«Einschränkungen sind unverhältnismässig und unnötig» Der SAC-Zentralvorstand äussert sich kritisch zum Parc Adula
In der Kernzone des neuen Nationalparks Parc Adula sollen sich Bergsteiger dereinst nur noch auf einem definierten Weg- und Routennetz bewegen. SAC und Bergführerverband beharren auf dem freien Zugang. Naturschutzorganisationen stehen mehrheitlich hinter dem Projekt.
Martin Hilfiker, der Direktor des Parc-Adula-Projekts hat eine schwierige Aufgabe. Er soll einem Park zum Durchbruch verhelfen, der vielfältigsten Vorgaben und Erwartungen gerecht werden muss. Bäuerinnen, Hoteliers, Naturschützerinnen, Jäger, Wanderinnen und Bergführer wollen nicht dasselbe vom neuen Nationalpark - wenn sie ihn denn überhaupt wollen. Und dann ist da noch der Buchstabe des Gesetzes, der allem Entgegenkommen Grenzen setzt. Das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) schreibt vor, dass die Kernzone eines Nationalparks «für die Allgemeinheit nur beschränkt zugänglich ist». Konkretisiert wird das in Artikel 17 der Pärkeverordnung (PäV), in dem steht, dass die Kernzone nur auf vorgegebenen Wegen und Routen betreten werden darf. Er hält auch fest, dass Hunde, Fahrzeuge, Helis und Gleitschirme hier nichts zu suchen haben und dass Land- und Forstwirtschaft nicht erlaubt sind – «mit Ausnahme von traditionellen Weidenutzungen auf klar begrenzten Flächen». Fischen, Jagen, Strahlen und Pilzesammeln sind auch auf der Liste der No-Gos. So weit, so streng. Aber Artikel 17 hat einen zweiten Absatz: «Abweichungen von den Vorschriften nach Absatz 1 sind zulässig, wenn sie geringfügig sind und wichtige Gründe dafür bestehen.» Die Kernzone, das Weg- und Routennetz und diese Abweichungen müssten in einem «partizipativen Prozess» festgelegt werden, sagt Christoph Grosjean-Sommer, Kommunikationsverantwortlicher für die Pärke von nationaler Bedeutung im Bundesamt für Umwelt: «Die Mitwirkung der massgebenden Akteure ist Vorschrift.» Für den Parc Adula wurden zu diesem Zweck verschiedene Arbeitsgruppen geschaffen. Der SAC war mit mehreren Personen darin vertreten.
Unzufrieden mit der Verordnung
Der Verband machte mit, obwohl er mit der Pärkeverordnung gar nicht glücklich ist. Im Gesetzgebungsprozess hatte er im alpinen weglosen Gelände freien Zugang gefordert, wie in vergleichbaren Nationalpärken im Ausland. «Im Nationalpark Hohe Tauern in Österreich ist die alpine Wegefreiheit in den Grundsätzen verankert – es ist explizites Ziel, den Alpinismus als sanften Tourismus zu stärken», sagt Philippe Wäger, Bereichsleiter Umwelt beim SAC. Andere Beispiele seien die Nationalpärke Écrins, Vanoise (Frankreich) und Grand Paradiso (Italien). Die Stellungnahme des SAC fand jedoch kein Gehör, das Wege- und Routengebot wurde 2007 in der Verordnung verankert.
«Wir sind zu Beginn davon ausgegangen, dass im Parc Adula alle Routen aus der SAC-Führerliteratur grundsätzlich erlaubt sein würden, abgesehen von einzelnen gut begründeten Ausnahmen», sagt Wäger. Anfang 2015 habe sich dann herauskristallisiert, dass viele Sommerrouten gestrichen werden sollten. Es sollten möglichst grosse, menschenfreie Gebiete geschaffen und die Routendichte reduziert werden. Damit konnte sich der SAC nicht anfreunden. Man unterstütze kleinräumige Einschränkungen in ökologisch besonders wertvollen Lebensräumen durchaus. «Aber wir hatten den Eindruck, als sollten die Bergsteiger eingeschränkt werden, auch wenn keine konkrete Nutzungskonflikte mit gefährdeten Arten zu erwarten sind», sagt Wäger. Natürlich sei man als Bergsteiger im Lebensraum von Hirsch, Gämse und Steinbock unterwegs. Alle diese Arten wiesen jedoch gute Bestände auf und würden durch den Sommerbergsport nicht gefährdet, wenn man sich rücksichtsvoll verhalte.
Der SAC habe nochmals den Dialog gesucht und habe in intensiven und guten Diskussionen mit dem Park einige wichtige, teils ultraklassische Routen «retten» können. Dennoch: Ohne Konzessionen ging es nicht. Zwar sollen im vorliegenden Entwurf praktisch alle Routen der Skitourenkarten begehbar bleiben, im Sommer aber nur eine Auswahl aus der SAC-Führerliteratur. Auf dem verbleibenden Netz wären 90 bis 95% der heutigen Bewegungen weiterhin möglich, da sich diese auf einige Wege und Routen konzentrieren. Zudem wurden um die Hütten herum kleinräumige Aufenthaltsbereiche definiert, und die Helis können weiterhin Speis und Trank in die SAC-Hütten in der Kernzone fliegen. «Das erscheint auf den ersten Blick erträglich», sagt René Michel, Ressortleiter Umwelt im Zentralvorstand. «Aber aufgrund der zu starren Rahmenbedingungen der Pärkeverordnung muss der SAC gegenüber dem Parc Adula kritisch eingestellt sein.» Pauschale Einschränkungen wie in der Kernzone gebe es im Sommer ausser im bestehenden Schweizerischen Nationalpark bisher nicht.
Der Bergsport werde mit dem Routengebot quasi unter Generalverdacht gestellt, eine grosse Bedrohung für die Natur zu sein, kritisiert Michel: «Das ist unverhältnismässig und unnötig.» Obwohl der sanfte Tourismus ein grosses Anliegen des SAC sei und Nationalpärke an sich ein gutes Mittel, ihn zu fördern, falle die Bilanz zum Parc Adula deshalb kritisch aus. Der Bergführerverband, mit dem sich der SAC in der Frage abgesprochen hat, beurteilt die Sachlage gleich.
Die öffentlich gemachte Skepsis der Bergsportler ist keine gute Neuigkeit für den Parc Adula. Im November will der Verein die 300-seitige Charta in den 17 Parkgemeinden und im Internet öffentlich auflegen. Danach werden letzte Retuschen vorgenommen, bevor die Stimmbürgerinnen und -bürger Mitte 2016 abstimmen. Der Parkprojektdirektor schätzt die Chancen trotz SAC-Kritik optimistisch ein. «Für die Region ist es ein grosse Chance», sagt Hilfiker. Würde der Park 2018 in Betrieb gehen, stünden jährlich 5,2 Millionen Franken zur Verfügung. Damit sollen 18 Vollzeitstellen in den Parkbüros und Informationszentren geschaffen werden. Zudem lassen sich mit dem Geld regionale Projekte unterstützen. Schon heute werden mit Parkgeldern Neophyten bekämpft, Trockenmauern saniert und touristische Angebote gefördert. Hilfiker ist überzeugt, dass sich mit dem Nationalparklabel lokale Produkte, Dienstleistungen, und Traditionen besser verkaufen.
Kritik von Naturschützern
Diese Trümpfe könnten in der wirtschaftlich schwachen Region auch deshalb stechen, weil sie in der Umgebungszone an keinerlei Bedingungen geknüpft sind. Kein Bauprojekt muss sterben, kein Landwirt biologisch bauern. Und in der Kernzone, wo die strengeren Regeln gelten, gibt es kaum wirtschaftliche Aktivitäten. Die Jäger, Schrecken aller Parkpromotoren, haben insofern vom Parc Adula nichts zu befürchten, als seine Kernzone fast vollständig mit eidgenössischen oder kantonalen Jagdbanngebieten übereinstimmt. Es gehen keine Jagdgründe verloren. Die wichtigsten Sömmerungsgebiete, wo Wildtiere häufiger anzutreffen sind, wurden aus der Kernzone ausgeschlossen.
Das beflissene Anpassen von Regeln und Parkperimetern an die Wünsche potenzieller Gegner rief die Kritik von Naturschützern hervor. Hans F. Schneider, Landschaftsexperte und Präsident der Naturfreunde Graubünden, sagt, man wolle einfach möglichst viele Bundesgelder abholen. «Es wird nur von den wirtschaftlichen Vorteilen gesprochen. Die Parkidee wird nicht ernst genommen.»
Auf die Umsetzung kommt es an
Mehrheitlich stehen die Umweltorganisationen jedoch hinter dem Park. «Klar könnte man noch mehr fordern», sagt Jacqueline von Arx, Geschäftsführerin von Pro Natura Graubünden. Sie ist aber zuversichtlich, dass auch so nicht nur für die regionale Wirtschaft, sondern auch für die Natur etwas herausschauen wird. «Entscheidend wird die Umsetzung sein.» Mit viel Information und Besucherlenkung könne man den Menschen den Wert von Landschaft und Natur vermitteln. «Wir kennen das aus unseren Schutzgebieten.» Durch die Projekte in der Umgebungszone würden auch die Einheimischen, für welche die grossartige Bergwelt selbstverständlich sei, angesprochen und sensibilisiert: «Wertschöpfung und Wertschätzung müssen keine Gegensätze sein.»
Nationalpark 2.0
Das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) unterscheidet drei Parktypen: Nationalpark, regionaler Naturpark und Naturerlebnispark. Der bestehende Schweizerische Nationalpark im Engadin beruht auf einem eigenen Gesetz und ist ein eigentliches Reservat. Nebst wissenschaftlicher Forschung ist ausserhalb der markierten Wege keine menschliche Nutzung zulässig. Die NHG-Pärke verfolgen hingegen alle einen doppelten Zweck: erstens Natur und Landschaften erhalten und aufwerten, zweitens die Wirtschaft stärken. Mit anderen Worten: Schöne Landschaften sollen nicht nur geschützt, sondern auch versilbert werden.
Ein Nationalpark neuer Generation zeichnet sich dadurch aus, dass er eine Kern- und eine Umgebungszone hat. In der Kernzone soll sich die Natur frei entfalten können. Die Umgebungszone dient als Puffer. Konkrete Vorgaben oder Regelungen gibt es für diese Zone kaum. Es soll aber nachhaltig gewirtschaftet, und Landschafts- und Ortsbilder sollen aufgewertet werden.
Den Anstoss für einen neuen Nationalpark gab im Jahr 2000 die Umweltorganisation Pro Natura. Sie versprach dem ersten realisierten Projekt eine Million Schweizer Franken. In den Jahren 2006 und 2007 verabschiedet das Parlament das revidierte NHG und der Bundesrat erliess die dazugehörige Pärkeverordnung. Damit hatten neue National- und Naturpärke eine gesetzliche Grundlage. Von sechs Nationalparkkandidaten sind zwei übrig geblieben: der Parco Nazionale del Locarnese, über den die beteiligten Gemeinden voraussichtlich Ende 2016, Anfang 2017 abstimmen werden, und der Parc Adula.