Gosainkund - eine kleine Bergtour in Nepal
Thomas Gartmann, Bassersdorf
Es lag noch Schnee in Zürich, als René und ich, hochbeladen wie zwei schwankende Kamele, nach Indien abreisten. Beim Zusammenstellen unserer Ausrüstung hatten wir vor allem an die Hitze in Indien gedacht, die im März schon recht beträchtlich ist. Zuunterst in unseren Rucksäcken steckten aber wollene Handschuhe, Bergschuhe, eine Windjacke und eine warme Kappe. Wir bemühten uns zwar, möglichst wenig Gepäck mitzunehmen, denn alles musste in unseren Rucksäcken Platz haben; aber man konnte nie wissen: vielleicht würde doch unser alter Wunsch, im Himalaya einen Berg zu besteigen, in Erfüllung gehen. Was im Rucksack nicht mehr Platz fand, musste aufgeschnallt werden. Also kam es, dass wir schliesslich ziemlich unförmige Ungetüme auf dem Rücken trugen.
So reisten wir durch Nordindien, bis wir anfangs April in Kathmandu ankamen. Da wir die letzte Etappe von New Delhi nach Kathmandu geflogen waren, traten die Unterschiede zwischen der grossen nordindischen Tiefebene und dem Tal von Kathmandu besonders deutlich in Erscheinung: Auf der weiten, von braunen Bergkuppen gesäumten Hochfläche herrschte angenehm warmes Frühlingswetter, im Gegensatz zur beinahe unerträglichen Hitze in Indien. Vieles weist darauf hin, dass es in Kathmandu sogar recht kalt werden kann: Die vielen kleinen Läden, die man in jeder orientalischen Stadt antrifft, befinden sich alle tief in festgemauerten, un-verputzten Backsteinhäusern. Vom Privatleben der Leute sieht der Aussenstehende viel weniger als in Indien, wo sich fast alles, von der Geburt bis zum Tod, auf der Strasse abspielt und der Reisende oft Zeuge von sehr eindrücklichen Szenen wird. Entsprechend ist auch das Verhalten der einzelnen Menschen: In Kathmandu haben wir es oft erlebt, dass ein Einheimischer, den wir nach dem Weg fragten, achselzuckend weiterging, während viele Inder sich sehr für uns Ausländer interessierten und manchmal fast allzu anhänglich und hilfsbereit waren. Und doch gehören Indien und Nepal dem gleichen Kulturkreis an: Auch in Kathmandu tummeln sich die heiligen Kühe der Hindu-Religion, unbekümmert um klingelnde Velo-Rikschas und hupende Autos, in der Jahrtausende alten Gewissheit, dass ihnen durch Menschen kein Leid geschehen kann; nur sind es hier dunkler gefärbte, besser ernährte Tiere mit dichterem Fell. In vielen Tempeln werden Hindu-Gottheiten verehrt, doch ihre mehrstufigen Pagodendächer verraten Einfluss von jenseits des Himalaya: aus Tibet und China. Noch etwas anderes kommt aus China: Haschisch. Überall in der Stadt wird er von Händlern feilgeboten. Er lockt Hippies in Scharen nach Kathmandu. Das nepalesische Gastgewerbe hat sich den neuen Anforderungen angepasst: Neben den Erstklasshotels, wo die geführten Reisegesellschaften absteigen, gibt es eine ganze Reihe billiger Herbergen, wo man schon für 7 Rupees ( 2.80 Franken ) ein Doppelzimmer erhält. Die Juna Lodge, wo René und ich logierten, gehört in diese Kategorie. Die Betten sind dort zwar etwas spartanisch und die Zimmer dunkle Höhlen; die halbe Nacht tönt Beatmusik aus dem Lokal gegenüber, worüber sich der Haushund derart aufregt, dass er während der ganzen zweiten Hälfte der Nacht heult. Dafür wird man ungemein zuvorkommend bedient. Gegenüber, im Camp Hotel, pflegten wir zu essen. Dort treffen sich Europäer und Amerikaner, viele in abenteuerlichen Trachten, die schon fast wie indische Saddhus aussehen, um zu essen oder Tee zu trinken. Den ganzen Tag läuft ein Tonband, das süssliche Walzermelodien spielt. Zwei flinke Tibeter Bürschchen, die Lieblinge aller Gäste, treiben ihre Spässe, flitzen aber sofort in die Küche, sobald sie eine Bestellung erhalten, und brüllen diese lauthals dem Küchenpersonal zu.
Wir benutzten die Tage nach unserer Ankunft in Kathmandu dazu, die Stadt etwas kennenzulernen: Wir mieteten Velos und hatten so die Möglichkeit, einen grossen Teil des Kathmandu-Tales zu besichtigen. Immer wieder suchten wir das Touristen-Informationsbüro auf, um unsere Weiterreise zu planen. Dort sass ein wortkarges, mit einem Sari bekleidetes Fräulein hinter einem Pult und gab auf unser hartnäckiges Fragen äusserst knappe Auskunft. Mit der Zeit fanden wir doch alles heraus, was wir wissen wollten: Aus dem Kathmandu-Tal gibt es nur zwei Busverbindungen; die eine führt über eine abenteuerliche Passstrasse nach Indien, die andere etwa siebzig Kilometer nordwestwärts gegen den Himalaya, nach Trisuli-Bazar, einem kleinen Dorf am Tri-suli-Fluss. Aus einer grossen, an der Wand aufgehängten Karte ersahen wir, dass ein Saumpfad nordwärts, durch das Tal des Trisuli, hinaufführt, dann wie das Trisuli-Tal ostwärts abbiegt und bis zu einem Pass in der Gosainkund-Kette steigt. Gerade neben dem Pass befand sich die Höhenkote 16 79g Fuss ( etwa 51 oo m ), also genau das, war wir brauchten. Da die Karte nirgends zu kaufen war, pausten wir das Gebiet, das uns interessierte, auf Luftpostpapier durch. Wir mussten uns nun noch den « Trekking Permit » besorgen, ohne den kein Reisender das Kathmandu-Tal verlassen darf. Unsere ganze beabsichtigte Reiseroute wurde darauf eingetragen. Eine nachträgliche Änderung unterweg ist unmöglich. Am Abend kauften wir einige Konserven. Einen grossen Teil unseres Gepäcks konnte wir beim netten Wirt der Juna Lodge zurücklassen. So waren wir nun für unsere Bergtour vorbereitet und warteten gespannt auf den nächsten Tag.
Noch vor Sonnenaufgang machten wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle am Stadtrand. Vom Bus war noch nichts zu sehen. Landbewohner brachten ihr Gemüse in die Stadt: Sie trugen es in flachen Körben, die an den Enden einer waagrecht über die Schulter gelegten Stange hingen. Als der Bus endlich kam, mussten wir uns immer noch eine Weile gedulden: Obwohl die tBlick von der Gosainkundkette in Richtung chinesische Grenze 2Unser kleiner Gipfel in der Gosainkundkette ( links, P. i6yggft3Tschorten ( Rastplatzaltar am Wegrand ) vor dem obersten Tempel; Blick gegen die Gosainkund-Kette 4Ein paar armselige Hütten: Ramche Plätze numeriert waren, begann ein wilder Wortstreit aller gegen alle um die besten Plätze. Wir hatten unsere Fensterplätze und verstanden nur noch Schweizerdeutsch. Endlich fuhr der Bus an, aber nur für wenige hundert Meter: Ein Schlagbaum versperrte die Strasse. Ein Soldat kam aus einem nahegelegenen Wachthäuschen, musterte den Bus und kontrollierte unsere Pässe und Trekking Permits eingehend. Das wiederholte sich auf der ganzen Reise mehrmals. Die staubige Strasse erklomm einen Pass und schlängelte sich danach in ein tiefes Tal hinunter. Es wurde immer heisser. Bananenstauden lösten die Buschwälder der höheren Lagen ab.
Gegen Mittag erreichten wir Trisuli Bazar, die Endstation der Buslinie und den letzten Vorposten der Zivilisation, wenn man unter Zivilisation Konserverbüchsen und elektrischen Strom versteht.
In der grössten Mittagshitze zogen wir los. Wir beneideten einen Engländer, der mit uns abmarschierte: Sein einziges Gepäck bestand aus einer wollenen tibetischen Handtasche und einem Regenschirm. Er war uns bald weit voraus. Der Weg war am Anfang noch für Lastwagen befahrbar, denn einige Kilometer von Trisuli Bazar flussaufwärts wurde mit indischer Entwicklungshilfe ein Elektrizitätswerk erbaut. Das Tal ist dort noch weit und offen, viel breiter als das Bett des schäumenden Trisuli. Nördlich der Einmündung des Betravati-Flusses verengt sich das Tal, und der Weg beginnt in der linken, östlichen Flanke zu steigen. Alle Bergflanken sind bis weit hinauf fein säuberlich terrassiert, so dass sie trotz ihrer Steilheit mit Getreide bebaut werden können. Es sieht so aus, als ob die Höhenkurven der Karte in der Natur tatsächlich vorkämen. Viele der kleinen Terrassenäckerchen werden bewässert: Sie glänzen wie Spiegel in der Abendsonne. Zwischen ihnen schlängeln sich die silbernen Fäden der Bäche talwärts. Tief unten rauscht der Trisuli. Die höheren Lagen der Berge sind mit Buschwald bewachsen. Vereinzelte hochstämmige Föhren ragen wie Kerzen daraus hervor. Von i68 Zeit zu Zeit begegneten wir einem strohgedeckten Bauernhaus. Die Häuser sind hier auffallend stattlich, oft zweistöckig, die Wände mit ockergelbem Lehm verputzt. In den Gärten wachsen Bananen und Papayas, melonenähnliche Baumfrüchte. Bauernfamilien sind mit archaischen Geräten an der Arbeit: Die Männer pflügen mit einfachen, von Kühen gezogenen Holzpflügen, während Frauen und Kinder in steinernen Mörsern Getreidekörner mahlen.
Als es dunkel wurde, flammten überall im Tal den Wegen entlang die Lagerfeuer der Trägerkolonnen auf. Wir marschierten noch weiter, bis wir um Mitternacht unser Zelt aufstellten.
Am andern Morgen rüttelte ein kräftiger Wind am Zelt. Die Sonne beleuchtete erst die hohen Bergkuppen gegenüber. Aus dem letzten Trinkwasser, das wir hatten, bereiteten wir uns etwas kalten Kaffee und marschierten dann weiter. Der Weg senkte sich tief in ein Tobel und stieg auf der andern Seite steil empor. Im Tobel herrschte schon am frühen Morgen eine drückende Hitze, oben auf der Rippe blies ein erfrischender Wind. Das wiederholte sich nun den ganzen Tag unzählige Male. Auf diese Weise gewannen wir in der mächtigen, steilen Bergflanke allmählich an Höhe.
Oben auf der ersten Rippe flatterten weisse Gebetsfahnen. Wir hatten das Dorf Ramche erreicht: ein Grüppchen grauer Steinhäuschen mit Schindeldächern. Immer wieder begegneten wir Leuten: Bauern, die uns « Sigri, Sigri » ( Zigaretten ) nachriefen, oder Trägern mit schweren Lasten auf dem Rücken, die durch ein über die Stirne verlaufendes Band gehalten werden. Wir staunten, wie geschickt sie sich barfuss auf dem schmalen, steinigen Weglein bewegten. Dieser Bergweg ist die einzige Verbindung des langen Trisuli-Tales und seiner Seitentäler mit der Aussenwelt.
Bei einer Biegung des Tales verliessen wir das Gebiet der Terrassenfelder und betraten einen Wald von blühenden Rhododendren. In den Tobein sprudelten klare Bergbäche.Vor uns 5Gemüsehändler in Kathmandu 6Bauern im Trisuli-Tal 7 Marktszene in Kathmandu Photos René Habegger, Glattbrugg reihte sich Bergschulter an Bergschulter. Das Tal verlor sich in der Ferne, ohne dass ein Ende abzusehen war.
Gegen Abend erreichten wir das zweite Dorf: Dhunche. Dort biegt der Trisuli aus der Ost-West-Richtung nach Süden ab, woher wir gekommen waren. Ein Seitenfluss kommt geradlinig von Norden, aus Tibet. Zum erstenmal sahen wir eine verschneite Bergspitze: einen der Gipfel der Gosainkund-Kette - unser Ziel. Im Dorf nahm uns ein Soldat unsere Pässe und Trekking Permits ab und brachte sie zum Polizeiposten, wo sie peinlich genau kontrolliert wurden. Hinter dem Dorf senkt sich der Weg zum Fluss, wo sich in einer Waldlichtung eine Gruppe von Hütten mit einer Mühle befindet. Die gastfreundlichen Leute liessen uns dort übernachten. Neugierig betrachteten sie unsere Ausrüstung und gaben uns zu verstehen, dass sie grosses Interesse für leere Konservenbüchsen hätten. In diesem abgelegenen Tal sind Konservenbüchsen rar, und man kann aus ihnen allerlei Gebrauchsgegenstände herstellen. Ohne Bedenken liessen wir am folgenden Morgen alles, was wir für den weiteren Aufstieg nicht mehr benötigten, in der Mühle zurück. Zuerst folgten wir dem Fluss. Üppiger Wald wechselte mit engen Schluchten und wilden Felswänden ab. Dann begann der Weg auf der Nordseite des Tales in einem äusserst steilen Zickzack zu steigen. Über Weiden mit grasenden Kühen und durch schattige Föhrenwälder erreichten wir die Grathöhe. Endlich sahen wir die Hochgipfel des Himalaya. Ihr Weiss war viel reiner als das Weiss der glänzenden Schneefelder der Gosainkund-Kette jenseits des Tales. Bald auf der Nordseite in dichtem Wald, bald auf der Südseite in praller Sonne umging unser Pfad die Kuppen des Grates. Müde und durstig kamen wir gegen Mittag bei zwei Hütten an. Die kleinere war offensichtlich eine Wohnstätte: In ihrem Innern glomm noch ein Herdfeuer. Die grössere war ein mit Fresken geschmücktes Heiligtum des fünfköpfigen Avalo-kiteswara, des tibetanischen Schutzgottes. In der Nähe ertönte das Schlagen einer Axt. Ich ging ihm nach. Zwei beinahe kahlgeschorene runzelige Leutchen begrüssten mich freundlich. Ich fragte nach « cha » ( Tee ), worauf mich das Pärchen zur Hütte begleitete. Der Mann nahm eine alte Kanne von einem Gestell, schüttelte sie und stellte sie in die Glut. Etwas später brachte er uns ein braunes Getränk, auf dem Fettaugen schwammen. Ich habe noch nie so etwas Ekelhaftes getrunken. Beinahe ohne eine Miene zu verziehen, leerten wir die Gläser: Das war nun der berühmte tibetanische Tee, der mit ranziger Yakbutter gewürzt wird!
An diesem Tag marschierten wir nur noch etwa zwei Stunden weiter und erreichten am frühen Nachmittag eine aussichtsreiche Kuppe knapp oberhalb der Waldgrenze, auf etwa 3500 Meter Höhe. Dort fanden sich drei einfache Hütten. In einer davon biwakierten wir, halb im Freien, aber wenigstens vor dem Wind geschützt. Im nahen Wald gab es Holz und hinter der Hütte einen Haufen Schnee, aus dem wir uns Tee und Suppe kochten. Am andern Morgen war der Schneehaufen steinhart gefroren, als wir uns, noch im Dunkeln, ein Gemisch aus Ovosport und Kaffee brauten.
Über zum Teil noch verschneite Bergweiden, immer auf dem breiten Gratrücken, stiegen wir weiter. Zur Linken ( nördlich ) sahen wir auf die scharfen weissen Kämme des Langtang Himals, eines Siebentausenders, zur Rechten auf die wilden Hörner der Gosainkund-Kette. Wir näherten uns nun dem abschliessenden Kessel des Trisuli-Tals: Treppenartig kam uns der Talboden näher. Auf jedem Absatz befindet sich ein milchig-blauer Bergsee. Über die Felswände, von See zu See, ergiessen sich Wasserfälle. Unser Weg senkte sich vom Grat hinunter zum hintersten und grössten dieser Seen,dem eigentlichen Gosain-Kund ( Einsiedler-See ), auf dem noch eine Eisdecke lag.
Er scheint ein recht bekannter Wallfahrtsort zu sein, der allerdings zu dieser frühen Jahreszeit noch nicht besucht wurde. An seinem Ufer stehen eine Hütte und eine Tschorte ( Rastplatz-Altar am Wegrand ). So wie in Europa an vielbesuchten Orten rostige Konservenbüchsen umherliegen, war hier alles voll von Kokosnuss-Schalen.
Rund um den stillen Talkessel erheben sich dunkle zerklüftete Gneiskolosse. Einem davon wandten wir uns zu. Eine Zeitlang konnten wir noch dem Weg folgen, der über einen Pass die Gosainkund-Kette nach Süden überquert. Wir stiegen ostwärts über steile Schutthalden und hartgefrorene Schneefelder, zuletzt über gutgriffige Blöcke zum Gipfel. Müde und stolz hielten wir dort oben Rast. Manchmal gaben die mittäglichen Kumuluswolken den Blick auf höhere und kühnere Gipfel mit wilden Gletschern und scharfen Eisgraten frei. Der Pfad, den wir benutzt hatten, setzte sich jenseits des Passes fort; er durchquert Felswände und Schutthalden und fällt in unbekannte Täler ab. Doch wir waren mit unserem kleinen Berg zufrieden.
Vom Abstieg ist nicht viel zu berichten, ausser dass er mühsam war wegen der vielen Gegensteigungen. Die kleinen tibetanischen Kellner im Camp Hotel in Kathmandu staunten nicht wenig, welche Unmengen Tee wir durch unsere ausgetrockneten Kehlen rinnen liessen...