Frischer Wind im Südkaukasus Aufschwung fürs Skitourenfahren in Armenien
Das von Naturgefahren und politischer Unruhe erschütterte Armenien wird lzum Ziel für Fans von Pulverschnee. Zu ihnen gehört eine neue Generation einheimischer Alpinisten.
März 2012, ganz Armenien liegt unter einer Schneedecke. Die Hochebene, aus der eine Vielzahl von erloschenen Vulkanen aufragt, ist in mildes Licht getaucht. Gegen den Wind ankämpfend, erreichen wir mit Mühe den Gipfel des Arailer, um den Riesen der Gegend zu bewundern: den Ararat. Mit seinen 5165 Metern erhebt er sich über die Nebel von Jerewan und erscheint ganz nah. Das überwältigende Panorama erinnert an eine schmerzhafte Geschichte. Der Ararat wurde am 27. September 1829 durch den armenischen Dichter Khachatour Abovian und den russischen Arzt Friedrich Parrot erstmals bestiegen. Heute liegt der Berg auf der türkischen Seite der Grenze, die 1921 als Demarkationslinie zwischen den kemalistischen und den russischen Truppen gezogen wurde. Damit war der «Berg Noahs» nach dem Ersten Weltkrieg – geprägt durch den Völkermord von 1915 – für die Armenier unzugänglich geworden. Dies obwohl er als Symbol des armenischen Volkes gilt, das seit mehreren Tausend Jahren zwischen Mittelmeer und Kaukasus lebt.
Der im Windschatten liegende Schnee ist pulvrig geblieben und ermöglicht schöne Spuren in den Hängen gegenüber dem Aragats (4090 m), dem höchsten Punkt des Landes. Armenien liegt zwar auf der gleichen Breite wie Sardinien, aber das Kontinentalklima sorgt im Winter für tiefe Temperaturen. Zwischen den Bergen des Kleinen Kaukasus im Norden und des Zangezur im Osten erstreckt sich eine auf 1000 Metern liegende, mit Vulkanen gespickte Hoch-ebene, die einen Grossteil des Landes ausmacht. Die 200 über 3000 Meter hohen Gipfel mit ihren sanft abfallenden Hängen machen die Gegend zu einem Paradies fürs Ski-tourenfahren. Allerdings ist die Ausübung des Sports sehr schwierig, da kaum Strassen in die Berge führen.
Sowjetische Alpenclubs
Wenn man die letzten Hänge des Arailer herunterfährt, stösst man auf ein eigentümliches Geisterdorf. Es wurde als Zweitwohnsitz für Angestellte des physikalischen Instituts der Universität Jerewan geplant, scheint heute aber unbewohnt zu sein. Zu Zeiten sowjetischer Arbeitsteilung war Armenien Standort für naturwissenschaftliche Forschung und Informatik. Vor 1991 gab es in allen grossen Städten oder Unternehmen Alpenclubs. Zu den aktivsten gehörten diejenigen des physikalischen und des polytechnischen Instituts der Universität Jerewan. Zahlreiche armenische Alpinisten wie Aghvan Chatinyan, Haoutyun Yesian, Nalson Tamanian oder Aram Kosakian nahmen an Bergsteigercamps im Kaukasus und an Expeditionen in den Pamir oder Tien-Chan teil. Anfang der 1980er-Jahre fanden die Klettermeisterschaften der UdSSR zweimal in Armenien statt, und zwar in den Schluchten von Norawank und Bjni.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren die Clubs ihre Subventionen, sodass die Mitglieder nicht mehr reisen oder technisches Material kaufen konnten. Das wirtschaftliche Chaos der 1990er-Jahre liess den Bergsteigern kaum Zeit für Freizeitaktivitäten. Zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch kamen die Kosten für den Krieg in Berg-Karabach und die Folgen des Erdbebens vom 7. Dezember 1988 mit über 25 000 Toten.
Das Rettungsteam von Spitak
Um nach Spitak zu gelangen, muss man einen hübschen Pass in einer baumlosen Landschaft überqueren, die im Licht der untergehenden Sonne an die Arktis erinnert. Je näher man der Stadt kommt, desto finsterer wird die Atmosphäre. Spitak liegt immer noch zu einem Grossteil in Trümmern. Hier, im Epizentrum des Erdbebens, liegt die Wiege des neuen Bergsteigens. In den ersten Stunden des Dramas von Ende 1988 eilten die Clubmitglieder des physikalischen Instituts den Opfern zu Hilfe. Bei der Zusammenarbeit mit Rettern aus dem Ausland eigneten sie sich Know-how an. Im Juli 1989 beschlossen Valery Vardanian vom physikalischen Institut und Gerhard Maier von der Deutschen Bergrettung (Rotes Kreuz), ein Rettungszentrum zu gründen. Das zum «Rettungsteam von Spitak» gewordene Zentrum ist heute in ganz Transkaukasien bekannt. In Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen Rettungsorganisationen entstand eine gut eingespielte Gruppe für schwierige Rettungsaktionen.
Das Team werde durch die gemeinsame Liebe zu den Bergen zusammengehalten, erklärt der 32-jährige Mkhitar Mkhitarian, der uns auf dieser Reise begleitet. «Uns verbindet die Leidenschaft. Bis 1996 waren wir das einzige Rettungsteam im ganzen Land. Seither hat die Regierung öffentliche Rettungsstationen gebildet, aber wir sind weiterhin die Einzigen, die auf Bergrettungen spezialisiert sind.» Im vergangenen August sass einer von ihnen, der 35-jährige Andranik Miribian, bei einem Soloversuch am Ouchba (4710 m, Georgien), auch «Matterhorn des Kaukasus» genannt, fest. Unverzüglich reisten seine Freunde nach Mestia in Svanetien, um den georgischen Rettern zu helfen. Miribian konnte sich schliesslich nach vier Nächten ohne Nahrung und ohne Abstiegsmaterial selber befreien.
Die Armenier fuhren in den zwei kleinen Skigebieten Jarmouk und Dzargatsor schon länger Ski. Aber Skitourenfahren war ihnen bis Ende der 90er-Jahre unbekannt. Es waren deutsche Retter, die das Skitourenpotenzial des Landes erkannten und die Tourenskier mitbrachten. Sie rüsteten auch das Team von Spitak aus und lehrten es Abfahrtstechnik und Beurteilung der Lawinengefahr.
Die Generation der Erneuerung
Als Anhänger grosser Schwünge und schöner, ursprünglich gebliebener Hänge, die sie nicht in erschlossenen Skigebieten fanden, nehmen Mkhitar und seine Freunde beim ersten Schneefall die Felle hervor. Sie stellen ihr Wissen über die armenischen Berge inzwischen in den Dienst von Besuchern aus dem Ausland, entweder im Auftrag von Reiseagenturen oder aus eigenem Antrieb. Am meisten wird die Ausbreitung des Sports durch die Probleme mit der Ausrüstung behindert. Sie ist in Armenien kaum vorhanden und muss für teures Geld importiert werden. Aber die Armenier sind es gewohnt, zu improvisieren. In Ermangelung von guten Karten haben sie eine besondere Meisterschaft im Umgang mit Google Earth entwickelt, die sie für die Suche nach Routen einsetzen.
Zur Verbreitung ihrer Leidenschaft fürs Klettern und Skitourenfahren haben Mkhitar und Andranik 2008 den Club «Up the Rocks» ins Leben gerufen. Jeden Frühling organisieren sie ein Kletterfestival, um den Sport bekannt zu machen und neue Routen zu eröffnen. Im Land gibt es heute zwar nur etwa 120 erfasste Routen, aber die Klettercommunity wächst schnell. Die Einrichter haben bereits eine Ethikcharta ausgearbeitet, damit die spektakulären Klettergebiete besser geschützt werden können. In den Schluchten von Garni zum Beispiel sorgen senkrechte Basaltorgelpfeifen mit mehr als 100 Metern Höhe für erstaunliche Linien. Der bekannte französische Kletterer Alex Chabot drehte hier einen Film, der um die Welt ging und es auf die Titelseite des amerikanischen Klettermagazin «Rock & Ice» schaffte.
Wie fast die Hälfte der Armenier leben auch die meisten armenischen Bergsteiger in der Hauptstadt Jerewan. Andranik hingegen hat sich in die Höhen des kleinen Dorfs Hovk zurückgezogen, wo er eine Unterkunft unweit von Goshavank baute, einem der grossartigen Klöster aus dem Mittelalter, die man nicht verpassen darf, wenn man Armenien bereist.
Während zehn Tagen blies der Wind ununterbrochen und verwehrte uns einige Gipfelbesteigungen. Aber am letzten Tag war der Himmel über dem Sevan-See frei gefegt. Mkhitar und ein anderer Veteran aus Spitak haben einen Weg zum Tchakhkouniask ausgekundschaftet. Die Reise geht also mit einem magischen Tag zu Ende. Der Horizont wird mit jedem Schritt weiter und enthüllt allenthalben neue, unverspurte Hänge. Wir kommen wieder.