Futtersuche im Überhang. Schnecken im Gebirge
Futtersuche im Überhang
Sie sind vielleicht die langsamsten Bergsteiger. Doch man trifft gewisse von ihnen auch auf über 3000 Metern. Gemeint sind Schnecken. Um sie aber in den subalpinen und alpinen Regionen zu finden, muss man sein Schneckensuchbild etwas anpassen. Die grössten Arten werden gerade noch fünf Millimeter gross.
« Auf einer Gletschermoräne kann man ohne Weiteres eine Schnecke entdecken – für mich ein erstaunliches Zeichen von Leben !», begeistert sich Schneckenspezia-list Jörg Rüetschi. Im Zusammenhang mit einem Rote-Liste-Projekt versuchen er und seine Mitarbeiter, mehr über die Verbreitung und Gefährdung der Schnecken in den Gebirgsregionen der Schweiz herauszufinden ( vgl. Kasten ). Dabei hofft Rüetschi auch, auf der Karte einige der weissen Flecken in den Gipfelregionen der Kantone Uri, Glarus oder Graubünden tilgen zu können. Denn dort ist nicht einmal klar, welche Arten überhaupt vorkommen.
Auf über 3000 Metern braucht es ein Häuschen
Doch wie gelangt eine Schnecke überhaupt auf eine Gletschermoräne? Ist sie übers Gletschereis gekrochen? « Wahrscheinlich ist sie auf dem Luftweg dorthin gelangt, denn kleine Gehäuseschnecken können leicht vom Wind irgendwohin verfrachtet werden, oder sie können im Gefieder eines Vogels geklebt haben und später wieder herausgefallen sein », erklärt der Biologe.
In der Schweiz kriechen von der milli-metergrossen Punktschnecke bis zur 20 Zentimeter langen Tigerschnecke die verschiedensten Modelle herum. Schnecken bewohnen dabei die unterschiedlichsten Lebensräume von tiefen Lagen bis auf über 3000 Meter Höhe. Einige Arten haben zudem eine grosse ökologische Spannweite und kommen vom Unterland bis ins Gebirge hinauf vor, doch von den richtigen Gebirgsspezialisten, die oberhalb der Baumgrenze leben, gibt es nur etwa zehn Arten. Das hängt damit zusammen, dass auf über 2400 Metern die jährliche Bodentemperatur im Durchschnitt 0,5 °C beträgt. Hier können nur noch kältetole-rante Arten überleben, die einen kurzen Lebenszyklus aufweisen und die zwei bis drei Monate lange, schneefreie Zeit optimal ausnützen. In der Schweiz sind das 41 Land- und drei Wasserschnecken-arten. Die gerade mal 10 mm breite Nidwaldner Haarschnecke ( Trichia biconica ) wurde bisher in der ganzen Welt nur auf dem Chaiserstuel bei Wolfenschiessen gefunden. Die Gehäu-seform, ein flacher Doppelkegel, scheint eine Anpassung an das Leben unter Steinplatten zu sein. Weitere Vorkommen werden im südlichen Urnerland oder östlich der Reuss vermutet.
Wer findet die Schnecke, die amhöchsten kriecht?
Momentan wird in der Schweiz die Rote Liste der gefährdeten Landschnecken erneuert ( www.cscf.ch →Wissenschaftliche Aktivitäten →Rote Liste Strategie→ Laufende Projekte ). In den Alpen gibt es einige Arten, die nur in einer Höhe zwischen 2000 und 3000 Metern vorkommen. Diese sind meist unter Steinen zu finden und zwei bis fünf Millimeter klein. Meldungen mit Beschreibung/Foto und Angaben zu Fundort und Datum sind erwünscht an: Jörg Rüetschi, Weidweg 42, 3032 Hinterkappelen ( joerg.ruetschi(at)bluewin.ch ).
Unter ihnen gibt es solche, die sich den extremen Bedingungen auf über 3000 Metern aussetzen. Hier geht es aber nicht mehr ohne Häuschen, denn für Nacktschnecken ist bei etwa 2600 Metern die Höhengrenze erreicht. Ohne Häuschen sind sie weniger gut geschützt gegen Austrocknung und gegen die starke Sonnenstrahlung. Nacktschnecken sind deshalb auch eher nachtaktiv. Doch diese Strategie hat auch ihre Tücken. Obwohl Schnecken schon bei Temperaturen um 0 °C aktiv sind, werden von einer bestimmten Höhe an die Nächte zu kalt, als dass die Schnecken noch Futter suchen zu könnten. Die körpereigenen Substanzen, die als Frostschutzmittel wirken, verhindern nur, dass Schnecken bei diesen tiefen Temperaturen nicht erfrieren.
Wie ihren Artgenossen in tieferen Lagen kommt auch den Schnecken im Gebirge zugute, dass sie sehr stark sind. Einige können das Zehnfache ihres Körpergewichts schleppen. Der zähe Schleim gibt ihnen eine so gute Haftung, dass sie nicht nur senkrecht Bäume oder Mauern oder Felsen hochkommen, sondern sogar überhängend kriechen können.
Im Gebirge sind Schnecken kleine Algen- und Flechtenfresser
Betrachtet man die Grösse der schleimigen Bergbewohner, so gilt folgende Regel: je höher oben, desto kleiner. Oberhalb von 2500 Metern sind die grössten Exemplare gerade noch fünf Millimeter gross. Sogar die Gefleckte Schnirkel-schnecke ( Arianta arbustorum ) oder Arten der Felsenschnecken ( Chilostoma ), die in tiefen Lagen stattliche Exemplare mit zentimetergrossen Gehäusen umfassen, werden mit zunehmender Höhe kleiner. Unterschiede in Abhängigkeit von der Höhe gibt es auch beim Speisezettel der Schnecken. Die meisten Schnecken in tiefen Lagen ernähren sich von Pflanzen. Das Spektrum reicht dabei von zart und saftig bis zu welk und vermodernd. Andere Arten fressen Aas oder ernähren sich räuberisch von anderen Schnecken. Sogar giftige Pilze schrecken Schnecken nicht ab. Frassspuren an Pilzen sind deshalb für Pilzsammler kein Indiz zur Unterscheidung von giftigen und ungiftigen Pilzarten. Den am höchsten steigenden Schnecken stehen aber solche pflanzlichen Nahrungsquellen gar nicht mehr zur Verfügung. Sie fressen kaum noch Grünes, sondern weiden an Felsen und Steinen Algen- und Flechtenteppiche ab.
Dieses Grasschneckengehäuse ist 2,3 mm breit und nur noch schwer von blossem Auge erkennbar. Die Gras-schnecke ( Vallonia costata ) ist Kalk liebend und lebt in Trockenrasen oder an Kalkfelsen bis auf 2800 m. Diese winzige, nur rund 3 mm grosse Harfen-schneckenart ist in den Alpen nur von Zermatt und Saas Fee bekannt. Sie lebt in Zwerg-strauchheiden und an Farnen auf Höhen von 1700 bis 2300 m und ist sogenannt boreoalpin verbreitet. Das heisst, sie ist in Skandinavien weit verbreitet, ihr Lebensraum in der Schweiz hingegen ist ein Glazialrelikt.
Foto: Markus Baggenstos 1 mm 1 mm Foto: BAFU/N M B E Foto: BAFU/N M B E Gebirgsschnecken wie auch ihre Artgenossen in tieferen Lagen gehören zusammen mit den Muscheln und weiteren Ar-tengruppen zum Stamm der Weichtiere ( Mollusca ). Dieser Stamm mit ungefähr 105 000 Arten wird hinsichtlich Artenvielfalt nur noch von den Insekten übertroffen. Die Landschnecken machen in diesem Stamm jedoch nur eine kleine Gruppe aus. In Nord- und Mitteleuropa kommen 400 Arten vor, in der Schweiz immerhin noch 250 Arten ( 200 Arten Land-/50 Wasserschnecken ).
Schnecken mögen keine schnellen Veränderungen
« Etwa ein Drittel aller in der Schweiz vorkommenden Arten sind gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht und deshalb auf der Roten Liste », erläutert Jörg Rüetschi. Darunter seien auch einige Gebirgsarten, für welche die Schweiz eine besondere Verantwortung trage, weil sie den Schwerpunkt ihrer Verbreitung in den Schweizer Alpen haben. Rüetschi weist auch auf weitere Besonderheiten hin: « Es gibt Arten wie die Nidwaldner Haarschnecke oder die Schwarze Kielnacktschnecke, die ende- Das nur 3 mm grosse, aber zähe Helle Kegelchen ( Euconulus fulvus ) kommt bis auf Höhen von 2800 m und sogar auf Gletschervorfeldern vor.
Bänderschnecken gehören zu den auffälligsten Schneckenarten der Schweiz. Diese Berg-Bänderschnecke ( Cepaea sylvatica ) hingegen wurde bislang nur im westlichen Urnerland und im Jura bis 2500 m gefunden.
Für Halbnackt-Schneckenarten wie die Berg-GlasschneckeEucobresia nivalis ) ist bei maximal 2800 m die Höhengrenze erreicht. Das Tier kann sich nicht mehr vollständig in das Gehäuse zurückziehen, weshalb es gegen Austrocknung und Sonneneinstrahlung weniger gut geschützt ist.
misch sind für die Schweiz, also nur hier vorkommen und sonst nirgends auf der Erde. » Doch wieso sind Schnecken speziell gefährdet? Schnecken sind sehr langsam, und einige von ihnen stellen gleichzeitig ganz besondere Ansprüche an ihren Lebensraum, die sie kleinräumig binden. Je nach Schneckenart sind diese Ansprüche ganz unterschiedlich: Die einen mögen es lieber schattig und feucht, andere sind angepasst an sonnige und trockene Standorte. Das hat zur Folge, dass bei plötzlichen Eingriffen oder Veränderungen in ihrem Lebensraum Schnecken zu wenig rasch reagieren und wegen ihrer besonderen Ansprüche auch nicht so einfach in angrenzende Gebiete ausweichen können. Wird zum Beispiel für eine Pistenpla-nierung oder für Bauten ein grosser Felsblock gesprengt, gehen dabei wichtige Kleinstrukturen verloren. Für die vorkommenden Schnecken ist es nicht möglich, einfach am Boden weiterzu-leben, und sie schaffen es oft nicht zum nächsten geeigneten Felsblock. Auf solchen Felsblöcken von wenigen Kubikmetern können aber ohne Weiteres bis zu zehn verschiedene Arten vorkommen. Wegen dieser Eigenschaften sind Schnecken auch geeignet als Bioindikatoren. Je nach Artenzusammensetzung und Häufigkeit können Fachleute mithilfe von vorkommenden Schneckenarten in einem Gebiet erkennen, wie naturnah es ist, oder Rückschlüsse auf vergangene Eingriffe ziehen. Grossflächige Kahlschläge oder Windwurfereignisse lassen sich beispielsweise noch nach Jahrzehnten an der Zahl der vorkommenden Schneckenarten nachweisen. « Heute droht vielen Schnecken allerdings eine noch grössere Gefahr als die lokale Habi-tatszerstörung », ergänzt Jörg Rüetschi. « Arten wie die Nidwaldner Haarschnecke, die bereits heute auf Gipfelhöhe leben, haben keine Möglichkeit mehr, nach oben auszuweichen, wenn es ihnen im Zuge des Klimawandels zu warm wird .» a Sabine Joss, Beatenberg Die Felsenschnecke ( Chilostoma zona-tum ) der westlichen Zentralalpen lebt auch im Wallis und Tessin, dafür kaum in Uri und Graubünden. Sie wird 25 mm breit und liebt feuchte Silikatfelsen in Schluchten vor allem der Bergwälder..
Die Schliessmundschnecke ( Cochlodina dubiosa ) wird circa 15 mm lang und lebt im Flachland und bis auf 2400 m Höhe.
Fotos: BAFU/N M B E
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