«Es geht, aber ich gehe nicht» Melchior Anderegg, «König der Bergführer»
Mit seiner umsichtigen Art prägte Melchior Anderegg im 19. Jahrhundert das Bild der Schweizer Bergführer. Bekannt machten ihn aber auch seine unkonventionellen Ansichten, mit denen er den Alpinismus seiner Zeit voranbrachte.
Es ist ein bedeutender Händedruck, den sich die beiden Männer am Mittag des 22. Augusts 1864 auf über 4000 m Höhe geben. Während der Haslitaler Bergführer Melchior Anderegg mit Leichtigkeit die schwierigen Felszacken erklomm, musste sich der Engländer Leslie Stephen in seinem Schlepptau Meter für Meter emporarbeiten. Nach zehn Stunden eines – zumindest für den Gast aus London – mühseligen Aufstiegs und schwerer Kletterei am ausgesetzten Nordgrat haben sie es vollbracht. Das Zinalrothorn ist bestiegen. Es wird bis zu Andereggs Tod 1914 die felstechnisch anspruchsvollste Erstbesteigung bleiben für den «König der Bergführer», wie Anderegg von seinen Gästen manchmal genannt wird.
Punkto Kletterkönnen sind ihm andere Führerkollegen wie Christian Almer oder Michel Croz zwar mindestens ebenbürtig. Andereggs Art, mit seinen Begleitern umzugehen, und seine Fortbewegung in Schnee und Eis bleiben einzigartig. Mit seinem oft zitierten Umkehrspruch «es geht, aber ich gehe nicht» verkörpert er Mitte des 19. Jahrhunderts den Archetyp eines umsichtigen Führers, der mit seinen Gästen lieber einmal zu viel als zu wenig eine Bergtour abbricht.
Keine Berührungsängste
So liest man die lange Liste seiner Erstbegehungen erst recht mit grossem Staunen. «Stramme Leitung, geschickte Bewältigung ungewöhnlicher Hindernisse, Ruhe in der Gefahr und freundliche Fürsorge», so fasst H. Dübi in seinem im SAC-Jahrbuch 1914 erschienenen Nachruf Melchior Andereggs Stärken am Berg zusammen.
Innerhalb der Bergführergilde darf Anderegg zu den innovativsten Kräften seiner Epoche gezählt werden. In einer
Zeit, in der es selbstverständlich ist, dass Frauen zu alpinen Vereinen keinen Zutritt haben, hat er keine Berührungsängste, auch weibliche Gäste auf Berggipfel zu begleiten. So steht 1871 unter seiner Führung – nur sechs Jahre nach Whymper – mit Lucy Walker erstmals eine Frau auf dem schmalen Gipfelgrat des Matterhorns.
Kürzer, leichter, schneller
Seine unnachahmliche Technik des Stufenschlagens im Eis ist bereits aus seiner Anfangszeit in den 1850er-Jahren dokumentiert. In den folgenden zwei Jahrzehnten treibt Anderegg, ursprünglich Bauer und Holzschnitzer, diese Kunst bis zur Perfektion. Seine kurzen und schnellen Schläge werden zu seinem Markenzeichen. Ausserdem neigen sich die von Anderegg gemachten Tritte leicht gegen innen. Seinen Gästen gewähren sie mehr Sicherheit als die herkömmlichen Stufen, die Gefahr eines Abrutschens ist kleiner.
Zur selben Zeit sinniert man auch beim englischen Alpine Club in Londons Innenstadt über die fortschreitende Technik. Den dort im Sommer 1864 gemachten Erkenntnissen über verschiedene Pickelkonstruktionen schenkt man in Bergsteigerkreisen aber keine allzu grosse Beachtung. So vertraut etwa ein Edward Whymper lieber auf die Kenntnisse eines bergerprobten Melchior Andereggs und benützt wohl auch bei der Erstbesteigung des Matterhorns 1865 eine Kopie von dessen Eispickel.
Es spricht für den Pioniergeist Andereggs, dass er mit dem von Whymper noch als «schneidende Waffe» bezeichneten Gerät nur kurze Zeit zufrieden ist. Bald verwendet er als einer von wenigen einen nur knapp einen Meter langen Eispickel, der im Vergleich zu seinem früheren Gerät zudem fast ein Kilo leichter ist. Dieser kürzere und leichtere Schaft leistet ihm fortan beim Stufenschlagen bessere Dienste.
Bruch mit den Erwartungen
Mit den anderen Modellen schlägt man seines Erachtens zu wuchtig. Indem man zu grosse Eisstücke wegsprenge, verderbe man die Stufen. Zudem brauche man zu viel Kraft und Zeit. Dübi erinnert sich in seinem Nachruf, dass Anderegg den kürzeren «Damenpickel meiner Frau meinem Pilkington-Modell ‹fast› vorgezogen hätte». Seine unkonventionelle Seite, die gerne mit an ihn gerichteten Erwartungen bricht, zeigt er nicht nur in den Bergen. Auch seine Reisen geben ein gutes Zeugnis davon: Als Leslie Stephen Anderegg bei einem Blick über Londons Dächermeer Sehnsüchtiges entlocken will, entgegnet ihm dieser trocken: «Es ist viel schöner.» Anderegg meint damit zum Erstaunen von Stephen aber nicht das von ihm angesprochene Panorama vom Mont Blanc, sondern die Aussicht über die englische Metropole.