© Jean-François Delhom
Keine Zeit zu sterben Eine Reise in die Unterwelt des Plaine-Morte-Gletschers
Im Winter, wenn der Gletscher erstarrt und das unberechenbare Wasser des Faverges-Gletschersees für die Einwohner des Simmentals keine Bedrohung mehr darstellt, machen sich die Speläologen auf den Weg zur Plaine Morte. Eine Reportage aus dem Eis.
Kaum wahrnehmbar scheint ein eisiger Atem aus den Tiefen des Ungeheuers aufzusteigen. Es sind seine letzten Atemzüge, denn es liegt im Sterben, wenn man in geologischen Massstäben denkt. Kaum mehr als 50 Jahre gibt man ihm noch.
Unablässig formt dieser mysteriöse Atem die Wände des Stollens, in den wir uns ungefragt hineinwagen wie nekrophage Insekten. Durch den Kontakt mit den Unregelmässigkeiten des Eises hat er Tausende Vertiefungen geformt, die den Eiswänden ein wundersames Relief verleihen. Im horizontalen Gang wenige Meter unter der Oberfläche kommen wir nur mit Mühe voran und bahnen uns einen Weg durch den Schnee, der sich in den letzten Wochen angesammelt hat.
Kurz bevor der Schacht in die Tiefe führt, öffnet sich die Decke zum Himmel und lässt ein letztes Mal das Tageslicht herein. «Hier hält man sich besser nicht zu lange auf», sagt Fred und zeigt auf die Wechten, die bedrohlich über den Rändern der Eisspalte liegen. «Bei Exkursionen im Gletscher ist die Gefahr in der Nähe der Oberfläche am grössten», erklärt er. «Neben Wechten hat es auch häufig riesige Stalaktiten, die drohend wie Damoklesschwerter von der Decke hängen. Wenn sie dich nicht beim Herabfallen erschlagen, können sie die Eingänge der Höhlen blockieren und dir den Weg abschneiden.» Wir beschleunigen unsere Schritte. Der Schnee weicht blankem Eis, auf dem unsere Steigeisen knirschen. Zu beiden Seiten gibt es keinen Halt. Die Handschuhe rutschen über das glatte Eis.
Zeit zum Staunen
Geeignete Zeitpunkte für Expeditionen unters Eis sind selten. Jetzt, Mitte Dezember, sind die kalten und trockenen Bedingungen ideal. Aber heftige Schneefälle haben die meisten Zugänge unpassierbar gemacht, und der Stollen, den wir heute begehen, war mit seinem gut geschützten Eingang die einzige vernünftige Wahl.
Jeff ist schon vor uns losgezogen, um den Weg auszukundschaften, und hat bereits eine Reihe von Standplätzen mit Eisschrauben eingerichtet. Hervé geht als Zweiter, dann komme ich an die Reihe. Ich lasse das Statikseil langsam durch mein speläologisches Abseilgerät gleiten und begebe mich in den Schlund des Ungeheuers.
Um keinen falschen Handgriff zu machen, bin ich so konzentriert, dass ich die Angst vergesse, die mir diese Wände aus blankem Eis einflössen. Sie scheinen um mich herum immer enger zu werden. Aber was für ein grandioser Anblick! Die harmonisch geformten Wände erwachen im Schein unserer Stirnlampen zum Leben.
Weisse Oberflächen wechseln sich mit transparenten Bereichen ab. Luftblasen sind im Eis zu sehen, die vor langer Zeit eingeschlossen wurden. Da und dort ziehen sich Spalten durch die Wände, die von der Bewegung des Eises zeugen. «Manche Risse bilden sich nach einem einfachen Schlag mit dem Eispickel. Auf diese Weise lösen sich die Spannungen im Eis. Das kann regelrechte Detonationen auslösen», sagt Hervé mit einem Lächeln, das aber nicht ganz ausreicht, um mich zu beruhigen. Wo der Stollen zwischen zwei Stufen einen flachen Absatz bildet, folgen wir den Windungen, die das Schmelzwasser im Sommer ins Eis gegraben hat.
An einigen Stellen verengt sich die Röhre, dann genügt es, ein wenig Kraft aufzuwenden, damit der Körper zwischen den Eiswänden hindurchgleiten kann. Einen Absatz nach dem anderen steigen wir weiter hinab, bis eine Platte aus grauem Eis unser Vorankommen stoppt. Offenbar handelt es sich um einen früheren Wasserstand des unter uns liegenden Siphons.
Weiter werden wir nicht gehen. Hier, in rund 40 Metern Tiefe, erwartet uns Jeff, der fasziniert vor einer Ansammlung von Eiskristallen steht, die sich durch den Kontakt mit den Luftströmungen an der Decke des Stollens gebildet haben. «Solche Konkretionen habe ich noch nie zuvor gesehen», sagt der Fotograf erstaunt. «Die Natur ist eine übergeschnappte Künstlerin, die immer wieder neue unglaubliche Überraschungen für uns bereithält.»
Zwei Jahre zuvor hatte der Freiburger in dieser Galerie Stalagmiten aus Eis fotografiert, die extrem fein und über einen Meter hoch waren. «Das war im Frühling, draussen war es bereits warm, und das Wasser tropfte zitternd herab, bevor es gefror.»
Pioniere des Flüchtigen
Die Zeit scheint hier unten stehen geblieben zu sein. Kaum eine halbe Stunde scheint seit unserem Einstieg vergangen, doch meine Uhr zeigt an, dass es bereits Mittag ist und dass wir uns schon fast zwei Stunden im Inneren des Gletschers befinden.
Zeit für den Aufstieg. Anstelle des Abseilgeräts kommen nun Brust- und Handsteigklemmen zum Einsatz, mit denen wir am Seil über die Absätze aufsteigen. Für Ungeübte eine nicht zu unterschätzende Anstrengung. Und etwa eine Stunde später sind wir wieder an der Stelle, wo wir unsere Ski am Eingang der Gletscherhöhle zurückgelassen haben.
Jetzt liegt die Höhle hinter uns, und wir stehen in der Sonne, mit dem Gefühl, die Ersten und vielleicht auch die Letzten gewesen zu sein, die diesen Ort besucht haben. Starke Niederschläge könnten den Zugang zum Stollen bald für den Rest des Winters verunmöglichen. Und wenn er bis zum nächsten Winter nicht verschwunden ist, wird das Schmelzwasser, das sich im Sommer auf der Oberfläche des Gletschers bildet, ihn umformen.
Den Forschern bieten sich dann neue Überraschungen und sogar neue Möglichkeiten, um das Gletscherbett zu erreichen, bevor dieses sterbende Ungeheuer verschwunden ist.