Himalaya 1936 (Nachtrag)
Von Marcel Kurz. Nachtrag.
Die Gurla Mandhata 7730 m, die 1905 durch Longstaff und die Brocherel versucht wurde ( « Die Alpen i, 1933, 363 ), scheint bis zum Frühling 1936 keine andere Karawane angezogen zu haben. Erst letztes Jahr erzählten die Zeitungen von den Abenteuern Herbert Tichys, eines jungen Studenten der Geologie von der Wiener Universität. Seine Erlebnisse sind in Buchform erschienen, ein Werk, das wir besonders empfehlen möchten 1 ).
Mit Motorrad reiste er nach Indien, wo er den ganzen Winter 1935/36 verbrachte. Dort gab er sogar Skistunden! In Darjiling lernte er Kitar kennen, der bei dem Nanga Parbat-Unglück 1934 davongekommen war, und überredete ihn, als Führer mitzuwirken. Noch zwei andere Einheimische kamen mit, aber Kitar scheint die Hauptrolle gespielt zu haben 2 ). Da Fremde in Tibet ohne Bewilligung nicht einreisen dürfen und da diese Bewilligungen schwierig zu bekommen sind, wurde List angewendet: Der blonde Wiener liess seinen Bart wachsen, schminkte sich und verkleidete sich als Pilger.
Einmal in Taklakot ( Tibet ) angekommen, brauchte man für die Weiterfahrt nach Darchen und für die berühmte « Perikarma » um den Kailas einen Extrapass. Tichy spielte den Kranken, legte sich mit Fieber ins Bett, und seine Gefährten holten ihm die Bewilligung, ohne dass er sich selber vorstellen musste. Tags darauf wurde der Marsch fortgesetzt. Als Tichy die Gurla Mandhata erblickte, ganz allein und strahlend im Morgenlicht, mit ihren leuchtenden Schneegraten gen Himmel ragend, wurde er unwiderstehlich angezogen ( siehe die schöne Photo in Heim und Gansser: « Thron der Götter », Abbildung 82 ).
Einige Tage später ( im Mai ), mit Kitar allein, versuchte er den Aufstieg auf der Longstaffroute, aber das Wetter war ungünstig, und der Erfolg wurde nicht grösser als 1905. Bei 7200 m mussten sie vor dem Neuschnee umkehren. Übrigens hatten sie nichts mehr zu essen, und als sie beim Kloster Proviant für einen zweiten Versuch holen wollten, wurden die Mönche feindselig. Besser war es, darauf nicht zu bestehen. Der Gipfel ist bekanntlich heilig und soll grosse Schätze enthalten. Die Karawane setzte die Pilgerfahrt nach Norden fort, ihrem eigentlichen Ziele entgegen, dem Kailas 6713 m oder Kang Rimpotschekostbarer Schnee ), wie die Tibetaner ihn heissen. Dieser wurde nicht bestiegen, sondern wie gewöhnlich umschritten ( Perikarma ), ungefähr zu gleicher Zeit wie unser Landsmann Gansser ( auch Geologe ), welcher anscheinend von der gleichen Wanderlust beseelt ist wie Tichy.
Nanda Kot 6865 m.
Im Oktober 1936, kurz nach der Eroberung der Nanda Devi, wurde der Gipfel des Nanda Kot bezwungen, und zwar durch eine japanische Expedition, die erste, die sich in den Himalaya vorwagte. Dieser Erfolg ist also der ohnehin schon sehr fruchtbaren 1936er Kampagne beizufügen. In unserer Statistik ( iDie Alpen », 1937, 477 ) ist er erwähnt, aber der englische Bericht erschien erst dieses Jahr im .Himalayan Journal » ).
Die Expedition bestand aus vier Mitgliedern des Mountaineering Club der Rikkyo Universität ( Hamano, Hotta, Yamagata, Yusa ) sowie dem berühmten Skifahrer Takebushi, der Japan bei den letzten olympischen Spielen vertreten hatte. Diese fünf jungen Leute kannten kein anderes Gebirge als das ihrer Heimat, wo sie immerhin schon beträchtliche Kälte ertragen hatten. Durch methodisches Training hofften sie, sich den grossen Höhen anzupassen. Als Nahrung kam vor allem japanischer Reis zur Geltung. Die Verwendung von Hindu-Kulis war ihnen fremd, aber Yamagata reiste voraus, um einige Tiger und den Sardar Nursang in Darjiling zu verpflichten.
Tokio am 10. Juli 1936 verlassend, waren sie gegen Mitte August in Almora und am 30. in Martoli 3375 m im Gorital, am NE-Fuss des Nanda Kot ( siehe die obere orographische Skizze in « Die Alpen », 1936, 10 ). Wie schon gesagt ( « Die Alpen », 1933, 363 ), wurde der Nanda Kot durch Longstaff 1905 versucht. Damals kam er bis ca. 6400 m über die Nordflanke und den Gipfelgrat, was sich als die beste Route erweisen sollte. Gestützt auf diese Erfahrung suchten die Japaner keine andere Lösung. Von Marioli aus gingen sie das Lwanl-Tälchen hinan bis Narspan Patti 4025 m, wo sie zuerst beabsichtigten, ihr Basislager aufzuschlagen, aber dieses wäre etwas zu weit weg gewesen. Deshalb stiegen sie weiter südwestlich dem Gletscher zu, der vom Nanda Kot herunterkommt, und dort wurde bei 4570 m Höhe in einer geschützten Mulde das Hauptlager eingerichtet.
Die 50 Almoraträger entlassend, behielten sie nur ein Dutzend Kulis sowie die Sherpas von Darjiling. Bis dahin war das Wetter sehr regnerisch gewesen. Bei einer Aufheiterung erblickten sie zum ersten Male ihren Berg, der auf dieser Seite lauter Schnee- und Eishänge bietet. Vom Gipfel aus senkt sich ein mächtiger Grat gegen NE, Richtung Martoli. Von diesem Grate aus ( ca. 1500 m vom Gipfel weg ) zweigt gegen NNW eine Art Rippe ab, die die ausgewählte Route vorzeichnet und ermöglicht, den Gipfelgrat zu erreichen, und zwar dort, wo er einen Sattel bildet. Im unteren Teil der Rippe wurden Spuren des Lagers Longstaffs gefunden, sogar seines Feuers, das ihn vor 31 Jahren erwärmt hatte. Wenig oberhalb dieser Stelle richteten sie ihre vorgeschobene Basis ein ( Lager I ). Bis jetzt hatten sie an der Luftverdünnung ziemlich gelitten, aber dank dem fortwährenden Pendelverkehr konnten sie sich schliesslich daran gewöhnen. Der Rippe folgend, wurden die Lager immer höher geschoben. Mehrmals wurde die Karawane durch schlechtes Wetter angehalten und gezwungen, wieder zur Basis zurückzukehren, um bessere Verhältnisse abzuwarten.
Ein von Martoli mit frischem Proviant heraufkommender Träger brachte eines Tages die erfreuliche Nachricht der Eroberung der Nanda Devi durch Tilman. Ohne von der japanischen Expedition zu ahnen, war dieser ganz nahe vorbeigegangen ( über den Longstaff Col 5913 m ).
Am 14. September schien der Monsun vorüber, und der Angriff konnte nun losgehen. Mehrere Tage blieb das Wetter sehr schön, aber äusserst kalt — was im Himalaya wie im Winter in unseren Alpen meist vereint ist. Hamano und Hotta gingen mit Ang Tsering voraus. Der obere Teil der Rippe weist transversale Seracsbänke auf zwischen Gletscherterrassen, was viel Arbeit erheischte. Die Lasten mussten dort mit Seilen aufgehisst werden. Am schwierigsten war die obere Seracs-stufe mit einem Eiscouloir, durch einen 60 m hohen Turm überragt, der einhundert Meter unter dem Hauptgrat stand. Nach drei anstrengenden Tagen, Zoll um Zoll, wurde dieses Hindernis mittels Eishaken und eines fixen Seiles umgangen.
Am 25. September endlich war der Sattel im NE-Grat erreicht und das Lager IV dort bezogen. Es sah aus, als ob die Schwierigkeiten nun vorbei wären, aber ein fürchterlicher Wind verbannte bald die Tapferen in ihre Zelte. Zwischen dem Lagersattel und dem Gipfel ist der Grat zuerst leicht gangbar, dann schmal und vergwächtet. Weiter oben bildet er eine Schneekuppe, die mit. dem höchsten Punkt durch einen steilen, gegen Norden schroff abfallenden First verbunden ist.
Am 30. September kamen die Japaner über die Schneekuppe, aber die Kälte und der Schneesturm trieben sie wieder zurück, als sie kaum 150 m vom Ziel standen. In zwei Stunden kehrten sie ins Lager IV und von dort zur Basis zurück, wo sie sich dann von ihren Strapazen gründlich erholen und neue Kräfte sammeln konnten.
Am 5. Oktober endlich wurde beschlossen, die letzte Karte auszuspielen und den endgültigen Angriff zu machen. In ihren Taschen nahmen sie bloss gedörrtes Obst, Schokolade und Zuckersachen mit, sowie heissen Tee in ihren Thermos. Bei windigem, aber klarem Wetter verliessen sie Lager IV um 7.30 und gewannen die Kuppe ( 6540 ca. ) in zwei Stunden. Der Wind liess allmählich nach. Um 11.30 packten sie den Gipfelgrat an. Dieser soll schwierig sein, denn erst um 14.55 wurde der Gipfel erreicht. Dort steckten sie siegreich ihre Nationalfahne in den Schnee und vergruben die zu diesem Zwecke vorbereiteten Dokumente * ).
Um 17.30 kehrten sie zum Lager IV zurück, wo der Sieg durch einen mächtigen Reis-moc/ii ( ihre volkstümliche Feinschmeckerei ) fröhlich gefeiert wurde. Der Abstieg zur Basis vollzog sich ohne Zwischenfall. Von dort aus überschritt ein Teil der Karawane den Traill's Pass. Am 17. Oktober, stolz auf ihren Erfolg, kehrte die ganze Expedition in Almora wieder ein. Dieser Sieg beweist wieder einmal, dass die Berge ebensosehr durch den Geist wie durch Muskeln erobert werden und dass eiserner Wille manchmal wertvoller ist als viel Gold. Die Japaner waren weise genug, ein bescheidenes Ziel auszuwählen, ihre ganze Energie darauf zu konzentrieren und sofort zu treffen. Well donel What next?
l ) Laut Himatayan Journal, 1938, 190, begleitete Ang Teering II die Karawane und erreichte den Gipfel mit ihr.
Corrigenda.
Januarheft Seite 1, zweitletzte Zeile: tAlpintsmet statt « Alpinismus ». Seite 6, zweitletzter Abschnitt: tDongkia La » statt Dong Kia La.