Ferieneindrücke aus den italienischen Meeralpen
VON STEFAN JASIENSKI, HERZOGENBUCHSEE
Mit einer Kartenskizze und 1 Bild ( 96 ) Vor vielen Jahren stand ich auf dem Gipfel des Zermatter Breithorns und genoss die prachtvolle Rundsicht bei günstigsten Verhältnissen. Besonders interessant war der freie Blick nach Süden, wo nach dem imposanten Viertausender Gran Paradiso auch noch der Mte.Viso ( 3841 m ) erkennbar war, an dessen Fuss der Po entspringt. ( Ein neben mir stehender Berliner behauptete sogar, durch seinen Feldstecher Schiffe auf dem Mittelmeer erkennen zu können, was wohl einer leichten Trübung seines Sehvermögens zuzuschreiben warNun, sei es wie es wolle, damals erwachte mein Interesse nach diesen « fernen » Alpen und mein Wunsch, diese näher kennenzulernen. Aber wie so mancher andere, musste dieser Wunsch zurückgestellt werden, und als er endlich doch in Erfüllung ging, war es mir nur noch vergönnt, diese Berge zur Kur aufzusuchen, um die Schäden zu behandeln, die wir ( meine Frau und ich ) uns bei Skiunfällen zugezogen hatten.
Da, wie ich aus vielen Gesprächen mit Clubkollegen entnommen habe, unsere Kenntnisse jener Alpenausläufer nicht gerade als vorzüglich bewertet werden können, mag ein allgemeiner Überblick gegeben sein.
Es ist uns allen bewusst, dass die Schweiz nur den Mittelteil der Alpenkette umfasst und sich sowohl nach Osten wie nach Westen weitere Ausläufer anschliessen. Die Westalpen, die später nach Süden abbiegen, stossen dabei zwischen Nizza und Ventimiglia ans Mittelmeer.
Man unterscheidet zwischen der Schweiz und dem Meer folgende Unterteilungen in der Alpenkette:
Grajische Alpen mit dem höchsten Gipfel Gran Paradiso 4061 m- Cottische Alpen mit dem höchsten Gipfel an der italienisch-französischen Grenze Mte.Viso 3841 m; Meer-Alpen mit dem höchsten Gipfel Cima d. Argenterà 3297 m.
Anschliessend ( die Grenze liegt am Tende-Pass ) folgen nun in westöstlicher Richtung die Ligurischen Alpen, die der Riviera di Ponente folgen.
Nördlich der Ligurischen Alpen und östlich der Meeralpen ist eine, dem schweizerischen Mittelland ähnliche, Ebene mit der Stadt Cuneo im Zentrum ( auf französischen Karten Coni geschrieben ). Cuneo liegt in 587 m Höhe, die Abdachung geht in nördlicher und nordöstlicher Richtung zum Po hinunter.
Der Fluss Tanaro schwenkt bei Asti ( 120 m ) scharf nach Osten ab.
Es ist nützlich, dieser Übersicht beizufügen, dass es zwischen der Schweiz und dem Meer nur folgende wichtige Passstrassen in westöstlicher Richtung gibt: Piccolo San Bernardo, 2188 m, französisch Col du Petit S. Bernard, Verbindung von Séez ( F ) nach Aosta ( I ). Col du Mont Cenis, 2083 m, italienisch Colle d. Moncenisio, Verbindung von Lanslebourg ( F ) mit Susa ( I ). Col du Montgenèvre, 1854 m, italienisch Colle d. Monginevro, Verbindung von Briançon(F)nach Ulzio und Susa sowie ostwärts im Anschluss über den Col di Sestriere nach Fenestrelle und weiter nach Pinerolo ( I ).
Col de Lärche, 1997 m, italienisch Colle di Maddalena, verbindet Barcelonnette ( F ) mit Cuneo ( I ). Col de Tende, 1908 m, italienisch Colle di Tenda, verbindet Nizza ( über Sospel ) ( F ) und Cuneo ( I ).
Ein Scheiteltunnel bildet die Bahnverbindungen Nice ( Nizza ) und Ventimiglia mit Cuneo-To-rino 1. Er bildet auch die Grenze zwischen den Meeralpen und den Ligurischen Alpen.
Es war mir nun in den Jahren 1959 und 1961 anlässlich von zwei Aufenthalten möglich, einen recht guten Einblick in die landschaftlichen Verhältnisse der italienischen Meeralpen zu gewinnen, Cuneo > M. Vaccia,
VJ Bagni di Vinadio '
M M£no +i Terme di Valdìeri V. Colle di Tenda C. d. Argenterà © S. Marlin Vesuvie leider ohne irgendwelche Besteigungen ausführen zu können. Ich glaube dennoch, den Clubkameraden mit Hinweisen einen Dienst zu erweisen, die in jene Gegend reisen möchten, um Besteigungen auszuführen, indem ich eine kurze Beschreibung des Gebietes gebe.
Im Sommer 1959 verbrachte ich Ferien in Bagni di Vinadio, 1337 m. Diese Thermalbäder liegen in einem Seitental des Valle Stura di Demonte, also nur wenig abseits der Passstrasse des Colle di Maddalena. Die Ortschaft Vinadio liegt an der Passstrasse selbst im Haupttal, die Bäder dagegen 1 Die Bahn wurde im Krieg 1939-1945 zerstört und soll wieder erneuert werden.
im Seitental, das aus südwestlicher Richtung einmündet, in einer Gabelung zweier Täler. Es sind 8 Quellen mit Schwefelwasser von 30-62° C vorhanden.
Im Jahre 1961 machte ich einen Aufenthalt in Terme di Valdieri, 1375 m, zuhinterst im Valle Gesso, einem v-förmig eingeschnittenen Tal am Südfuss des Mte. Matto, 3097 m. Hier sind 32 Quellen von Schwefelwasser von 42-72° C vorhanden.
In der Luftlinie sind beide Thermalbäder nur 18 km voneinander entfernt, so dass anzunehmen ist, dass sie einen gemeinsamen, vulkanischen Ursprung besitzen.
( Wir haben in der Schweiz keine analoge Heilquelle zur Verfügung, da das Quellwasser im Schwefelbergbad, 1398 m, nur 7° C aufweist und somit künstlich erwärmt werden muss. ) Die Kuren in Valdieri und Vinadio sind gleichartig und umfassen sowohl die Anwendung des heissen Schwefelwassers wie auch des Quellschlammes. Das heisse Wasser wird in Bädern und in Schwitzgrotten, wo es an den Wänden herabfliesst ( Stufa ), angewandt. Die Kur besteht darin, in einer solchen Grotte 10 bis 20 Minuten auszuharren, bei einer Temperatur von über 40° C. Die Quellschlammpackungen ( Fango ) werden so heiss, als es die Haut verträgt, appliziert, wobei ein Kessel von 50 kg Inhalt für einen Patienten eingesetzt wird. Der Lagerbestand an Quellschlamm ist so gross, dass der gleiche Schlamm nicht vor zwei Jahren wieder in Gebrauch kommt.
Nun waren in beiden Jahren die Witterungsverhältnisse im August so, dass jeden Morgen ein strahlend schönes, klares Wetter herrschte. Im Laufe des Vormittags kamen aber Wolken auf, die sich am Nachmittag immer mehr verdichteten und zusammenballten, so dass man oft in den Wolken völlig eingehüllt wurde. Es war oft finster, und der Regen schien unmittelbar folgen zu wollen. Es regnete aber nie oder nur einige Tropfen ganz lokal. Es ist deshalb ratsam, Ausflüge und Besteigungen auf den frühen Morgen zu verlegen.
Vinadio erinnert stark an unsere Walliser und Tessiner Seitentäler. Karge Äckerlein, viel Wassererosion durch unverbaute Wildbäche, schöne Wälder mit grossem Laubholzanteil. Die Wiesen dagegen sind anders geartet. Ganze Halden sind dicht mit Wermut bewachsen, der im August schon fast dürr ist und der Landschaft ein besonderes Gepräge gibt. Valdieri sieht trotz gleicher Meereshöhe viel alpiner aus. Die schönen Wälder wechseln mit Geröll- und Schutthalden ab. Die Waldgrenze liegt auf ca. 2000 m. In feuchten Waldlichtungen trifft man das Minzkraut. Was überall erfreut, ist das viele frische und lebendige Wasser, das kaum genutzt wird. Nur kleine Elektrizitätswerke, die nur das Dorf oder Badhotel versorgen, sind an beiden Orten vorhanden und stellen keinen störenden Eingriff in das Landschaftsbild dar. Aber dieser idyllische Zustand wird kaum mehr von langer Dauer sein, da wir schon von verschiedenen Stauprojekten hörten, die ganze Seitentäler in Stauseen verwandeln sollen. Es scheint, dass die Niederschläge im Winter bedeutend sind und auch grössere Schneemengen, besonders im März, fallen. Es wurden uns Schneehöhen-markierungen gezeigt, die 3 m Höhe angaben. Auch waren an verschiedenen Orten Lawinenschäden vorhanden, die einen deutlichen Beweis von entfesselten Kräften geben.
An den höchsten Bergen gibt es kleine Gletscher, die im August fast an den Flanken zu « hängen » scheinen, weil sie klein und nur in den tiefsten, beschatteten Couloirs eingebettet sind. Am schönsten wirken sie in der Gruppe der Argenterà.
Diese umfasst:
Punta del Gela Lourousa 3261 m ( Gela = Gletscher ) Cima Argenterà Nord 3268 m Cima Argenterà Sud 3297 m ( höchste Erhebung der Meeralpen ) Cima Paganini3051 m Cima di Nasta3108 m Cima del Baus3067 m Die Besteigung aller dieser Gipfel erfolgt vom dem CAI gehörenden Refugio L. Bozano, in 2453 m Höhe, aus, das vom Badhotel in Valdieri in 3 %Z Stunden zu erreichen ist.
Fauna: In diesen Gebieten lagen früher die königlichen Jagdbannbezirke, daher findet man oft in den Ortsnamen die Bezeichnungen wie « Pian de Ré » und die vielen, in fast allen Tälern vorhandenen alten Jagdhütten, « Casa di Caccia ». Auch waren früher die Strässchen und Saumpfade zu diesen Jagdstützpunkten sehr sorgfältig ausgebaut und unterhalten damit der König mit seinem Gefolge diese leicht erreichen konnte. Durch den Krieg hat das alles sehr gelitten. Viele der Jagd-häuser sind zerstört und ausgebrannt oder dem Verfall überlassen. Die Zerstörungen werden entweder den deutschen Wehrmachtsangehörigen oder den Partisanen zugeschrieben, wobei letztere die Zerstörungen vornahmen, damit die Deutschen keinen Gebrauch mehr von den Schutzhäusern machen konnten.
Vom Hotel Valdieri aus kann man mit dem Feldstecher Gemsen in den Geröllhalden des Mte. Matto beobachten. Im Seitentälchen « Valletta » pfiffen die Murmeltiere ihren Warnruf, wenn Fussgänger kamen, blieben aber schön ruhig sitzen, wenn ein Auto auf der sehr ausbaubedürftigen Strasse mit einer Höchstgeschwindigkeit von 10 km vorbeifuhrViele und schöne Schmetterlinge flatterten auf den sonnigen Hängen.
Die früheren « königlichen Strassen » in die hintersten Täler sind teilweise im gänzlichen Verfall. So ist z.B. das Fahrsträsschen vom Hotel Valdieri zur ehemaligen Jagdhütte im Valasco-Tal auf einer Länge von gegen 300 m durch Unterspülung in den Bach gerutscht und so belassen worden. Da dieser Erdrutsch wenig hinter dem Hotel erfolgte, kann man in dieses Tal nur zu Fuss gehen, wobei der Fussweg besser und bequemer ist als das Begehen der verlassenen Fahrstrasse, die von der Vegetation überwuchert wurde.
Das ganze Tal soll Privatbesitz sein und dazu bestimmt, in einen Stausee verwandelt zu werden, dessen Staudamm nur wenig oberhalb des Hotels zu erbauen vorgesehen ist.
Die Ruinen des königlichen Jagdhauses im Talboden ( auf 1763 m ) liegen am Fusse kahler, mit grossen Geröllhalden bedeckter Berge: Testa del Claus 2889 m, Cima della Lausa und Mte. Ma-linvern 2939 m. Unterhalb dieser Gipfel liegen auf einer Terrasse die Seelein Lago delle Portette 2361 m, und Lago del Claus 2344 m. Die Berge wiesen im August 1961 keine Schneeflecken mehr auf, so dass hier keine « hängenden » Gletscher zu finden sind. Eine Clubhütte ist auf 2388 m Höhe erstellt, das Rifugio Questa.
Der CAI hat Wegmarkierungen zu den Schutzhütten vorgenommen und Tafeln am Ausgange der beiden Talstationen angebracht. In Bagni di Vinadio ist auch ein Posten der « Alpinen Hilfe » vorhanden, der Soccorso Alpino Posto di Chiamata. Es besteht ein Projekt für den Bau einer internationalen Strasse, die hinter dem Hotel Valdieri durch das « Valletta»-Tal bis zum Kesselboden ( Piano della Casa del Ré ), in fast 1800 m Höhe, führen soll, wo ein Tunnel unter dem Grat zwischen der Cima Ghiliè ( 2998 m ) und der Cima di Fremamorta ( 2731 m ) vorgesehen ist. Der Scheiteltunnel würde ca. 3 km lang werden, wobei man uns mit verschmitztem Lächeln sagte, dass der grössere Teil zulasten der französischen Seite entfalle, da die Grenze 1945 zugunsten Frankreichs verschoben worden seiIm Französischen würde die Strasse nach Le Boréon und St-Martin Vésuble führen und wäre relativ einfach zu erstellen, eine Verbindung nach Nizza.
Wenn man auf der Karte diese Trasseführung überprüft, so leuchtet einem kein Vorteil gegenüber der bestehenden Verbindung über den Tendepass ein, insbesondere da dieser bestehende Scheiteltunnel auf nur 1321 m Höhe liegt.
Besiedelung: Bagni di Vinadio ist eine kleine Siedlung mit Kirche, Schulhaus, Post und zwei bis drei einfachen Gasthäusern, Spezereiladen, Bäckerei usw. Die bis zum Badhotel bestehende, gute Fahrstrasse führt noch 5 km weiter bis zum letzten Dörflein Callieri ( 1455 m ), ist aber auf dieser Strecke gerade noch befahrbar. Noch höher liegt die kleine Siedlung S. Bernolfo ( am Hange des M. Laroussa, 2905 m ), doch kommt man nur mit dem Jeep zu ihr hinauf. Im Seitentale Ischiator hat es kleine Siedlungen mit kärglichen Äckerlein und kleinem Viehbestand.
Im Sommer 1959 haben wir viel Militär angetroffen, das in Zeltlagern untergebracht war. Es waren junge Rekruten, die in Ausbildungslagern lebten.
Terme di Valdieri dagegen ist keine Dorfsiedlung. Ausser dem Badhotel sind nur eine kleine Tou-ristenherberge mit Laden und Postablage, ein Carabinieriposten und eine kleine Kapelle vorhanden, in der gerade vier Mann Platz finden. Auf den Spaziergängen in der Umgebung traf man ausser Kurgästen und, übers Wochenende, Bergsteigern kaum Menschen an. Der Raum schien wirklich menschenleer!
Autotouristen kamen nicht nur von Cuneo herauf, sondern auch, nach den französischen Wa-gennummern ( aus dem Departement Alpes-Maritimes ), aus Nizza. Weiter unten im Tale, wo Klima und Vegetation rapid südlich werden, hat es schöne Dörfer, die auch als Kuraufenthalt und Sommerfrische dienen.
Ich möchte noch einige praktische Hinweise geben, z.B. betreffend das vorhandene Kartenmaterial. Die besten Karten der Gegend sind die offiziellen französischen Ausgaben. Die offizielle italienische Karte 1:100 000 ist schwer leserlich und veraltet, sie ist nach Aufnahmen aus den Jahren 1901-1937, mit Nachführung wichtiger Korrekturen 1951, herausgegeben. Dagegen ist die Strassenkarte des Touring Club Italiano, 1:200 000, sehr gut ( Blatt 7 und 10 ) und wesentlich besser als die Michelin-Karten im gleichen Massstab. Für die Zufahrt aus der Schweiz sind als günstigste Strassen entweder die Route Grosser St. Bernhard—Turin—Cuneo zu wählen oder über den Mt. Ce-nispass. Es sei nur nebenbei vermerkt, dass wir 1962 an einem Samstag im Juli über den Mt. Cenis fuhren, wobei wir über Mittag am Zoll weit und breit, weder vor noch nach uns einen Wagen sahen, während an demselben Tag am Gotthard ein Rekordverkehr herrschte. Für die Rückreise sollte man den Maddalenapass wählen, da dieser den grossartigsten Eindruck beim Befahren talaufwärts bietet. Von Barcelonnette aus kann man die bekannte französische « Route des Alpes » benützen.
Für nicht motorisierte Interessenten sei noch vermerkt, dass direkte Autobuskurse sowohl von Cuneo als auch von Turin aus ( letztere allerdings nur in der Hochsaison ) geführt werden. Die Bäder sind von Ende Mai/Anfang Juni bis September im Betrieb.