Erhard Loretan (1959–2011)
Der Ausnahmealpinist weilt nicht mehr unter uns. Das SAC-Ehrenmitglied stürzte Ende April am Grünhorn 200 Meter unter dem Gipfel ab.
Ich musste mich kneifen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume...
Vergangenen Frühling hatte ich in Begleitung von Erhard Loretan und André Georges das Vergnügen, die Pointe de Vouasson zu besteigen, einen bescheidenen Gipfel von 3500 Metern Höhe, der aber eine ausserordentliche Aussicht über die ganzen Alpen ermöglicht. Ich musste mich auch kneifen, damit ich bewusst wahrnahm, dass ich mit zwei grossen Gentlemen der Berge unterwegs war. Ich dagegen kam mir vor wie ein 1.Liga-Fussballer, der das Privileg hat, mit den Weltstars Messi und Ronaldo ein paar Bälle zu kicken.
Einen Monat später erreichte uns die Nachricht von Erhard Loretans Unfalltod. Wie viele andere glaubte auch ich, dass er unantastbar ist, einer, der über allen steht. Er ist in Ausübung seines Berufs als Bergführer gestorben, also bei seiner liebsten Tätigkeit, nämlich seine Liebe zu den Bergen mit anderen zu teilen. Pierre Morand, ein Freund und Kamerad der ersten Stunde, hat die richtigen Worte gefunden, um ihm die Ehre zu erweisen: « Wenn es ans Bilanzziehen geht, ist es nicht wichtig, zu wissen, ob du gewonnen oder verloren hast, entscheidend ist, wie du gespielt hast. Erhard hat nie betrogen !» Mitgespielt und gewonnen hat Erhard sehr wohl, und zwar im Konzert der ganz grossen Alpinisten, und wie er dort mitgehalten hat. Und seine Bilanz ist ohne Makel, er hat nie gegen seine Ethik verstossen, eine Ethik, die nur noch von seiner Ästhetik übertroffen wurde. Erhard war der dritte Mensch, der alle Achttausender der Erde bestiegen hat, gleichzeitig hat er auch Enchaînements und Solobesteigungen gemacht, die vielleicht nicht so bekannt sind, dafür aber seinen Kollegen umso mehr Anerkennung abgerungen haben. Dazu kam immer diese Lust, die Grenzen hinauszuschieben. In dieser Hinsicht war er ein Neuerer; ein Routeneröffner war er sowieso, für uns war er eine permanente Ermutigung, unsere Grenzen auszuloten.
Besser als sonst irgendjemand verkörperte er die Formel « Jedem sein eigener Everest ». Ich sehe Erhard noch, wie er mit seinem schelmischen Lächeln Bewunderung für eine seiner Kundinnen ausdrückte, die sich einen Traum erfüllt hatte: auf einer Haute Route im Winter die Cabane de Bertol zu erreichen und sich so mit ihrer multiplen Sklerose zu versöhnen. Denn Erhard hatte etwas Entscheidendes begriffen: Es führt zu nichts, die verrücktesten Gipfel zu erreichen. Der Berg muss uns helfen, den Alltag besser zu bewältigen. Er brauchte keinen Achttausender, um glücklich zu sein. Gewiss, er hat auf dem Dach der Welt einzigartige Minuten verbracht – er blieb mehr als eine Stunde auf dem Gipfel –, immer im Wissen, dass das Entscheidende in den Bergen ist, heil wieder herunterzukommen. Und sei es nur, um an der aussergewöhnlichen Dimension, die uns die Berge erfahren lassen, teilzuhaben. Und zu wissen, wie man heil zurückkommt, heisst vor allem lernen, verzichten zu können.
Erhard war mental, physisch und technisch sehr stark, und er stellte diese drei fundamentalen Qualitäten, die man von einem Alpinisten seiner Klasse erwarten kann, unter Beweis. Er verfügte über eine ausserordentliche Begabung zur Analyse. Als ich einmal mit ihm über seine Leidensfähigkeit sprach, ergänzte Erhard, dass dies nicht sein Verdienst sei. « Wir sind es, die dieses Leiden wählen. Wenn man dann mittendrin ist, kann man es bedauern, aber es sind immer wir, die entschieden haben, dass wir uns in diese Situation begeben. Ich habe viel mehr Respekt vor all denen, die dazu verdammt sind, wegen ihrer Arbeitslosigkeit stempeln zu gehen. Sie haben sich nicht dafür entschieden. » Und wie konnte er sich amüsieren über den Begriff « Exploit »! Für ihn war das blosses « Journalistengeschwätz »!
« Wenn du ohne Sauerstoff auf über 7000 Metern stehst, hast du einen Fuss bereits im Jenseits. Es ist sehr schwer zu erklären, es ist schwer, den Leuten klarzumachen, was man in diesen Momenten erleben kann », hatte er mir einmal anvertraut. Für mich zeigte dies seine Bescheidenheit und Klarheit: Ist das schwierig zu erklären?
Im Verlauf der Zeit war Erhard Loretan einer der besten Botschafter der Berge geworden. Er war ein einzigartiger Kommunikator und fand stets einen Satz, gewürzt mit einer Prise Humor, der uns teilhaben liess an seinem aussergewöhnlichen Werdegang. Er war eine wirkliche Ausnahme. Selbst die Ärzte konnten es nicht fassen, wenn sie Erhards Leistungen analysierten, die sie mit ihren Geräten gemessen hatten. Wir Schweizer sind uns dessen kaum bewusst. Aber zusammen mit Jean Troillet und André Georges hat Erhard Loretan nicht weniger getan, als den Alpinismus im Himalaya zu revolutionieren.
Eines ist klar: Wer die Latte so hoch legt, hat dem Tod mehrmals ins Auge gesehen. Ich bin aber sicher, dass dies kein Ausdruck einer Todessehnsucht war. Er sprach lieber von der Angst, die ihn plagte, als vom Tod, den er als Risiko akzeptierte. « Die Angst ist meine Lebensversicherung. Am Tag, an dem ich keine Angst mehr habe, höre ich auf. » Das war seine Art, sich darüber bewusst zu werden, was er machte. Seine Vorhaben waren keine Flucht nach vorn, sie waren geprägt vom Willen, die Grenzen hinauszuschieben. Ich wage sogar, zu behaupten, dass für ihn der Spass wichtiger war als die Leistung. Mit seinem Palmarès hätte Erhard jedenfalls Anlass gehabt, den Kopf hoch zu tragen, sehr hoch sogar. Aber es war seine Bescheidenheit am Berg, die jene in Erinnerung behalten werden, die das Privileg hatten, ihm begegnet zu sein. Bleibt der Moment des Bilanzziehens … Erhard erlebte die dunkelsten Zeiten seines Lebens, als er durch eigenes Fehlverhalten den Tod seines sieben Monate alten Sohnes verursachte. 2003 wurde Erhard Loretan wegen fahrlässiger Tötung zu vier Monaten Gefängnis bedingt verurteilt. Er hatte die Nerven verloren und seinen sieben Monate alten Sohn zu Tode geschüttelt, weil das Kind nicht aufhören wollte zu schreien. Danach stand er öffentlich zu seiner Tat und half mit, die Gefahren des « Babyschüttelns » bekannt zu machen. Das war « ohne Zweifel sein härtester Alleingang », sagte der Priester bei der Abdankungsfeier. Das blieb ein innerer Berg, der « Mont Loretan », den Erhard bis ans Ende seiner letzten Tour mittragen musste. Ein tibetanisches Sprichwort lautet: « Wenn du auf dem Gipfel ankommst, gehe weiter !» Erhard hatte die Gewohnheit, oben seinen Schutzengel anzurufen. An jenem Tag war er nicht da. Deshalb hat man Lust, den Satz von Nicolas Bouvier zu zitieren: « Wenn das Wort ‹Danke› geladen ist wie eine Kanone, dann ist es ein Wort, das trägt und heilt. » Danke, Erhard, im Namen aller deiner Freunde, dass du uns zum Träumen gebracht hast!