich und feierlich ausgenommen haben. Ich gehöre nicht zu diesen Glücklichen und, soviel ich weiß, auch kaum einer meiner älteren Clubgenossen.
Bei den jungem ist das anders; solange man jung ist, hat Don Quixote die Oberhand und Sancho muß sich ducken; wie man aber älter wird, bläht Sancho sich auf, und hat man gar das Kap der Fünfzig umsegelt, und damit das Recht erworben, sich den Bauch und die Glatze stehen zu lassen, so kommt die Reihe des Duckens an Don Quixote.
Meinem Sancho lag natürlich die Idee, dem Alteisauf neuem Wege, vom Gasternholz aus über die Nordkante, auf das Dach zu steigen, gar nicht recht. Die Höhendifferenz und die Steigung waren ihm zu groß; am wenigsten wollte ihm ein Nachtlager oben, über den Flühen, im Hotel „ à la Belle Etoile " einleuchten; wer weiß, ob er nicht den Sieg davongetragen hätte, wenn nicht Don Quixote von meinen Söhnen, Paul und Hans, kräftigen Suceurs erhalten hätte; dieser Übermacht mußte sich Sancho grollend fügen.
Ich hatte mir den nördlichen Anstieg auf den Alteis mehrmals vom Gasternthal aus, dann auch von First, Reinhartsalp und Fisistock aus genau angesehen und gefunden, er müsse ohne allzu große Schwierigkeit auszuführen sein. Auch Abraham Müller war dieser Meinung; die Fluhsätze der Wand sehen böser aus als sie seien; habe man einmal den Gletscher erreicht, dann habe man gewonnen Spiel, aber probiert habe es noch niemand. Die Traversierung des Alteis vom Gasternholz zur Gemmi wurde also aufs Programm genommen. Daß meine Söhne genügende Sicherheit und Ausdauer besaßen, um der Tour gewachsen zu sein, wußte ich von vielen kleinern und größern Bergfahrten her ( 1890 Scesaplana, 1892 Balmhorn, etc. ). Das Wetter war aber 1893 zu unsicher, als daß ich ein Bivouak hätte riskieren wollen; ohne ein solches wäre aber die Tour, wenigstens für mich, zu lang und zu anstrengend gewesen, besonders da wir den Weg erst suchen und für die Passage der Flühe über dem Gasternholz gutes Licht haben mußten.
Anfangs Juli 1894 schrieb mir Abraham Müller, wenn ich noch an die Tour denke, sei jetzt dafür die beste Zeit, der Schnee gut und das Wetter sicher. Ich konnte aber nicht vor der letzten Woche abkommen und fuhr also erst am 23. Juli mit Hans — mein älterer Sohn war leider durch Unwohlsein verhindert — nach Kandersteg hinauf. Am 24. Juli, nachmittags 31k Uhr, kamen unsere Führer, Abraham Müller und sein Schwager, Hans Ogi-Müller, von einer Tour auf die Wilde Frau zurück, waren aber gleich bereit, mit uns die Alteisfahrt zu unternehmen. Proviant und Decken wurden gepackt und einem Träger übergeben, und um 5 Uhr stiegen Hans und ich durch die Klus hinauf und warteten oberhalb derselben, da wo der Blick auf Alteis, Balmhorn und Hockenhorn sich öffnet, auf Führer und Träger, die nach kurzer Rast zu Hause um 6 Uhr 10 Min. anlangten.
Wir überschritten die Brücke des Gasternholzes, gingen an der stattlichen Hütte bei 1360 m vorbei in der Richtung des Gasternfalles ( Schwarzbach ) und verfolgten dann einige Minuten lang den Geißpfad, der durch die sogenannte Schlüpfezum Stierenbergli an der Gemmi führt. Dann wenden wir uns zwischen dem Schwarzbach und seinem östlichen Nachbarn nach Süden und steigen pfadlos, bald über Geröll und Felsstufen, bald durch Wald und Alpenrosenbuschwerk, gegen die Wand des Tatlishorns hinauf. Von da an gilt es, den Steilhang unter Tatlishorn und Alteis östlich bis zum Lärchi zu queren, wo wir unser Bivouak beziehen wollten.
Das Lärchi ist der am weitesten nach Osten gelegene Waldstreifen der Wand, über dem Geltenbach, in cirka 1800 m Höhe; unsern Weg zu demselben eingehend zu schildern, unterlasse ich. Die Beschreibung könnte dem Leser leicht noch langweiliger werden, als uns die Begehung. So felsig und steil die Thalwand von Gastern aussieht, so ziehen sich doch über dem untersten schroffen Fluhsatz schwächer geneigte Schutthalden bis zu den oberen Flühen, von zahlreichen Runsen durchschnitten, zwischen denen sich hier und da Kalkrippen, meistens aber harte, moränenähnliche Schuttdämme hinziehen. Die meisten dieser Runsen sind trocken; durch andere rieselt ein Wässerchen; in Erinnerung geblieben ist mir namentlich eine Stelle, wo im Grunde einer Schuttrunse eine schiefe, glattgewaschene Kalksteinplatte zu Tage trat, in der das Wasser einen Riesentopf aus-zuschleifen begonnen hatte. Selten ward es uns so gut, ein Felsband auf längere Strecke verfolgen zu können; meist ging es quer in monotoner Abwechslung über Dämme und Runsen, Runsen und Dämme. Schwierig war der Gang nicht, wohl aber langweilig und ermüdend; den prächtigen Blick in den Hintergrund von Gastern können wir nur selten, bei einem kurzen Halt, genießen; unterwegs heißt es „ zu den Füßen sehen ", denn der Schutt ist hart und die Halden fallen jäh gegen die untere Fluh ab.
Es war schon fast Nacht, als wir endlich um 8 Uhr 45 Min. bei der Balm im Lärchi anlangten, die uns als Nachtherberge dienen sollte.
Luxuriös ist das Quartier nicht; die überhängende Wand eines Felskopfs läßt unter sich einen Hohlraum frei, in dem sich fünf Mann zur Not lagern können. Der Boden ist von Felsleisten durchzogen und mit Brennnesseln bewachsen, die mit dem Pickel gemäht werden. Die Besorgnis Hans Ogis, es könnten da drin Schlangen sein, weist Abraham mit der triftigen Bemerkung zurück: die seien nicht so dumm, da oben in der Balm auf der kalten Seite des Berges zu nächtigen. Wer so dumm sei, das ließ er höflicherweise unausgesprochen: Sancho war nicht so discret. Hie und da sollen übrigens auch Jäger hier übernachtet haben, vielleicht auch etwa Schafhirten, denn früher, bevor das Thälchen zwischen Tatlishorn und Alteis ganz verwildert war, sollen da oben Schafe gesommert worden sein, und wir glaubten auch in dem letzten Waldstreifen vor dem Lärchi Überreste eines Pfades gesehen zu haben, der uns vielleicht rascher hinaufgeführt hätte.
Item; da waren wir! An Holz hatten wir keinen Mangel, abgestorbene Lärchen gab es da oben an der Waldgrenze genug. Schlimmer stand es mit dem Wasser, das erst in einer Entfernung von mehr als einer Viertelstunde ( ostwärts ) in zugänglicher Lage gefunden wurde.
Bald loderte ein mächtiges Feuer neben der Balm und warf rote Lichter auf ihre Wölbung. Drunten im Gasternholz am Kanderufer flammt, vielleicht zur Antwort, ein zweites Feuer auf; von Eggenschwand her blinken einige Lichter und thalauswärts, an oder hinter der Niesenkette, steht ein Gewitter am Himmel.
Das Wetter verzog sich, die Lichter erloschen, das Feuer im Gasternholz verglomm. Auch unser Feuer glimmt nur noch schwach unter der Asche; dafür sind aber die Sterne aufgezogen; ungewöhnlich glänzend und groß erscheinen sie uns, wie sie zwischen den Zacken der Fisistöcke auftauchen. Die letzte Pfeife ist geraucht. Gute Nacht!
Ja, schön: „ gute NachtEs ist mir noch kaum je eine Nacht so lang vorgekommen wie die fünf Stunden zwischen unserm Lichterausblasen um 10 Uhr 30 Min. und unserer Tagwacht um 3 Uhr 30 Min. Geschlafen habe ich nicht, während ich sonst ein bemerkenswertes Schlaftalent besitze. Ich glaube auch nicht, daß es den Führern viel besser gegangen ist, denn oft flammte ein Streichholz auf und richtete sich der Eine oder Andere auf, um nach der Uhr zu sehen. Nur der Träger schlief, sogar hörbar, und auch mein Hans fand wenigstens für ein paar Stunden den festen Schlaf seiner siebzehn Jahre. Nach Mitternacht wird ein blasser Schein an den Wänden der Fisistöcke sichtbar, aber es ist nicht das Tagesgrauen, sondern das Licht des Mondes, der uns unsichtbar aufgegangen ist. Endlich graut der Morgen, aber erst um 3 Uhr 30 Min. ist es hell genug, daß Ogi Wasser holen kann. Er bleibt noch länger aus als gestern, denn das Wässerchen rinnt am frühen Tag noch spärlicher als am Abend.
Erst um 4 Uhr 40 Min. sind wir marschbereit, verabschieden den Träger und brechen auf. Wir umgehen den Felskopf der Balm rechts und begrüßen nach einigem Klettern auf einer weiter oben gelegenen Terrasse die Sonne; bald über Felsstufen kletternd, bald über Moränen schreitend, gelangen wir zum Gletscherbach, der in einer tiefen Runse fließt, überschreiten denselben und erreichen, dem rechten Ufer folgend über Schutt und Fels, selten über Schnee, um 6 Uhr das Ende der Gletscher-zunge.Hier binden wir uns an das Seil und steigen, um den drohenden Sérac der rechten Seite zu vermeiden, südwestlich gegen das Ober-Tatlis-horn hinauf. Der Gletscher ist vollständig ausgeapert, stark geneigt und zerspalten; der Anstieg kostet deshalb viel Hackarbeit; die Oberfläche ist für die frühe Morgenstunde zu lebendig; überall rieselt es von Wasseradern. Um 7 Uhr machen wir bei einigen Blöcken in der Nähe des linken Ufers Halt, aber nicht lange, denn zu dem Rieseln und Rauschen des Wassers gesellt sich jetzt ein unheimliches Poltern und Sausen. Es fallen Steine, keine Felsblöcke, aber doch öfters kopfgroße Stücke, die bei ihrer Fallgeschwindigkeit für bescheidene Ansprüche vollauf genügt hätten. Darauf hatten wir so früh am Tage nicht gerechnet. Wir steigen nun links dem Sérac zu, aber bei dem andauernden Steinschlag war es ein recht ungemütliches Gehen, besonders weil jeder Tritt gehackt werden mußte. Hätten wir Steigeisen besessen, so wären wir rascher fortgekommen und hätten uns hier und oben auf dem Grat viel Zeit erspart. Der Sérac, der noch im Schatten lag, hielt sich wacker; weder Steine noch Eisblöcke kamen herunter, als wir direkt unter seinen Eistürmen ein paar große prächtig blaue Schrunde passierten. Von da an ging es fast mitten durch den Gletscher hinauf. 9 Uhr 30 Min. standen wir auf dem kleinen Sattel zwischen Ober-Tatlishorn und Alteis in cirka 2900 m Höhe.
Hier machen wir eine ausgiebige Rast. Rechts von uns in der Tiefe, unterhalb der Schutt- und Schneehalden der Tatelen, überblicken wir die Spitalmatte mit dem Gemmiweg, über den eine lange berittene Karawane dem Schwarenbach zuzieht. Vor uns blinkt das Firndach des Alteis und links schwingt sich der Nordgrat ( Kante wäre vielleicht richtiger ) in zierlich ausgezackter Bogenlinie gegen die First des Daches hinauf.
Um 10 Uhr 20 Min. brechen wir auf und lassen uns von der prächtigen Firnfläche verleiten, den Anstieg schräg über das Dach direkt zum Gipfel zu versuchen. Wir geben es aber bald auf; die Schneekruste ist dünn, da und dort tritt blankes Eis zu Tage: es hätte endlose Hackarbeit gekostet. Wir wenden uns also dem Nordgrate zu, der links mit schroffen Wänden zum Balmhorngletscher abstürzt, rechts sich in den Firnhang des Daches verliert. Fast überall können wir dem Grate folgen; er ist mit Schnee bedeckt, dessen harte Oberfläche viel Hacken erheischt, aber ohne überhängende Gwächten. Nur da, wo sich etwa eine Querspalte bis an den Rand hinauszieht, treten wir ein paar Schritt weit auf die Westseite hinüber, um den Übergang etwas weiter vom Absturz zu machen. Der Grat ist lang; der zierlichen Firnzacken, die sich dem Nahenden als Gipfel aufspielen möchten, sind nur zu viele; endlich erscheint aber doch ganz hinten das Ende des Bogens, und bald nach 2 Uhr sind wir oben. Oben? noch nicht ganz! Auf dem Giebel des Daches stehen wir, aber der Blitzableiter, der Steinmann, liegt noch etwas weiter, und um ihn zu erreichen, müssen wir auf schmaler felsiger First ab- und wieder aufsteigen. Um 2 Uhr 15 Min. lagern wir uns am Fuße des gewaltigen, eisenumgürteten Steinmanns.
Wir haben da hinauf, größere Halte abgerechnet, 8 rn Stunden gebraucht statt der erwarteten sechs. Etwa drei Viertelstunden mögen auf die Umwege an der Gletscherzunge und am Dache fallen, der Rest des Überschusses fällt auf mein Konto, denn ich war nach der schlechten Nacht auch recht schlecht disponiert und stieg sehr langsam. Ein jüngerer und rüstigerer Gänger, der unsere Umwege vermeidet, wird die Tour vom Lärchi wohl in 5-6, vom Gasternholz aus vielleicht in 7-8 Stunden machen können. Technische Schwierigkeiten, böse Tritte, senkrechte Eiswände u. dgl. bietet sie nicht; Gefahr kann unter Umständen der Steinschlag oder der Sérac bringen. Wahrscheinlich ist der Frühsommer mit den langen Tagen und der reichlichen Schneebedeckung die geeigneteste Zeit für diesen Anstieg, der länger und mühsamer, aber abwechslungsreicher und interessanter ist, als der gewöhnliche Weg vom Schwarenbach aus. Ein normal entwickelter Sancho wird dabei freilich immer etwas einzuwenden haben. Macht man den Anstieg in einer Tour von Kandersteg aus, so ist er lang und mühsam; die Höhendifferenz Kander- Steg ( Bären)-Alteis beträgt 2484 ra; die Steigung Gasternholz-Alteis 72%. Teilt man aber die Tour durch Einschiebung des Bivouaks in der Balm in zwei Abschnitte, so ist es Sancho kaum zu verargen, wenn er gegen diese Art Herberge energisch, wenn auch erfolglos protestiert.
Ich will die Aussicht des Alteis nicht beschreiben; sie ist von der berühmteren des Balmhorns nicht wesentlich verschieden. Daß der „ alte Eis " ein weitsichtiger Berg ist, geht schon daraus hervor, daß er von fast allen Aussichtspunkten der Nord-, West- und Südwestschweiz sichtbar ist und an seinem charakteristischen Dache leicht erkannt wird. Man sieht ihn vom Uetliberg, von den Höhen des Schwarzwaldes, der Vogesen und des Jura, vom Eigi, vom Montblanc ( vgl. Imfeids Panorama ) und voi> den Gipfeln des Wallis bis zum Mattwaldhorn. Das Balmhorn verdeckt weit weniger als man erwartet: einzig einen Teil der Lötschthalerberge rechts vom Bietschhorn und einen Teil der Binnenthaler Alpen, und für das, was es verdeckt, bietet es reichen Ersatz durch seine stolze Gestalt, seinen schimmernden Eismantel und die Zierlichkeit der Schneide, die von ihm zum Alteis hinüberführt. Die Berner Alpen sehen wir in Verkürzung; Blümlisalp und Doldenhorn kehren uns ihre nackten felsigen Südwände zu; an letzteren zeigt mir Abraham den schauerlich wilden Grat, über welchen er und Hans Ogi am 10. August 1890 MM. Stallard und Ormerod zur Spitze geführt haben.
Wir sehen die Aussiebt ziemlich frei, aber in nicht ganz günstiger Beleuchtung. Weiße Föhnstreifen durchziehen den Himmel und dämpfen das Licht; im Süden und Südwest ballen sich Wolken; die Ebene liegt im Dunst, kaum können wir einzelne Bergzüge und Flußlinien unterscheiden. Das Großartigste in der weiten Rundsicht sind unstreitig die Walliser Alpen, vorab die Mischabelhörner, das Weißhorn und die Dent Blanche. Der Jura erscheint als ferner blauer Wolkenstreif und Vogesen und Schwarzwald verschwimmen am Horizont. Prächtig ist aber der Blick auf das Kanderthal bis über Frutigen hinaus und zum Thunersee, den wir in der Gegend von Spiez erblicken.
Um 3 Uhr legen wir einen Zettelmit einigen Notizen über unsere Fahrt in den Steinmann und brechen auf, um auf dem üblichen Wege über die Westseite nach der Spitalmatte abzusteigen. Wer meint, er könne beim Abstieg das Firndach zu fröhlicher Abfahrt benutzen, der irrt sich sehr, oder er müßte dann, wie Edmund von Fellenberg 1863, im Mai kommen. Wer im Hochsommer kommt wie wir, wenn überall blankes Eis unter dünner Schneedecke hervorblickt, der muß sich mit dem Ansehen des Schneedaches begnügen und neben demselben auf der Kante gegen das Thal des Schwarzgletschers und -bachs seinen Weg suchen, meist durch grobes Geröll, das Kniee, Füße und Geduld hart mitnimmt. Was nicht von Schnee und Firn bedeckt ist, das ist Schutt und Gufer, und der Ingenieur, der auf der Karte so hoch hinauf bewachsenes Terrain eingezeichnet hat, muß ein mikroskopisch scharfes Auge für Vegetation besessen haben. Endlich haben wir, zuletzt im dicken Nebel, die letzte Schutthalde passiert und betreten Weideboden, dann um 7 Uhr 15 Min. nach langer Rast an einer Quelle des Zagenwaldes die Spitalmatte; eine Brücke ist nirgends zu finden; zum Glück aber erspäht Abraham auf dem linken Ufer des Schwarzbaches einen befreundeten Walliser, der uns ein „ Tannli " hinüberlegt und uns so das Durchwaten des kalten Gletscherwassers erspart. Wir haben nun den Gemmiweg erreicht und schlendern gemächlich hinaus.
Um 9 Uhr sind wir in Kandersteg, wo schon die St. Jakobsfeuer flammen. Diese Nacht haben wir die Betten der „ Viktoria " weder zu weich noch zu warm gefunden, wie vor zwei Tagen!
Als wir am Morgen des 26. das Thal hinausfuhren, regnete es und die Berge waren tief herab verhängt. Es ist das gerade das rechte Wetter zur Heimkehr nach gelungener Tour; man weiß dann doch, daß man im Berge nichts versäumt.
Zum Schluß einige Worte über unsere Führer, mit denen wir in jeder Hinsicht wohlzufrieden waren; sie sind gegenwärtig unstreitig die besten Führer Kanderstegs. Bannwart Abraham Müller ist ein großer, ungemein kräftiger Mann, am Ausgang der Dreißiger Jahre, ein vorzüglicher Kletterer und unermüdlich in Eis und Schnee; Hans Ogi, sein Schwager und gewöhnlicher Begleiter, ist älter und kleiner, aber stark, ausdauernd und flink wie eine Katze. Beide sind durchaus zuverlässig, bescheidene gute Gesellschafter und haben ein Repertoire, wie man es bei Führern außerhalb der großen Touristencentren sonst selten findet. Von ihren ersten Besteigungen im Kandergebiet sind mir, abgesehen von der eben erzählten Traversierung des Alteis, bekannt diejenigen des Doldenhorns von Gastern aus und des Kleinen Lohner ( 1890 ) und die der Weißen Frau vom Kanderfirn aus ( 1892 ); aber auch in andern Gegenden der Alpen sind sie bekannt, in Zermatt ( Dom, Weißhorn ), in den Bergen von Cogne ( Grivola und Grand Paradis etc. ), im Gebiet der Isère ( Grande Sassière ) und im Dauphiné ( Pic des Etages und Brèche de la Meije ). Der bekannte englische Bergsteiger Mr. G. Stallard, der seit 1888 mit Abraham Müller ( und gewöhnlich auch mit Hans Ogi ) geht, stellte ihm 1892 das Zeugnis aus: „ I want no more trustworthy guide or more cheerful and obliging companion. " Ich kann nichts besseres thun, als dies Zeugnis zu unterschreiben und beide, Müller und Ogi, den Mitgliedern des S.A.C. wärmstens zu empfehlen.