© Fredy Joss
Gipfelstürmer der anderen Art Auf 3000 Metern blüht es wie noch nie
Neue Pflanzenarten erobern rasant hochalpine Regionen. Eine Studie belegt erstmals klar den Zusammenhang mit dem Klimawandel. Angestammte Gipfelbewohner geraten unter Druck.
Als die Schweizer Botaniker Josias Braun-Blanquet und Eduard August Rübel vor rund 100 Jahren Pflanzen auf vielen Alpengipfeln dokumentierten, sah die Welt dort oben noch anders aus. Die mittlere Temperatur in den Bergregionen lag rund zwei Grad tiefer als heute. Viele Arten, die man heute in der Höhe findet, konnten die Vegetationskundler seinerzeit nicht entdecken. Wie eine im März 2018 publizierte Studie im Fachmagazin Nature zeigte, gedeihen auf Europas Berggipfeln mittlerweile erheblich mehr Pflanzenarten als noch vor 100 Jahren. Besonders in den letzten Jahrzehnten stieg der Artenreichtum immer steiler nach oben, da Wärme liebende Pflanzen aus tieferen Regionen die Gipfel eroberten. Während um 1950 im Mittel eine neue Art pro Jahrzehnt auf den Berggipfeln entdeckt wurde, sind es heute deren fünf.
Die Echte Arnika zum Beispiel kam historisch auf keinem einzigen der untersuchten Berggipfel vor. Heute findet man sie auf 14 Gipfeln. Das Alpenrispengras war früher auf 84 Alpengipfeln in bis zu 3293 Metern Höhe zu finden. Heute wächst es auf 162 Gipfeln, etwa auf dem 3538 Meter hohen Rocciamelone in den Westalpen. Und auch die Preiselbeere zeigte sich früher nur auf drei untersuchten Alpengipfeln, inzwischen auf deren neun.
Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass die Ursache für den immer schnelleren Gipfelsturm der Pflanzen in der ebenfalls immer rascher voranschreitenden Erwärmung des Klimas zu suchen ist. Doch grossräumig belegen liess sich ein Zusammenhang bisher nicht. Für ganz Europa ist das nun einem internationalen Forscherteam um Manuel Steinbauer von der Universität Erlangen-Nürnberg und Sonja Wipf vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos gelungen. «Es ist das erste Mal, dass man eine beschleunigte Veränderung alpiner Lebensräume nachweisen kann, die Hand in Hand mit der Klimaerwärmung abläuft», sagt Wipf. «Es sollte uns zu denken geben, wie schnell die alpine Vegetation auf die Erderwärmung reagiert.»
Problematische Entwicklung
Bisher kennt man eine solche Reaktion vor allem von anderen Systemen. So schmelzen die Gletscher aufgrund der Erwärmung immer schneller ab, und der Permafrost erwärmt sich beschleunigt. «Verglichen mit einem Ökosystem sind Gletscher und Permafrost jedoch vergleichsweise einfache Gebilde», sagt Wipf. Die Studie zeigt nun, dass die immer schneller werdende Umweltveränderung durch den Menschen sogar einen Einfluss auf entlegene Berggipfel hat.
Bedenklich ist diese Entwicklung, weil die neuen, Wärme liebenden Arten aus tieferen Regionen meist grösser und dadurch konkurrenzstärker sind als die angestammten Spezialisten. «Wir erwarten, dass gewisse hochalpine Arten Probleme bekommen», sagt Wipf. «Diese müssen in immer höhere Gefilde ausweichen. Nur sind die Berge irgendwann nicht mehr hoch genug.» Gerade die Schweiz mit ihrem grossen Anteil an Hochgebirge trage eine besondere Verantwortung für diese Gipfelarten, sagt Wipf.
Für die Studie gingen die Forscher zunächst in diverse Archive und suchten nach historischen Pflanzenlisten. Dabei fokussierten sie auf Berggipfel. Diese sind räumlich klar definiert und daher für Vergleichsstudien prädestiniert. Die alten Botaniker gingen meist sehr sorgfältig vor, wie Wipf berichtet. Braun-Blanquet zum Beispiel hat 1913 geschrieben, dass er die Berge möglichst gut botanisch erfassen möchte, damit die Leute das später vergleichen können. «Er hatte die Vergleichbarkeit von Anfang an im Auge», sagt Wipf. Andere frühe Botaniker haben ihre eigenen Gipfelerfassungen wiederholt und dann kommentiert, was sich verändert hat.
Einige Gipfel wurden nach 1980 erneut untersucht. Und die 53 Autoren der aktuellen Studie wiederholten das Prozedere ab 2010 nochmals. So kamen insgesamt 698 historische und aktuelle botanische Erfassungen zusammen. Sie reichen bis 1871 zurück und umfassen 302 Berggipfel aus 9 Bergregionen in Europa – von den Pyrenäen über die Alpen bis hinauf nach Spitzbergen.
Um die Zuverlässigkeit der eigenen Bestandsaufnahmen zu überprüfen, suchten die Botaniker 50 Berggipfel jeweils zu zweit, aber unabhängig voneinander nach Pflanzen ab. «Die Abweichung bei den erhaltenen Pflanzenlisten lag im Mittel bei 13,6%», sagt Wipf. «Das ist für solche Aufnahmen ein normaler Fehler.» Die Abweichung zu den historischen Pflanzenlisten lag jedoch im Mittel bei 41,4%, war also fast dreimal so gross. «Das zeigt, dass sich definitiv etwas verändert hat», sagt Wipf. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten, also zwischen den Erfassungen von 1980 und 2010, stieg die Artenzahl enorm schnell an.
Andere Ursachen als die Erderwärmung liessen sich ausschliessen. Der Niederschlag zum Beispiel änderte sich je nach Gebirgsregion unterschiedlich, während die Entwicklung bei der Artenzahl einheitlich nach oben ging. Der Bergtourismus kommt als Ursache auch nicht infrage. Während einige Berggipfel fast täglich von vielen Wanderern besucht wurden, gibt es in Nationalparks Gipfel, auf die sich nur alle paar Jahre ein Botaniker verirrt. Dennoch kletterten überall neue Arten in die Höhe. Auch die wieder weitverbreiteten Steinböcke oder die Stickstoffzunahme in der Luft konnten die Entwicklung nicht erklären. Einzig zwischen Temperaturanstieg und Zunahme der Arten war die Korrelation sehr klar.
Laut Eva Spehn vom Institut für Pflanzenwissenschaft der Universität Bern ist die Studie methodisch einwandfrei. «Die Resultate sind sehr robust», sagt sie. «Offenbar reagiert die alpine Vegetation ohne Verzögerung auf die Erwärmung. Das zeigt, dass der Klimawandel eine zusätzliche Belastung für die Biodiversität darstellt.»
Besteht eine Aussterbeschuld?
Offen ist, welche alpinen Standorte besonders vom Verdrängungskampf betroffen sind. Wipf vermutet, dass humusreiche Böden dazugehören. Denn dort sind die grossen Pflanzen aus tieferen Regionen im Vorteil. Mit kargen, felsigen Lebensräumen dürften diese jedoch weniger gut klarkommen als die Kälte liebenden alpinen Spezialisten.
«Uns interessiert auch, ob sich nach extrem heissen Sommern besonders viel verändert und wie lange es braucht, bis Arten verschwinden», sagt Wipf. Es könnte nämlich sein, dass sich eine sogenannte Aussterbeschuld angehäuft hat: Viele Spezialisten wachsen zwar noch auf den Gipfeln, sind aber aufgrund des veränderten Klimas bereits dem Aussterben geweiht. «Das sind Fragen», sagt Wipf, «die wir künftig anhand des Datensatzes beantworten wollen.»
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