K 2 - Zwischen Himmel und Erde
Norbert Joos, Chur
Norbert Joos, Chur Nach Skardu Um Mitternacht des 2. Mai 1985 beginnt die abenteuerliche Fahrt von Rawalpindi nach Skardu, dem Hauptort Baltistans. Diese Fahrt fordert mir einigen Angstschweiss ab. Der Weg, der wohl nur für pakistanische Verhältnisse als Strasse bezeichnet werden kann, ist mir bis Bunar bekannt ( denn vor drei Jahren waren wir von hier durch das Diamir-Tal zum Nanga-Parbat hochgestiegen ). Der Strassenabschnitt hinter dem Nanga-Parbat-Massiv ,'Im QH Ml/85 wurde bereits ein Bericht über eine - versuchte - Besteigung des K2 veröffentlicht. Der vorliegende Beitrag von Norbert Joos, der sich mit dem Gipfelerfolg am selben Himalaya-Riesen auseinandersetzt, zeigt nun in sehr eindrücklicher Weise, wie unterschiedlich ein derartiges Unternehmen auf die jeweiligen Teilnehmer wirkt und von ihnen empfunden und beschrieben wird. Die Red.
2 Die siebenköpfige ( Swiss K2-Chogori Expedition » setzte sich aus folgenden Teilnehmern zusammen: Erhard Loretan ( Leitung ), Norbert Joos, Marcel Rüedi, Pierre Morand, Jean Troillet, Jaques Grandjean, Nicolle Niquille.
61 Die Einheimischen nennen ihn . Für die Bergsteiger ist der K2 der ( Berg der Berge>. Der 8611 m hohe Gipfel ist der unter den Bergen des Himalaya, obgleich er, nach dem Mount Everest, ( nun die zweithöchste Erhebung dieser Erde ist. Erst sechs Expeditionen vor uns krönten die unermesslichen Strapazen an diesem Berg mit der Gipfelbesteigung.
Entsprechend mühsam, aufwendig und zeitraubend gestaltet sich unser Unternehmen von Anfang an. Keiner der Teilnehmer2 weiss anfangs genau, ob diese Expedition überhaupt zustande kommt. Doch endlich ist es soweit.
Nach der Landung in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans, bringt uns eine kurze Fahrt bis Rawalpindi, wo wir während unseres dreitägigen Aufenthaltes die 25 kg schweren Trägerlasten zusammenstellen, Expeditionsgrusskar-ten unterzeichnen und Gulam, unseren Koch, anheuern. Ebenfalls dazu gesellt sich der pakistanische Begleitoffizier Zia Ullah Khan. Zia, wie wir ihn nennen, steht im Dienstgrad eines Majors. Er hat einen auffallend stolzen Gang, kohlrabenschwarze Augen und spricht ein gutturales Englisch.
wo der berüchtigte Karakorum-Highway nach links abzweigt, entpuppt sich bald als reinster . Zudem bricht an unserem ohnehin schon überladenen Lastwagen die hintere rechte Achsenfeder. Inschallah - so Gott es will. Doch irgendwie gelingt es schliesslich unseren Männern, ein neues Stück aufzutreiben, unser Gefährt zu reparieren - und weiter geht es. Glücklicherweise verbringe ich die meiste Zeit unserer dreissigstündigen Reise mit Schlafen - oder versuche es wenigstens -, was das Ganze etwas erträglicher erscheinen lässt. Aber die geisterhaft sich einnistenden Gedanken, was alles hätte passieren können -denn man hockt ja in einem Vehikel eingepfercht, das durchaus nicht über jeden Zweifel erhaben ist, und bewegt sich stellenweise Hunderte von Metern über dem reissenden Strom des Indus. Und dies noch auf einer Strasse, die jederzeit zum Abrutschen gut ist. Nun, wir überleben auch die Fahrt durch diese karge Schlucht, die sich in wilden Windungen durch den Himalayakamm schneidet. Danach, kurz vor Skardu, öffnet sich das Tal zu einer riesigen Ebene. Hier regiert der Sand das Landschaftsbild, abwechselnd mit einigen grünen Oasen. Unsere Unterkunft befindet sich am Ende von Skardu im Hotel K2.
Zum Basislager Per Jeep erreichen wir drei Tage später Dassu, wo wir 135 Träger anheuern. Diese Zahl mag erschreckend klingen, zieht man jedoch Vergleiche mit manchen Grossexpeditionen, die bis 1500 Leute engagieren, wirkt unsere Trägerkolonne daneben noch ganz bescheiden.
Der Weg ins Baltoro-Gebiet ist lang und überaus hart. 14 Tage durch endloses, wüstenartiges Gebirge und über Gletschermoränen. Unendliche Gletschermoränen - und immer weglos; zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Die Armut in den Bergdörfern ist unbeschreiblich. Eine leere Gaskartusche oder eine Plastiktüte sind dort Schätze, die den Lebensstandard verbessern. Die Menschen leben meist noch völlig autark in bäuerlichen Gemeinschaften. Ein Trägerlohn ist die einzige Möglichkeit, etwas Bargeld zu verdienen.
Trotzdem steht Geld für sie nicht an erster Stelle. Früher konnte es deswegen gelegentlich sogar Trägerstreiks geben: Ein falsches Wort, und die stolzen Geldlosen warfen die 25 kg Selbstverwirklichungsmüll der Berghelden zu Boden. So mussten schon viele Berg-manager, die das Handbuch
Heutzutage bieten sich diesbezüglich weniger Probleme, denn die Regierung hat genaue Bestimmungen erlassen. Per rechten Daumenabdruck werden Verträge zwischen den Schreibkundigen und den Bergsteigern unterzeichnet. Die Einwohner hier in den mausar-men Dörfern scheinen glücklich zu sein. Weitab von Arbeitsteilung und Persönlichkeitsspaltung. Die erfüllende Lebensweise mit Acker, Arbeitskraft, Haus, Frau und Tieren ist bereits Jahrhunderte alt. Die ganze Schufterei dient dem Überleben, ist aber zugleich Ausdruck eines sinnvollen, glücklichen Lebens.
Die Baltis sind Mohammedaner, und nur noch wenige Anzeichen deuten auf den hier längst vergessenen Buddhismus. Nach den Gesetzen des Islam würde für Diebstahl jedem die Hand abgehackt. Bei konsequenter Durchführung müsste bald ganz Baltistan handlos sein. Ich will nicht sagen, dass es hier mehr Diebe gibt als bei uns in Europa. Aber man sollte ihren Standpunkt auch verstehen: Da kommen gottesähnliche Wesen mit imponierend vielen Sachen für den völlig unverständlichen Zweck, einen der vielen Berge zu besteigen. Kein Wunder, dass da mal etwas an den Händen hängenbleibt. Das Braldo-Tal, das zum Baltoro-Gletscher emporführt, ist ein karges Land. Die Leute sind zäh und hart, und was sie essen müssen, ist noch härter: Tschapatis, mit mindestens Va Sandanteil im Mehl. Wenn ich daran denke, wird mir heute noch übel. Nirgendwo anders ist mir der einfältige Spruch dermassen ins Bewusstsein gedrungen. Ich habe immer geglaubt, ich sei ein harter, bergsteigender Mann! Aber wenn ich mich mit diesen Menschen mit ihrem alltäglichen, harten Leben vergleiche, komme ich mir als verweichlichter, verwöhnter Hanswurst vor, der zufällig einige hohe Berge erklommen hat.
Askole ist das hinterste bewohnte Nest dieses Tales. Eine Oase, die durch jahrelange Arbeit der Wüste entrissen wurde. Eine armselige Ansammlung von Hütten aus Steinen und Lehm, spärlich mit Holz gestützt. Die Dächer sind mit Erde ausgestopft und stellenweise mit Lüftungslöchern durchbohrt, aus denen bläulicher Rauch steigt. Hier leben alle zusam- men. Mensch und Tier gehen durch die Türen ein und aus. Überall Staub und Schmutz, Flöhe und Läuse. Ein paar Kinder betteln um Bonbons. Hunde und Hühner streunen umher. Frauen sind keine zu sehen, nicht einmal die Alten oder die mit den riesigen Kröpfen zeigen sich. Eine reine Männergesellschaft. Wir sind am Ende der Welt. Weiter hinten gibt es nichts mehr. Nur noch Berge, Steine, Eis und Schnee.
Paju ist der letzte Platz unserer Route, wo ein paar wenige Bäume und Sträucher die Anwesenheit verschönern. Auch an den Trägern ist zu spüren, dass wir hier am allerletzten Flecken angelangt sind, wo noch Leben herrscht. Sie tanzen und singen. Fröhliche Gesichter, die man bei ihnen sonst selten sieht.
In Liligo lässt die Morgensonne die gewaltigen Granitpfeiler der Baltoro-Türme rötlich erglühen. Ich betrachte den weiten Baltoro-Gletscher, das Braldo-Tal, das zum Leben führt. Die Träger brechen früh auf. Sorgfältig 63 Kleiner Junge in Skardu bereiten sie ihre Lasten vor, wissen sie doch, dass sie nur noch Steine und Eis erwartet. 120 Träger rufen Allah an, er möge ihnen für den bevorstehenden Marsch über den Gletscher beistehen. Ihre Gesänge scheinen den Himmel zu erreichen. An einem traumhaften Ort halten die Träger und tanzen und singen. Ich empfinde die Freude der Leute als Dank für das schöne Wetter, das uns heute begleitet. Die Bergspitzen spiegeln sich in den seitlichen Moränenseen. Es gehört zu den erregendsten Momenten, diese beeindruckende Urlandschaft einmal gesehen zu haben. Ich bin glücklich. Dieser Raum, dieses Fröhlichsein, das Gelöstsein befriedigen mich grenzenlos. Wir erreichen Urdukas, die letzte Grünfläche an einem Seitenhang des Gletschers. Endgültiger Abschied von der Farbe Grün. Gegenüber die Trango-Türme, die wie für die Ewigkeit erschaffen scheinen. Von nun an empfängt uns nur noch das nackte Gletschereis. Vorbei am grandiosen Masherbrum zum faszinierenden Konkordiaplatz. Zur Linken der K2, unser Berg. 3500 m stürzt er in einer Harmonie zu Tal, die atemberaubend ist. Zugleich wirkt die grenzenlose Stille beängstigend. Ich habe bereits viele grosse Berge gesehen. Aber was sich jetzt meinen Augen darbietet, ist mehr als all das. Der Mount Everest ist zwar der höchste Berg der Erde, aber wenn ich den K2 bestaune, verblasst er daneben. Der K2 ist zweifellos der König. Mit Recht wird er der Berg der Berge genannt. Da oben zu stehen ist ein Traum, der allen Bergbesessenen den Pulsschlag in die Höhe treibt. Der Broad-Peak rechts davon wirkt demgegenüber bloss wie ein Geröllhaufen, der zufällig auch die Achttausendergrenze erreicht. Nun leuchten der Mitre-Peak, klein und formschön, der Gasherbrum IV, knapp unter 8000 m und deshalb uninteressant, in der Abendsonne auf. Selbst hier hinten scheinen Zahlen ihre Macht auszuüben.
Am nächsten Tag erreichen wir unser Basislager am Fusse des dem K2 vorgelagerten Angelus. Es tut gut, zu sein. Hier werden wir wohl eine Weile bleiben. Wir erstellen unsere Schlafzelte sowie ein Küchen- und ein Mann-schaftszelt. Unsere Basis ( ca. 5000 m ) befindet sich auf einer Mittelmoräne, die den Godwin-Austen- und Savoyer-Gletscher trennt.
Die Frage nach dem Sinn In den ersten beiden Wochen gelingt es uns, zweimal bis Hochlager Il in 6700 m vorzustossen. Ein Höhersteigen wird uns durch anhaltend schlechte Wetter- und Wandverhältnisse vereitelt. Endlich, am 4. Juni scheint die Wetterlage wieder zu Hoffnungen Anlass zu geben. Draussen kündigt sich ein jungfräulicher Tag an. Wir brechen vom Basislager auf, und etwa eine halbe Stunde später trifft die Sonne den Gipfel des K2. Sie tastet ihn vorsichtig ab. Der Berg beginnt zu leben. Ich spüre eine aufkommende Hoffnung in mir. Nur habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten, wie hoch unser Ziel über uns steht. Ich weiss bloss, dass wir unendlich hoch steigen müssen. Wie hoch? Mit dieser Frage werde ich wohl erst auf dem Gipfel wieder ins reine kommen.
Das Licht ist heute besonders klar. Wie an einem Spätherbsttag bei uns in den Alpen. Mein Gehrhythmus wird immer wieder durch die Betrachtung der umliegenden, mir bereits vertrauten Gegend unterbrochen. Nun beschenkt die Sonne auch die Bergketten, die im Westen unser Basislager einrahmen. Der Himmel scheint glasig, ohne jegliche Windfahne. Alles wirkt harmonisch, sich reimend. Die alles beherrschende Reinheit beschwingt meine Gedanken.
Blick zurück über den Baltorogletscher zum Paiju-Peak.
Schnell gewinnen wir den Fuss unseres Pfeilers. Marcel und ich klettern wie gewohnt rechts des Abruzzi-Grates die immer steiler werdende Schneeflanke hoch. Jeder geht sein Tempo, keiner lässt sich vom anderen treiben. Lager I hinter uns lassend, steigen wir direkt zu Camp II, wo wir gegen Mittag ankommen. Auch hier keine Hetze. Ich koche, denn wir müssen viel trinken, ist doch der Flüssigkeitsbedarf in diesen Höhen enorm. Das glühende Rot drüben am Broad-Peak erlischt gleich einem Blutfleck an einem wassergetränkten Fliesstuch. Das Abendrot entschwindet. Im Westen stirbt ein müder Tag. Hoch am Himmel schwimmen Sterne, und der Mond verkündet eine stille Nacht.
Am Morgen des 5. Juni mahnt uns die Sonne schon früh zum Aufstehen. Trotz meiner morgendlichen Unbeholfenheit setze ich unseren Kocher in Gang. Nur zaghaft beginnen seine Flammen zu wärmen. Beim Blick in die Sonne überfällt mich ein Hochgefühl. Wo man hinschaut, klare Sicht. Wir sind bereits hoch oben, und ich wage kaum zu hoffen, dass es uns schon diesmal gelingt, vom ersehnten Gipfel aus die Welt zu begrüssen. Es wäre zu schön! Wir packen unsere Rucksäcke und nehmen die für uns noch unbekannte Kletterei in Angriff. Das Steigen in dieser Höhe ist anstrengend. Die Steilheit der Wand zwingt mir einen unregelmässigen Rhythmus auf. Trotz allem fühle ich mich wohl, spüre Kraft in Beinen und Armen. Die schwarze Pyramide wäre ohne Fixseile wohl die schwierigste Passage am Abruzzi-Grat.
Aber auch mit den schon vorhandenen Seilen ist der Aufstieg ermüdend genug. Dazu macht die darüberliegende Seraczone einen unheimlichen Eindruck. Ein guter Platz für unser drittes Lager lässt sich ebenfalls noch nicht sehen. Es wird kalt. Ich ziehe mir die Sturmjacke über. In knietiefem Schnee, über lawinenschwangere Hänge erreichen wir müde schliesslich eine Stelle auf 7400 m, wo wir unseren Zeltplatz errichten.
Ein seltsam schöner Tag bricht an. Nur eines beunruhigt mich: die ungewöhnliche Wärme. Es dauert denn auch seine Zeit, bis unsere Rucksäcke voll gepackt und wir zum Weiteraufstieg bereit sind. Wie gestern versinken wir in das kraftraubende, mehlige Weiss. Nur an wenigen Orten können wir von härteren Stellen profitieren. Wir befinden uns nun unter dem letzten Steilhang in 7600 m Höhe, unmittelbar unter der Schulter, die hinauf zur Gipfelkante führt. Und jetzt verschlechtert sich das Wetter zusehends. Nebelfetzen huschen rasend an uns vorbei, riesigen Walfischflossen gleichend. Wir entscheiden schnell. Nichts wie runter, solange wir unserer Spur noch folgen können. Gedankenleer warten wir den Tag in Lager III ab.
7. Juni: Wir sind müde, das Wetter schlecht. Schon während der Nacht haben wir beschlossen, heute ins Basislager abzusteigen. Für einen Gipfelangriff ist uns die Kraft und jegliche Lust vergangen. Unter diesen Voraussetzungen interessiert mich der Gipfel überhaupt nicht mehr. Zum einen wird es weiter oben noch viel härter sein als hier; und zum andern möchte ich im Moment nur das Basislager erreichen, um dessen Bequemlichkeit zu geniessen.
Auch heute, am 10. Juni, versteckt sich der K2 immer noch hinter einem dichten Wolkenmantel. Hoffnungslos, an einen Versuch auch nur zu denken, selbst wenn ich mich wieder völlig bei Kräften fühle. Alles ist so trostlos und wie tot. Wenn ich nachdenke, frage ich mich ernsthaft: Was hast du armer Hund hier überhaupt zu suchen? Warum bist du nicht zu Hause, wo du alles hast? Meine Zurückgebliebenen würden mich eher brauchen als diese lieblose, kalte Umgebung. Die riesigen Stein-und Eishaufen, die auf uns herunterstarren, halten uns ohnehin bloss für Verrückte. Am Ende glaubst selbst du, verrückt zu sein. Keine Blume, kein Strauch erfreut dir hier das Leben. Zwischendurch kreisen Krähen. Auch sie machen den Anschein von Traurigkeit und scheinen nur auf unser Ende zu warten. Eine wahre Hölle für ein lebensfrohes Individuum. Nur grauer Nebel und Schneekörner, die fast waagrecht auf die Zeltplane prasseln.
Zum Gipfel Am 13. Juni sitzen wir bereits um 3 Uhr morgens zum Frühstück im Kochzelt. Wie immer trinke ich viel. Gulam, unser Koch, überreicht mir noch die Kekse, die er speziell für mich gebacken hat. Ein kontrollierender Blick in meinen Rucksack garantiert mir, nichts vergessen zu haben. Ich trete vors Zelt, schaue misstrauisch zum Himmel empor: Langgezogene Wolkenzirren beginnen sich auszubreiten. Pessimismus überkommt mich. Hat es überhaupt einen Sinn aufzubrechen? Trotz solcher Fragen machen wir uns auf den Weg.
Wir schleichen uns am Lager der Japaner, die gestern hier angekommen sind, vorbei und steigen entlang der immer schneeärmeren Moräne gletscherwärts. Mit einsetzender Dämmerung verliert der Himmel sein eintöniges Grau, beginnt farbig zu werden. Die Sonne berührt mit ihrem fahlen Licht die Spitze unseres Berges. Die dachförmige Chogolisa zeichnet sich jetzt nur noch undeutlich vom darüberliegenden Firmament ab. Alles erscheint rätselhaft, fast unheimlich. Ich bin in guter Form. Trotzdem sitzt irgendwo in mir eine lähmende Kraft, die mich zu bremsen versucht. Kaum wage ich daran zu glauben, dass es uns diesmal gelingen sollte, den Gipfel zu erreichen. Mein Motivationsbarometer droht plötzlich in ein Tief zu fallen. Lustlos steigen wir die uns wohlbekannte Strecke zum ersten Lager ( 6100 m ) empor.
Der 14. Juni erwacht. Die Täler sind mit Dunst erfüllt. Darüber brodeln dichte Wolken, Atompilzen gleichend. Wir rüsten uns für den Aufstieg zum Lager III. Ich verspüre keinen Druck, kein bestimmt meinen Weiterweg. Heute geht alles leichter. Unterhalb des grossen Turms beginnt es unvermittelt aus heiterem Himmel zu schneien. Fragend werfe ich Blicke rundum. Kein Ton deutet auf eine Lawine hin. Ich schaue runter zum Godwin-Austen-Gletscher. Erst jetzt erkenne ich, wie die todbringende Welle die Tiefe des Tales erreicht, sich hinüberdrückt zur Broad-Peak-Wand und an deren Flanke bis zur Hälfte hochsteigt. Dort wird die Staubwolke in Richtung Basislager abgeleitet, wo sie dann allmählich zum Stillstand kommt. Auch Marcel, der über mir in den Trittleitern klettert, ist überwältigt von der Wucht dieser Riesenlawine. ( Vielleicht kommt die vom Gipfelsérac>, womit wir im obersten Teil sicherlich weit bessere Verhältnisse antreffen würden.
Wir durchklettern den House-Kamin. Darüber tobt der Sturm. Nach dreieinhalb Stunden kommen wir im Lager an, wo zuerst das Zelt in Ordnung gebracht werden muss. In dieser Behausung, deren Boden nicht mehr Platz einnimmt als mein Bett daheim, sitzen wir eine Zeitlang und ordnen unsere Sachen. Es ist verdammt eng, aber trotzdem gemütlich. Sogar eine gewisse Geborgenheit stellt sich ein, was vorwiegend unserer guten Freundschaft zu verdanken ist. Es herrscht keine Hektik. Abwechslungsweise kochen wir Getränke, um die dringend notwendige Flüs- V L bei am gewaltigen Mustagh-Tower.
sigkeitszufuhr zu gewährleisten. Zwischendurch dösen und schlafen wir kurz ein, während der Wind unser Zelt beutelt.
Der 15. Juni ist angebrochen. Ich öffne den Eingang und beuge mich hinaus. Alles grau. Selbst der benachbarte Broad-Peak bleibt von den Wolken verborgen. Alles deutet auf ( schlecht ), so dass wir beschliessen, den heutigen Tag abzuwarten, um nicht weitere Körperkraft zu verschwenden. Ich konzentriere mich nicht auf die Gefahren und die Anstrengungen, die noch auf uns warten; auch nicht auf die unermessliche Entfernung, die uns von den Menschen trennt. Ich bin nur da und träume vor mich hin. Im Zelt der surrende Kocher; Marcel, der sich im Schlafsack herum-dreht. Diese enge Gemütlichkeit - und dann wieder beim Hinausschauen diese schier endlose Tiefe, die sich im milchigen Weiss des Nebels verliert und somit noch grausamer erscheint.
16. Juni: Als wir aufstehen, riecht es geradezu nach Schlechtwetter. Ungewissheit schleicht sich ein. Dennoch treffen wir unsere Vorbereitungen. Das bekannte Zeremoniell. Wir kommen zu den ersten Fixseilen. Es gilt aufzupassen, denn Steinschlag und Verwitterung haben ihnen stellenweise stark zugesetzt. Immerhin bereitet uns die Kletterei wenig Mühe, sind wir doch jetzt gut akklimatisiert. Die erstaunlicherweise stabil bleibende Wetterlage verleiht uns wieder Zuversicht. Es ist relativ windstill und die Temperatur erträglich. Nach etwa vier Stunden Aufstieg erklimme ich die letzte steile Eismauer, worauf das anstrengende Schneestapfen zum Lager-Mi ansetzt. Dort angelangt, zeigt uns einzig noch die oberste Spitze der Schneeschaufel den Ort, wo unser Zelt tief im Schnee begraben liegt. Dieses in solcher Höhe auszuschaufeln, ist härteste Knochenarbeit. Wenig später liegen wir im schützenden Zelt und erholen uns für den morgigen Aufstieg.
Obschon wir heute ( 17. Juni ) eigentlich viel früher losmarschieren wollten, sind wir erst um 7.30 Uhr startbereit. Wir lassen unser Zelt zurück. Für unser Sturmlager haben wir noch ein weiteres Zelt dabei. Ein Blick in die Ferne zeigt uns, dass vom ausgedehnten Karako-rum-Massiv nur die höchsten Bergspitzen sich über einer scharf begrenzten Wolkenschicht abheben. Bald aber nehmen die schwierigen Verhältnisse wieder alle unsere Sinne in Anspruch. Der sich vor uns aufsteilende Hang scheint endlos. Die Schneeschicht ist ungleichmässig. Man weiss nie, ob sie hält oder plötzlich nachgibt. Wir wechseln uns in der Spurarbeit ab. Jedesmal, wenn die Schneedecke durchbricht, verliert man das Gleichgewicht und viel Kraft dazu. Nach kurzer Zeit gelangen wir an den stumpfen Grat, der Süd-und Ostwand trennt, und somit zum Punkt, wo wir beim letzten Versuch die Flucht ins Basislager ergriffen haben. Nur mit Hilfe der Schneeschaufel gelingt uns die Überwindung eines breiten Bergschrundes, was uns wenigstens erlaubt, zur Gratkante der Schulter zu klettern. Dann aber erweist sich die darüber ansetzende Schneewand als sehr gefährlich. Ich spüre, wie sich die Frontzacken meiner Steigeisen ins spiegelnde Blankeis verheissen, während ich mit den Händen abwechselnd den Eispickel bediene, um nicht rückwärts in die weisse Ewigkeit zu verschwinden. Mit der jeweils freien Hand wühle ich die pulvrige Neuschneeauflage weg. Jetzt übernimmt Marcel die Führung über die letzten, sanft ansteigenden Hänge zur Schulter. Wieder schleichen Nebelfetzen heran. Der Anblick der Gipfelkalotte überrascht und überwältigt uns. Ich glaube, der K2 ist nicht nur ein Berg. Ich fürchte, er setzt sich aus Bergen auf Bergen zu seiner einmaligen Einheit zusammen. Die beängstigende Weite der sich emporschwingenden Schneefläche macht mich unruhig: zwischen uns und dem Gipfel scheint noch eine Ewigkeit zu liegen. Aber wir wissen beide, dass nur diese Ewigkeit uns erlaubt, zum höchsten Punkt aufzusteigen. Zumindest wollen wir noch den Lagerplatz erreichen, wo vor sechs Jahren auch Michel und Reinhold biwakierten. Jetzt erhalten wir auch unsere Vermutung bestätigt, dass die Riesenlawine vor drei Tagen tatsächlich vom Gipfelsérac losgebrochen ist. Der gesamte Lawinenzug ist mit Eistrümmern übersät. In etwa 8000 m Meereshöhe errichten wir das Zelt, das für uns gleichzeitig eine Rettungsinsel auf einem der schrecklichsten Plätze dieser Erde darstellt.
Starker Wind.40°C, des normalen Luftdruckes - so lauten die technischen Daten. Die Luft ist dermassen dünn, dass jede Bewegung atemlos macht. Die Kälte, die durch den Wind noch verstärkt wird, lähmt alles; den Willen und den Blutkreislauf. Zudem fühle ich mich einsam in dieser sauerstoffarmen Eiswüste. Ich rechne mir für morgen nicht allzu viele Chancen aus. Für mich eine seltsame Erschei- nung, denn sonst war ich vor dem Gipfeltag stets voller Optimismus, platzte fast vor Verlangen, den obersten Punkt zu betreten. Aber jetzt; ich weiss nicht genau, welcher dunkle Fleck meine Gefühle zu überschatten versucht. Heimweh? Liebeskummer? Vielleicht sind es eben diese beiden Aspekte, die mir die Kraft verleihen werden, mich morgen an diesem Schneehaufen abzumühen. Morgen soll es also soweit sein. Wir haben jetzt schon alles angezogen: Wärmeunterwäsche, Hemd, Pullover, Sturmanzug, sogar die Doppelschuhe mit den Neopren-Übergamaschen kommen mit ins Bett. Es dauert lange, bis meine Füsse Wärme verspüren.
Noch liegt eine ganze Nacht vor uns, eine Nacht in der Todeszone. Genau diese Nächte sind es, die mir Angst einflössen wie einem Kind der dunkle Keller. Meine Stimmung ist von Bedenken getrübt, die sich mit zunehmender Nachtschwärze zu Angst verdichten. Es ist der von tausend Zweifeln genährte Bereich, der mich im Halbschlaf umklammert, quält, beunruhigt. Kochen ist hier oben eine langwierige Angelegenheit. Das Bewusstsein, dass wir trinken sollten, schreckt mich auf. Aber selbst dazu müssen wir uns zwingen. An Essen ist schon gar nicht mehr zu denken. Mein Magen ist von der Anstrengung geschrumpft, so dass mir jeder Bissen zuwider ist. Wir liegen nur da, stöhnen, warten - als ob wir nicht wüssten, worauf.
18. Juni: Der stark auffrischende Westwind weckt uns. Wir wollten bei Sonnenaufgang aufbrechen, doch der Sturm blockiert uns in der schützenden Behausung. In mir droht der letzte Hoffnungsschimmer zu zerbrechen. Trotzdem, wahrscheinlich mehr instinktiv, bereiten wir uns für den Gipfel vor. Jede Bewegung ist doppelt anstrengend. Unser Atem hat sich während der Nacht innen am Zelt niedergeschlagen, sich in Rauhreif verwandelt und rieselt nun bei jeder Berührung in kristalliner Form auf unsere Gesichter herab. Nur das Allernotwendigste packen wir in unsere Rucksäcke: Eine ungefähr 50 m lange Reepschnur zur Absicherung des Flaschenhalses, drei Ti-tan-Eisschrauben, die Schneeschaufel und die kleine Trinkflasche, basta. Wir sind heute abend ja wieder da. Der Wind hat sich beruhigt. Erst gegen 8 Uhr setzen wir zum Aufstieg an.
Marcel spurt wie ein Pistenbully, einen tiefen Graben hinter sich lassend. Die Wand wird steiler. Am Beginn des Flaschenhalses habe ich zu Marcel aufgeschlossen. Die Durchsteigung ist kein Kinderspiel. Blankes Eis glänzt zwischen den spärlichen Handgriffen. Vor- sichtig, zwei Schritte - schnaufen - zwei Schritte - schnaufen, durchklettern wir mit äusserster Kraftanstrengung diese Schlüsselstelle in 8300 m Höhe. Danach folgt eine Traverse nach links unter der etwa 100 m hohen, überhängenden Séracwand, die einen jederzeit ins Jenseits befördern könnte. Das Eis ist marmorhart. Die Steigeisen greifen kaum. Da brauchst du Gottvertrauen. Darfst in keiner Sekunde an die verheerenden Konsequenzen denken, die bei einem möglichen Eisabbruch zu erwarten sind. Die harten Wandverhältnisse kosten übermässig viel Zeit. Nach diesem nervenaufreibenden Stück bewegen wir uns in einem Hang mit grundlosem Schnee -dem Ergebnis der steten Westwindschneeab-lagerungen, die in diesem Jahr besonders ausgeprägt in Erscheinung treten. Dabei verspüre ich eine aufkommende Angst, angesichts der Vorstellung, plötzlich mit der ganzen haltlosen Masse runter zum 3500 m tieferen Godwin-Austen-Gletscher zu sausen. Ich komme mir wie ein Schiffbrüchiger vor, dessen Boot im Sumpf einen Totalschaden erlitt und sich nun im tiefen Schlamm der rettenden Insel entgegenkämpfen muss. Aber wo ist für uns beide schon die Rettung zu erwarten? Das Geheimnis liegt in den Worten:
Ungeheuer langsam verläuft die Zeit bis zur Morgendämmerung. Im Halbschlaf haben wir uns gegen den Erfrierungstod gewehrt. Da wir heute die lebenswichtige Kocherei ohnehin vergessen können und alle wärmespendenden Sachen schon an uns kleben, sind wir bald bereit, den Gipfelhang anzugreifen. Wir besitzen keinen Höhenmesser, aber schätzungsweise fehlen uns noch gute 250 Meter, über die wir uns werden hochwühlen,keuchen und -quä-len müssen. Aber noch ist nicht klar, ob Norbert Joos der erste Schweizer sein wird, der den schwierigsten Achttausender und zweithöchsten Berg der Erde betritt. Das ist für mich die Frage, die mich bedrückt, und bei Marcel ist es die Marcel-Version.
Marcel spurt voraus. Ohne grosse Entschlusskraft verharre ich noch einen kurzen Moment im Schneeiglu. Dann folge ich meinem Freund. Emotionslos, einen Fuss vor den andern setzend, schnaufen - gehen. Ich versuche, möglichst wenig nach oben zu blicken, denn manchmal ist es besser, nicht zu wissen, wie hoch man zu steigen hat. Die Sonne begleitet uns mit ihren wärmespendenden Strahlen, doch ist sie zugleich von einem frostigen Hof feiner, aufgewirbelter Schneekristalle umgeben. Über dem K2 ist der Himmel so schwarz, dass unwillkürlich der Eindruck drohender Finsternis entsteht. Meine Gedanken eilen voraus, gipfelwärts. Heute ist der Tag und bald wird es die Stunde, Minute und Sekunde sein, die uns erlaubt, den Brennpunkt all unserer Sehnsüchte zu erreichen. Es ist 10 Uhr vormittags. Marcel entschwindet meinem Blick hinter der Gipfelkante. Wenig später bin auch ich am Ziel meiner Wünsche. Direkt unter dem Himmel, zwischen Himmel und Erde. Wir sind oben. Ja, wirklich oben. Wir fallen uns um den Hals. ( Du bist ein lieber Kerl ), tönt es aus Marcels eisverkrustetem Gesicht. Freudentränen bilden sich in meinen Augenwinkeln. Ich bin glücklich, weil der Gipfel das Ende des qualvollen Steigens bedeutet. Eine tiefe Dankbarkeit, dass wir nicht mehr höher zu steigen brauchen, breitet sich in mir aus. Ich kann es noch gar nicht fassen. Wir fühlen uns okay... aber am Ende unserer Kraft, ohne Halluzinationen, ohne Gefühlsaus-brüche. Mein Wissen sagt mir: Wir stehen auf dem zweithöchsten Punkt unserer Erde, auf dem schwierigsten aller Achttausender. Wir schiessen Gipfelphotos: Wir, die Gipfelsieger. Wir, die Helden. Langsam kommen mir die Kälte, die unsichere Wetterlage und meine Erschöpfung zum Bewusstsein. Aber jetzt, hier oben, empfinde ich meine Müdigkeit als Ruhe in mir. Als eine Ruhe, die in Stärke und Selbstvertrauen eingehüllt ist; trotz aller Zweifel während des Aufstiegs. Wenn ich jetzt nicht auf dem Gipfel wäre, würde ich zerfallen -wie ein Berg zu einem erbärmlichen Geröllhaufen. Die Rundsicht ist nicht überwältigend. Nebel umgibt uns. Nur gegen Norden und Osten lässt uns ein Wolkenloch das Hochland von Sinkiang erkennen. Trotzdem bin ich erstaunt, in welcher Tiefe sich die Berge und Täler da unten präsentieren.
Mit langen Schritten steigen wir nach einem etwa halbstündigen Gipfelaufenthalt über unsere tiefgetretene Spur ab. Wieder der Welt entgegen, aus der wir ausgebrochen sind. Auch aus der Welt, die mich voller Sehnsucht erfüllt. Nach diesen Strapazen hat man nur noch den Wunsch, nach unten zu kommen. Unten will man wieder auf einem Weg gehen, unter Menschen sein, wieder in einer Stadt, dann zu Hause, und schliesslich möchte ich wieder bei meiner Freundin weilen. Das ist zwar der erste Wunsch, aber zugleich der letzte, der in Erfüllung geht. Bald stehen wir vor unserer Biwakhöhle. Marcel hat schon alles rausgeholt. Dann schultern wir unsere Rucksäcke und wühlen uns dem lawinengefährlichen Schneefeld zum Einstieg des Flaschenhalses entgegen. Abseilend lassen wir den schwierigen Engpass über uns. Das Seil bleibt im Couloir hängen. Für uns ist es nun wertlos geworden. Anders für unsere fünf Freunde im Basislager, die den hier belassenen Strick sicher noch zu schätzen wissen -falls sie überhaupt je bis hierher kommen. Wenig später erreichen wir unser silberfarbe-nes Biwakzelt. Wir sind zu müde, um weiter abzusteigen. Mein Interesse gilt nur noch dem Schlafsack. Alles andere scheint ohne jegliche Bedeutung.
Der Rückschlag 20. Juni: Es ist trostlos. Schwarze Wolken, aus denen heftige Schneeschauer niederprasseln, hüllen uns ein. Ohne uns etwas Warmes zu bereiten, stürzen wir uns ins Grau. Das Zelt, die Schlafmatten und der Kocher bleiben hier. Wir gehen dicht aufgeschlossen, damit wir uns nicht gegenseitig verlieren. Der Nebel wird immer dichter, und obwohl ich beim Aufstieg glaubte, mir den Weg gut eingeprägt zu haben, fällt es sehr schwer, sich hier zu orientieren. Gleich hinter der Südschulter bricht die Wand steil zum Platz von Hochlager III ab. Durch den Wind treten stellenweise harte Blankeisfelder hervor. Knirschend greifen die Steigeisenzacken. Diese Passagen kosten viel Konzentration, denn unsere Erschöpfung nach diesen drei Tagen in über 8000 m Meereshöhe, ohne künstlichen Sauerstoff, ohne Essen und mit nur ungenügender Flüssigkeitsaufnahme, haben uns sichtlich gefordert. Vorbei an Lager IM hangeln wir uns hinab zum Lager II. Als wir unten ankommen, wütet der Sturm mit voller Kraft. Wir verkriechen uns ins Zelt. Drinnen ist es wesentlich angenehmer. Der Schlafsack spendet sofort wohlige Wärme. Nur meine Füsse sind noch beängstigend kalt. Schmerz schleicht sich ein. Ich ahne Schlimmes; muss ich mich doch langsam mit dem Gedanken befassen, Erfrierungen eingefangen zu haben. Wie stark sind wohl meine Füsse betroffen? Daran wage ich jetzt noch nicht zu denken und getraue mich deshalb auch nicht, meine Innenschuhe und Strümpfe auszuziehen. Zudem verspüre ich einen stechenden Schmerz in den Augen. Während des heutigen Abstiegs war das Wetter dermassen schlecht, dass ich stellenweise die Gletscherbrille abnehmen musste. Bald sehe ich nur noch Umrisse; alles wirkt wie verschleiert, wie hinter einer Dunstschicht. Glücklicherweise hat Marcel ein Tüb-chen Augensalbe bei sich, aber er fürchtet, dass ich morgen nicht mehr fähig sein werde, den schwierigen Weiterweg zum Wandfuss fortzusetzen. Ich bin zuversichtlich und versuche alle meine Leiden und Schmerzen zu verdrängen. Beim Aufwachen am 21. Juni erschrecke ich vor mir selbst. Meine Sehkraft ist sehr beschränkt, alles ( verschwimmt ). Ich wirke apathisch und muss mich geradezu zwingen, meinem Willen Folge zu leisten. Ich Im Hochlager III in 7400 Meter. Links unser Nachbar, der 8048 Meter hohe Broad-Peak, in der Mitte die dachförmige Chogolisa.
weiss jedoch, dass ich hinunter muss, wenn ich je wieder ins Leben zurück will. Mühsamen Schrittes begeben wir uns wieder in die wütende Welt ausserhalb unseres Zeltes. Marcel geht voraus. Er hat mir versprochen, von Zeit zu Zeit auf mich zu warten. Damit bietet er mir wenigstens menschliche Unterstützung. Ich kenne die Kletterstrecke gut, was mir jetzt gewaltig hilft. Um 9 Uhr kommen wir im Lager I an.
Auch Lory, Pierre, Nicole, Jacques und Jean sind hier. Wir umarmen sie. Ich bin so gerührt, dass ich weinen muss. Wir wechseln nur wenige Worte, aber diese Begegnung hat für mich ihren bleibenden Wert. Jacques kocht uns Tee. Er will uns beim Abstieg Hilfe leisten. Die anderen möchten ihr Glück nochmals versuchen und dies nach all dem Schwachsinn in der vernichtenden Südwand.
Zu dritt setzen wir den Abstieg fort. Am Pfeilerfuss erwarten uns Mitglieder der japanischen Expedition, die mittlerweile ihr Basislager hier oben errichtet hat, mit Tee. Alle gratulieren uns herzlich zum Gipfelerfolg und schiessen ununterbrochen Bilder, wohl um später die zahlreichen japanischen Bergstei-germagazine mit neuem Material versorgen zu können.
Es wird warm, und mit der Wärme nehmen meine Schmerzen zu und rufen mir meine erfrorenen Füsse in Erinnerung. Vorsichtig setzen wir unseren Marsch über die Moräne hinab und den nachfolgenden langen Gletscher fort. Die Schmerzen in den auftauenden Füssen werden immer unerträglicher. Marcel und Jacques sind schon weit voraus. Mit Hilfe der Skistöcke kann ich mich wenigstens bis zu den trockenen Geröllplatten am Beginn der Mittelmoräne unweit des Basislagers und damit sozusagen ans rettende Ufer schleppen. Hier muss ich warten, bis mir jemand zu Hilfe eilt. Wenig später ist Jacques da. Er holt raschmöglichst Helfer und einen Doktor. Endlich finde ich nun Zeit, den Stand meiner Erfrierungen zu prüfen. Also entledige ich mich meiner Schuhe, darauf der Strümpfe. Der Schreck überfällt mich, dann das Bewusstsein, dass der ganze Rest des noch jungen Bergsteigerjahres ins Wasser fällt. Ich kann nicht weinen, kann nicht traurig sein, denn schliesslich war ich auf dem K2. Damit habe ich mir einen langjährigen Wunschtraum erfüllt. Meine Freude ist überlegener als der Schmerz und alle Leiden, die mich nun einige Zeit wie ein Schatten begleiten werden. In einer guten Stunde sind Stéphane, Daniel und Jean-François bei mir. Sie sind Teilnehmer einer Kleinexpedition, die ebenfalls den Berg über unsere Route angreifen wollen. Eine seltsame Begegnung, denn wir haben einander noch nie gesehen, höchstens mal was gehört oder gelesen. Sofort Freundlichkeit, Vertrauen und Dankbarkeit. Auch Gulam und Zia sind herbeigeeilt. Im Huckepack transportieren sie mich abwechselnd bis zum Basislager. Jean-François verliert keine Zeit. Gleich beginnen die ersten Behandlungsmassnahmen. Nach der Fusswäsche erhalte ich Spritzen. Die Schmerzen steigern sich in der Wärme des Zeltes ins Unerträgliche. Ich glaube durch Feuer zu gehen und beginne, vom Schmerz überwältigt, zu phantasieren. Weinen ist mein einziges tröstliches Gegenmittel. Jean-Fran-çois injiziert mir zusätzlich Fortalgesik, das schmerzlindernde Wirkstoffe enthält. Nur zögernd verlässt mich die schlimmste Schmerz-welle. Ich bin überglücklich, dass Jean-Fran-çois mich fachgerecht behandelt. Gegen Abend hat sich die Situation so weit beruhigt, dass sich mein Zustand ertragen lässt.
Die folgenden drei Tage sind erfüllt von unheimlichen Schmerzen und dem Warten auf unsere Retter. Erst am 25. Juni können wir durch zwei pakistanische Armeehelikopter nach Skardu ausgeflogen werden, und nochmals zwei Tage später fliegen wir nach Islamabad, das wir schon am gleichen Abend mit einer Linienflugmaschine verlassen. Am Abend des 28. Juni werde ich im Bündner Kantonsspital in Chur eingeliefert, wo der langandauernde Heilungsprozess beginnt.