Fontainebleau ist der Jungbrunnen für Senioren: Bouldern in jedem Alter
In der Schweiz trifft man beim Bouldern selten Klettererinnen und Kletterer über Vierzig. Bouldern ist hier offenbar ein Sport der Jungen. Im Wald von Fontainebleau unweit von Paris ist das ganz anders.
Sie sind 45, 57 oder sogar 69 Jahre alt: Eine Vielzahl passionierter Protagonisten der Boulderbewegung der Achtzigerjahre, ja sogar der Sechzigerjahre treiben sich immer noch im Wald von Fontainebleau herum. Zu ihnen gehören Françoise und Jo Monchaussé, zwei Figuren, die hier praktisch zum Inventar gehören. Das Paar begann erst spät mit dem Klettern, nach der Geburt des ersten Kindes. Aber jetzt, 33 Jahre später, lodert das Feuer der Leidenschaft immer noch. Früher waren Jo (64) und Françoise (60) viel unterwegs. Es machte den beiden nichts aus, Wochenende für Wochenende viele Kilometer abzuspulen, um an den In-Plätzen der Achtzigerjahre wie etwa Buoux, Verdon, Mouriès oder Saussois zu klettern. Seit sie aber pensioniert sind, bouldern die beiden nur noch; und weil sie in Barbizon, einem berühmten Malerdorf des 19. Jahrhunderts mitten in Fontainebleau, wohnen, war der Wechsel in den Wald logisch. «Wir lieben das Gesellige am Bouldern, denn hier können wir mit der Familie klettern. Wir verbringen die Tage oft mit unseren Enkeln im Wald. Der grosse Vorteil ist, dass man problemlos im gleichen Sektor jeden Schwierigkeitsgrad findet. Jede Generation findet ihr bevorzugtes Terrain, denn hier ist das Klettern oft eine Frage der Einstellung und des Gefühls, und nicht allein der Kraft, wie das in anderen Bouldergebieten oft der Fall ist. Es hat eine unglaubliche Vielfalt von Boulderproblemen, und jeder findet die Route, die ihm entspricht», erklärt Françoise begeistert. Und Jo ergänzt: «Bouldern kann man zwar mit grösster Ernsthaftigkeit ausüben, vor allem ist es aber auch eine spielerische Angelegenheit. Sogar jemand aus den Bergen kann hier Spass haben. Er wird ein neues Gefühl erleben, und manchmal muss er zu neuen Tricks greifen, damit er überhaupt vom Boden wegkommt.» Hier in Fontainebleau gebe es auch keine Geschlechtertrennung, alle könnten zusammen klettern. Das sorge für eine gute Stimmung. «Ganz zu schweigen davon, dass man mit zunehmendem Alter auch gutes Essen und Trinken mehr und mehr zu schätzen weiss», sagt Jo, «und in diesem Bereich ist die Region absolute Spitze.»
Es ist schwierig, den Anfang des Kletterns im Wald von Fontainebleau mit Sicherheit zu datieren. Eingeritzte Daten vom Ende des 19. Jahrhunderts zeugen davon, dass einzelne Blöcke bereits damals bestiegen wurden. Zu Beginn des 2O. Jahrhunderts wurde damit begonnen, die Besteigungen zu registrieren. 1908 bestieg Jacques Wehrlin im Sektor «Bas Cuvier» mit Nagelschuhen einen Riss, der heute mit einer FB 3 bewertet wird und seinen Namen trägt. 1910 wurde die «Groupe des Rochassiers» – die Gruppe der Felskletterer – gegründet, der die Entdeckung der wichtigsten Massive und der interessantesten Sektoren zu verdanken ist. In der Zwischenkriegszeit stieg das klettertechnische Niveau mit dem Aufkommen der Espadrilles, welche die Nagelschuhe ablösten. In den Dreissigerjahren dann wurde das «Massif des Trois Pignons» erschlossen. Pierre Allain, ein Ausnahmekletterer und genialer Erfinder, schloss sich der 1924 gegründeten «Groupe de Bleau» an. Er wurde deren Aushängeschild, weil er die Grenzen des Machbaren laufend weiter hinausschob. 1934 erfand er die ersten Kletterfinken, mit einer Gummireibungssohle. 1945, 1946 und 1947 waren entscheidende Jahre für Fontainebleau und das moderne Klettern, denn in jenen Jahren kam das erste Klettertopo heraus, realisiert von Maurice Martin über das Gebiet «Bas Cuvier». Dann wurde Marie-Rose eröffnet, die erste offizielle 6a, geklettert von René Ferlet, ebenfalls im Bas Cuvier». Und im «Cuvier Rempart» wurden die ersten schweren Rundgänge, die sogenannten Circuits, etabliert, die einen anhaltenden Effort erfordern und so einer kleinen Bergtour gleichkommen (siehe auch vorangehenden Artikel ). Dies war die Geburtsstunde der Circuits und der Pfeile, welche den Kletternden den Weg weisen. Von diesem Moment an stieg das Niveau immer weiter: 1960 gelang die erste 7a, L' abatoir, von Michel Libert, 1984 die erste 8a, C' était demain, von Jacky Godoffe, gefolgt 1993 von der ersten 8b, Fat man, durch den gleichen Kletterer.
Bevor Fontainebleau zum Schauplatz von Leistungen auf höchstem Niveau und das Bouldern zu einer eigenen Kletterdisziplin wurde, war der Wald das Trainingsgebiet der Pariser Bergsteiger, die zu den besten ihrer Zeit gehörten. Die Hälfte der zehn Mitglieder der ersten französischen Himalaja-Expedition (Karakorum 1936) ging aus der « Groupe de Bleau » hervor. 1954 wurde die Südwand der Aconcagua mit Robert Paragot, Lucien Bérardini, Guy Pulet und René Ferlet erobert, auch sie gehörten zu den Bleaus. Noch heute ist Fontainebleau das Mass aller Dinge im Bouldern. Hier sind Klettererinnen und Kletterer aus der ganzen Welt anzutreffen, und an den langen Wochenenden, etwa an Ostern, klettern hier Hunderte Leute jeden Alters. Mit etwas Aufwand lässt sich aber auch in den Stosszeiten eine ruhige Ecke finden. Damit man sich beim ersten Besuch nicht verliert, empfiehlt Jo, jemanden mitzunehmen, der sich im Wald gut auskennt und einem die schönsten Sektoren zeigen kann. In 30 Jahren Klettern haben Françoise und Jo viele Veränderungen miterlebt. Die Crashpads, welche seit etwa 15 Jahren verwendet werden, haben das Klettern stark verändert. Boulder, deren Landezonen gefährlich sind oder Könnern vorbehalten waren, sind so zugänglicher geworden. Auch die Verwendung von Magnesium ist eine weit verbreitete Praxis. Jo erzählt: « Vor dem Magnesium verwendeten wir Pof, das ist Geigen- oder Tannenharz, um die Haftung zu verbessern. Viele Kletterer setzen es immer noch ein. Es hat den Vorteil, diskreter zu sein als Magnesium, das grosse, weisse Flecken hinterlässt. Das ist eigentlich kein Problem, aber die Kletterer müssen sich angewöhnen, es wieder abzubürsten, wenn sie fertig sind mit Klettern.» Das Wichtigste aber sei, betont Jo, dass alle darauf achten, das Crashpad nicht vom einen zum nächsten Boulder über den Boden zu schleifen. Dies schädige die Pflanzenwelt und fördere die Erosion am Fuss der Felsen. « Die Natur ist wegen der hohen Besucherzahlen in den populärsten Gebieten ohnehin schon arg strapaziert», meint Françoise.
«Ein weiterer Vorteil beim Bouldern ist das begrenzte Risiko», ergänzt Jo, «natürlich gibt es sehr hohe Boulder, die viel Engagement erfordern, aber niemand zwingt dich, ausgerechnet hier zu klettern.» Françoise hat sich einmal verletzt, als sie von einem Boulder herunterkam: «Ich passte nicht genügend auf. Der Abstieg war mit nassem Laub bedeckt. Ich rutschte aus und brach mir das Bein. Jetzt bitte ich Jo immer, dass er mir hilft, und wir sind sehr vorsichtig beim Abstieg. Seither haben wir keine Verletzungen mehr zu beklagen, obschon wir zwei bis vier Mal pro Woche hier klettern.» Seit einigen Jahren bevorzugt Jo, der immer noch auf sehr hohem Niveau klettert, Traversen. Diese Boulderprobleme in geringer Höhe bieten den Vorteil, dass viele Kletterzüge aneinander-gehängt werden können, ohne an Höhe zu gewinnen. « Mein Rücken lässt nicht mehr viele Absprünge zu. Mit den Traversen kann ich immer noch an meiner persönlichen Leistungsgrenze klettern, ohne mir wehzutun. Die Traversen interessieren die Jungen nicht so sehr, aber im Alter werden sie alle hierherkommen », fügt Jo schmunzelnd hinzu.