Geheimnisvolle Gaukler Die Schmetterlinge in den Alpen
Es gibt Schmetterlinge, die im Winter wie Vögel in den Süden ziehen; andere leben in Symbiose mit Ameisen. Manche Falter erfühlen Gerüche mit ihren Beinen oder produzieren mit ihren Flügeln Duftstoffe, um Weibchen anzulocken. Und einige treffen sich zum romantischen Stelldichein auf den Gipfeln.
Im Urnerland entdecken Berggänger hoffentlich den einen oder anderen «Fliggholter» am Wegesrand. In Schwyzein paar «Zwifalter», im Sarganserland einen «Pipolter». In Appenzell werden sie von «Flickflaudern» umflattert, im Münstertal sind es «tgiralla» und im französischen Jura «papillons». Die Sprachenvielfalt der Schweiz ist gross, wird vom Artenreichtum der Sommervögel aber deutlich übertroffen. Weltweit gibt es rund 200 000 bekannte Schmetterlingsarten. Rund 90% davon sind Nachtfalter oder derart klein, dass man sie kaum sieht. In der Schweiz kommen etwa 3700 Schmetterlingsarten vor. Die Anzahl der einheimischen Tagfalter liegt bei rund 200 Arten. Im Mittelland sind die Schmetterlingsbestände seit Ende des 19. Jahrhunderts aber deutlich zurückgegangen. Im Berggebiet lässt sich die bunte Vielfalt im Moment noch bewundern. In Höhen über 1200 Metern sind rund zwei Drittel aller Schmetterlingsarten der Schweiz anzutreffen.
Eine Wohngemeinschaft mit Ameisen
Zu den bekannteren Arten im Berggebiet gehören mit Sicherheit die Bläulinge. Doch ob es sich nun um den Graublauen, Himmelblauen, Kurzschwänzigen, Silbergrünen oder den Schwarzgefleckten Ameisenbläuling handelt, ist selbst für Fachleute nicht leicht zu sagen. In der Schweiz leben mehr als 50 Bläulinge, wobei oft nur das Männchen blau gefärbt ist.
Die Tagfalter im Alpenbogen lassen sich insgesamt in sechs Familien einteilen. Der lateinische Name der Familie der Bläulinge lautet Lycaenidae. Dazu zählen auch der leuchtend orange Dukatenfalter, der Grüne Zipfelfalter oder der Kleine Ampferfeuerfalter. Interessant: Viele Raupen der Lycaenidae verbringen einen Teil ihres Lebenszyklus in Symbiose mit Ameisen. Diese werden von der zuckerartigen Flüssigkeit, die die Raupen aus Drüsen am Hinterleib absondern, angezogen. Die Ameisen transportieren die Raupen in ihr Nest, wo sich diese dann bis zu ihrer Verpuppung im Frühling von Ameisenlarven ernähren.
Wandernde und standorttreue Schmetterlinge
Die meisten Lycaenidae verbringen ihre gesamte Existenz am Ort, wo sie geboren wurden. Auch die Schmetterlinge der Familie der Dickkopffalter (Hesperiidae) sind eher standorttreu. Die Gründe für dieses Verhalten sind vielfältig. Ein Beispiel: Manche Raupen ernähren sich nur von einer oder ganz wenigen Pflanzenarten; sind diese selten, schränkt das den Radius der Tiere ein.
Andere Schmetterlinge sind jedoch ausgezeichnete Flieger und unternehmen teilweise unglaublich weite Wanderungen. Der Admiral, der sich im Herbst oft auf Fallobst unter Bäumen beobachten lässt, gehörte lange zu den extremsten Wandervögeln. Die Art stammt ursprünglich aus dem Süden und reiste jahrelang aus Nordafrika und Südeuropa über die Alpen bis nach Deutschland und darüber hinaus. Für die bis zu 3000 Kilometer lange Strecke brauchten die Falter etwa zwei Wochen. Nur ausnahmsweise überwinterten einzelne Exemplare auch im Norden. Inzwischen ist das aber zur Regel geworden. Es hat sich eine eigenständige mitteleuropäische Population gebildet, Einflüge aus dem Mittelmeerraum gibt es kaum noch.
Noch beeindruckender ist die Flugstrecke des Distelfalters, der wie der Admiral zur Familie der Edelfalter (Nymphalidae) gehört: Er legt bis zu 15 000 Kilometer zurück. Die Distelfalter ziehen von Skandinavien bis Westafrika und wieder zurück. Sie überwinden die Reisestrecke jeweils in Etappen. Richtung Norden brauche die Art für diesen Weg bis zu vier Generationen, Richtung Süden dagegen nur zwei, berichtete ein Forschungsteam 2012 im Fachmagazin Ecography. Auf Wanderungen kann man die Flugkünstler in tieferen Lagen ebenso antreffen wie auf einer Höhe von fast 3000 Metern.
In der kargen Umgebung des Hochgebirges leben in der Regel jedoch eher kleinere Individuen, weil den Tieren nur wenig Zeit für ihre Entwicklung zur Verfügung steht. Ebenfalls typisch für viele Hochgebirgsarten ist Melanismus: Eine dunklere Färbung hält die starke ultraviolette Strahlung, die in der dünnen Höhenluft vorherrscht, besser ab. Diese Anpassung ist unter anderem beim weitverbreiteten Kleinen Mohrenfalter zu beobachten, bei einer Schmetterlingsart, die sich gerne auf verschwitzten Menschen niederlässt, um etwas Salz zu naschen.
Kurze Hochzeitsreisen
Wer sich schon einmal gewundert hat, in der kargen Umgebung von Gipfeln Tagfalter zu treffen: Die Schmetterlinge haben sich nicht verirrt. Sie treffen sich auf Bergkuppen, um sich zu paaren. Das Phänomen nennt sich Hilltopping. Typische Vertreter dieser Kurzstreckenflieger sind der Segelfalter und der Schwalbenschwanz, die beide der Familie der Ritterfalter (Papilionidae) angehören. Eine Variante dieser Höhenflüge bildet die Wipfelbalz. Dabei sucht etwa der Grosse Schillerfalter Baumkronen auf, um sich zu paaren. Zu beobachten ist er dabei allerdings nur schwer. Man bekommt ihn eher zu Gesicht, wenn er an feuchten Erdstellen oder Tierexkrementen Flüssigkeit aufnimmt.
Auf den Flügeln einiger Tagfaltermännchen befinden sich übrigens spezielle Duftschuppen. Damit können die Tiere Pheromone ausschütten, um Geschlechtspartnerinnen anzulocken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nehmen die Weibchen diese Botenstoffe mit ihren Beinen wahr, denn diese Tierart kann damit nicht nur Vibrationen erspüren, sondern auch Gerüche.
Bedrohte Vielfalt
Leider ist die Realität auch im faszinierenden Zauberland der Schmetterlinge hart: In den letzten Jahren wurden die Sommervögel seltener. «Ein Drittel der Tagfalterarten ist hierzulande vom Verschwinden bedroht», sagt Yannick Chittaro, Biologe bei info fauna, dem Schweizerischen Zentrum für die Kartografie der Fauna. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Beispiel ist die intensive Landwirtschaft und das Verschwinden von Magerwiesen. «Nachdem im Unterland fast alle Magerwiesen und -weiden verschwunden sind, erfasst die intensive Landwirtschaft nun zunehmend auch das Berggebiet», schreibt das Bundesamt für Umwelt in seinem Dossier «Wie geht es unseren Schmetterlingen?». Auch die Klimaerwärmung fordert ihren Tribut. «Arten, die auf Feuchtgebiete angewiesen sind, gehören aufgrund der zunehmenden Hitzesommer zu den Verlierern», erklärt Yannick Chittaro. Manche Schmetterlinge weichen in höhere, kühlere Lagen aus. Doch langfristig reicht diese Rettungsstrategie nicht aus, denn eines ist klar: Über jedem Gipfel beginnt irgendwann der Himmel. Und so schön der auch sein mag – von Wolken ernähren können sich auch Raupen nicht.
Markus Haab und die «geflügelten Blumen»
«Schmetterlinge verfügen über erstaunliche Fähigkeiten. Sie riechen mit ihren Fühlern, auf denen sich feine Härchen mit geruchsempfindlichen Zellen befinden. Sie können aber auch Geräusche wahrnehmen, etwa das Rauschen heranfliegender Vögel, die sie fressen wollen.» Wenn Markus Haab von den Tagfaltern erzählt, ist seine Faszination gut hörbar. «Es sind ihre unterschiedlichen Formen und Farben, ihr Lebensrhythmus, ihre Bewegungen, die mich in den Bann gezogen haben. Ein Geschenk der Natur.»
Das Ehepaar Haab hat viele Jahre die Berghütte Hängela der Gemeinde Vals betreut. Dabei ist das Paar oft in den Berghängen um Vals herumgestreift. Vor 30 Jahren begann Markus Haab als Hobbyfotograf Aufnahmen der Alpenflora zu machen – bis er die bunte Welt der Schmetterlinge entdeckte, der «fliegenden Kleinode». Rund 120 Arten von Tagfaltern hat er im Valser Tal fotografiert – Ritterfalter, Weisslinge, Edelfalter, Augenfalter, Bläulinge, Dickkopffalter, Widderchen, Bären und Zünsler.
Wie schafft er es, die flatterhaften Wesen zu fotografieren? «Zuerst beobachte ich sie, bis sie sich absetzen, dann nähere ich mich ganz vorsichtig und fotografiere sie mit dem Makroobjektiv, meist aus der freien Hand.» Viele Male drücke er ab, bis ein Foto wirklich gut sei. Seine Frau Ursula unterstützt ihn beim Fotografieren, denn vier Augen sehen mehr als zwei. «Wir sind ein gutes Team im Feld. Sie ist eine genauso gute Kennerin wie ich.» Zu Hause bestimme ich dann die Fotos anhand meiner Fachliteratur. «Es braucht viel Erfahrung, um die Falter zu unterscheiden, doch inzwischen kennen wir sie alle recht gut!»
Haben die Falterbestände insgesamt zu- oder abgenommen? In subalpinen Gebieten wie im Valser Tal seien sie tatsächlich zurückgegangen, bedauert Markus Haab. Schuld sei wesentlich die Melioration: Es wurden bis weit in die Bergwiesen hinauf Strassen gebaut, das ermöglichte den Bauern das Ausbringen von Mist und Gülle, und aus den blumen- und insektenreichen Magerwiesen wurden eintönige Fettwiesen.Stefan Hartmann