Kennedys Matterhornversuch im Winter
Max Senger, Zürich
Es handelt sich nicht um Kennedy, den ehemaligen Präsidenten der USA, auch nicht um Wintersport im heutigen Sinn, nach dem Rezept: das ganze Volk fährt Ski. Wohl aber ist ein richtiger Kennedy im Spiel, und von « Wintersport » kann schon die Rede sein, wenn im 19. Jahrhundert ein alpiner Gipfel im Januar und eben nur mit den damals bekannten sommerlichen Hilfsmitteln angegangen wird.
Es handelt sich um einen Winterbesteigungsversuch des Matterhorns im Jahre 1865, womit dieses Datum noch heute als eines der alpinistisch bedeutsamsten zu betrachten ist. Vorher war es der Mont Blanc, der in Bergsteigerkreisen und in der am Alpinismus interessierten Öffentlichkeit das Augenmerk auf sich zog. Von dessen Erstbesteigung ( 1786/87 ) an war Alpinismus fast identisch mit « Mont Blanc ». Erst 1854 beginnt das « Golden Age », weil eben damals noch go% der Alpen nicht erobert waren. Es konnte also überall und anderswo noch etwas « geschehen ». So eben am Matterhorn, wobei jeglicher Alpinismus als sommerliche Angelegenheit betrachtet und auch als solche betrieben wurde. Thomas Stuart Kennedy, in der Folge immer kurz mit « Kennedy » bezeichnet, betrachtete dieses alpinistische Problem von allen Seiten in den Sommern 1858 und i860, mit Fernrohr und Teleskop, und er kam zur Überzeugung, dass eine Besteigung im Winter versucht werden sollte, ja sogar möglich wäre. Er führte diesen Versuch auch durch, und zwar im Winter und drei Jahre vor Whympers Erstersteigung im Sommer 1865. Aber schon allein die Zufahrt bot allerlei unerwartete Schwierigkeiten. Er schreibt darüber:
« Eines Abends ( Januar 1862 ) kam ich in Sion an, nachdem ich zwei Nächte von Böhmen hergereist war. Der Simplon war für die Diligence nicht passierbar. Ich wartete einen Tag und eine Nacht in Turtmann, und wir kamen um Mitternacht in Visp an. Bis Stalden ging dann alles gut. ( Es folgt eine Beschreibung von Strassenstörungen und Lawinen. ) Es war dunkel, als wir in Zermatt eintrafen. Kein Mensch in den Strassen, kaum ein Licht in den Häusern; die zwei Gasthäuser ( inns ) waren geschlossen. Nachdem der Pfarrer sein erstes Erstaunen überwunden hatte, bot mir der gute Mann ein herzliches Willkommen... und Unterkunft an. » Am anderen Morgen, in der Frühe, machte sich Kennedy mit Perren auf den Weg zum Hörnli. Er schildert ausführlich Lawinendonner und Unwetter: « Um 2 Uhr mittags kehrten wir um, in der Meinung, dass der Nachtfrost unsere Stufen erhärten und den Zugang am nächsten Tag erleichtern werde. Unterwegs erwartete uns Peter Taugwalder, offensichtlich auf Arbeit wartend, und ich engagierte ihn, denn zwei Männer würden für die nächste Expedition wohl nötig werden. Abends gingen wir im ganzen Dorf auf Proviant aus. Kein frisches Fleisch war zu haben und kaum etwas Brot, mit Ausnahme des schwarzen Zeugs, das die Bauern essen. Beim Abmarsch wurden wir vom halben Dorf bestaunt. Am späten Nachmittag kamen wir in Schwarzsee an und machten uns ans Werk, die kleine Kapelle als Unterkunft für die Nacht einzurichten. Wir machten darin eine Feuerstelle und versuchten eine Suppe zu kochen, wenn ein Absud aus Wasser und Käse und sehr altem getrocknetem Fleisch so bezeichnet werden darf. Um 4 Uhr morgens gab es erneut Feuer und ,Suppe. Mein Thermometer zeigte eine Aussentemperatur von 9 Grad Fahrenheit ( ca.13 Grad Celsius ). Wir stampften knietief über den Furgg-Gletscher und erreichten am üblichen Punkt die Hörnli-Rippe. Ein scharfer Nordwind und Nebelfetzen liessen mich bereits am Gelingen dieser Expedition zweifeln. Wir wandten uns nach links, gingen der Rippe entlang, direkt auf das Horn zu. Wir erkletterten zahlreiche Granitblöcke, bis der alte Taugwalder erklärte, dass er nicht mehr weiter könne. Perren kletterte weiter auf der Rippe; ich folgte mit Hilfe des Seils von oben, und zuletzt kam noch der alte Peter nach. Wiederum hatten wir fürchterlichen Wind, und wir verbargen uns einige Zeit unter den Felsen. Und hier, im Kampf mit diesem Wind und mit den grauen Felsen vor uns, fühlte ich die süsse Genugtuung der Kraft, die einen Menschen befriedigt, wenn er einem gleichwertigen Gegner gegenübersteht... Wir sahen eher aus wie eine arktische Schlittenmannschaft als wie Leute, die jeden Muskel zu gymnastischen Bewegungen benötigen. Wir waren alle drei gut gekleidet; aber solch ein Wetter gibt einem Mann die Kraft eines Giganten... Wieder gingen wir auf die Rippe los, obgleich wir wussten, dass der Kampf nicht mehr lange dauern konnte. Wir waren alle blau im Gesicht, die Finger erstarrt ( numbed ), so dass wir uns kaum an den Felskanten halten konnten. Wir waren nicht in der Lage, von Fels zu Fels zu springen, wie es in wärmerer Atmosphäre möglich gewesen wäre. Doch keiner schien als erster aufgeben zu wollen, bis ein stärkerer Windstoss als gewöhnlich uns zwang, für einige Zeit hinter einem Felsen Schutz zu suchen ( Immediatly it was tacitly understood that our expedition must now endoder: Es wurde hier allen klar, dass der Versuch zu Ende sein müsse... Aber wir beschlossen, doch eine Erinnerung an unseren Besuch zurückzulassen. » Sie errichteten ein Steinmannli, liessen eine Flasche mit Datum zurück und machten sich auf den Heimweg nach Zermatt, wo sie einen freundlichen Empfang und ein gutes Nachtessen beim Pfarrer erhielten.
Und nun der Schluss der Beschreibung, so kurz und lakonisch wie der Beginn: « Am nächsten Tag ging ich nach Visp hinunter, und am Samstag war ich wieder in England. » Das Matterhorn wurde zwar nicht erstiegen, aber der Alpinismus im Winter gewissermassen « eingeführt ». Ein Vortrag von W. Moore im Alpine Club in London im Jahre 1869 war bereits eine Bestätigung dieser Auffassung. Moore sagte: « Alpinismus im Winter ist sozusagen eine Selbstverständlichkeit. Lange und nicht zu schwere Touren sind möglich und nicht gefährlicher als im Sommer. Die Lawinengefahr ist nicht grosser, weil im Dezember die Schneesicherheit grosser ist als im Juni. Überdies bieten die Alpen im Winter ebenso grosse Anziehung ( great attractions ) wie im Sommer1. » Zurück zu Kennedy: Sein im Alpine Journal ( Vol. I, Zermatt and the Matterhorn in Winter ) erschienener Bericht ist die einzige alpin-publi-zistische Leistung, obgleich er Dent Blanche und Disgrazia mit Führern und 1855 den Mont Blanc du Tacul mit Hudson und anderen führerlos bestiegen hat... Er wird wohl nicht zur Familie des verstorbenen Präsidenten der USA zu zählen sein, welcher sagte: « Nach 115 Jahren, drei Generationen und einer 9000 Kilometer langen Reise bin ich hier, an der Hafenmauer von New-Ross in Irland, von wo aus mein Urgrossvater 1848 nach Amerika gesegelt war. » 1 Die erste Winterbesteigung, also nicht nur ein Versuch, gelang Vittorio Sella 1882, am 16. März, von Breuil aus.
Die Encyclopaedia Britannica nennt die Kennedys eine « alte schottische Familie, von denen einer um 1350 Land in Ayrshire, im südlichen Schottland, bekam. Später soll es in dieser Familie Lords, Bischöfe und Poeten gegeben haben... und eben diesen « allerersten Begründer des alpinen Wintersports »!
Überdies wurde von ihm gemeldet, er sei ein besonderer Liebhaber von Ginger-Beer gewesen, denn Wasser liege kalt im Magen und die Schweizer Wirte täten besser daran, eben dieses Ginger-Beer auszuschenken. Vermutlich, so meinte einer der Freunde Kennedys, werde er im Schosse des Alpine Club in London gelegentlich einen Vortrag über Ginger-Beer halten... Das hat er nicht getan - wohl aber seinen alpinen Erstbesteigungsversuch im Winter 1865 beschrieben!