Eine Längsüberschreitung des Mont Blanc
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Eine Längsüberschreitung des Mont Blanc

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON W.MÜLLER-HILL, FREIBURG IMBR.

Mit 3 Bildern ( 69-71 ) « Das schwerste Problem wird wieder einmal der Rucksack sein. Proviant für mindestens 6 Tage, Schlafsack, 2 Liter Spiritus, warme Reservesachen und das Übrige. Es wird wie immer so sein: Bis 25 Pfund ist die Tour genussreich, bis 30 Pfund erträglich, über 30 Pfund eine Qual. » Dies war meine unmassgebliche Meinung bei der Vorbesprechung der grossen Tour, die über die Aiguille de Beranger ( 3425 m ), Dôme de Miage ( 3675 m ), Aiguille de Bionnassay ( 4052 m ), Mont Blanc ( 4807 m ), Mont Maudit ( 4465 m ) und Mont Blanc du Tacul ( 4248 m ) zum Col du Midi ( 3544 m ) führen sollte. Meine Kameraden Kreis und Burkart hatten die geplante Tour mehrmals versucht, aber immer wegen schlechten Wetters abbrechen müssen. Ich selbst war im Mont Blanc-Gebiet völliger Neuling.

Freund Kreis meinte trocken, der Rucksack werde normalerweise immer leichter, so dass der Genuss der Tour bald beginnen könne. Ich bat ihn zu überlegen, ob dies nicht platter Rationalismus sei, da das Mysterium des Tourenrucksackes darin bestehe, dass er eigentlich nie leichter werde.

So kamen wir Ende Juli 1929 bei glühender Hitze in St. Gervais-les-Bains an und spähten vergebens nach dem Autobus, der uns nach Les Contamines bringen sollte. Schliesslich mussten wir gottergeben den Weg zu Fuss machen und trösteten uns mit dem ausgezeichneten Training. Im reizenden Hotel de la Bérangère erholten wir uns und brachen am folgenden Morgen zum Pavillon de Trélatête ( 1970 m ) auf. In halber Höhe rasteten wir und tranken etwas Limonade, die aus Zitronensäurekristallen bereitet wurde und recht erfrischend war.

Nach etwa einer halben Stunde Weiterweg fing ich plötzlich an, unsicher zu gehen. Meine Beine gehorchten nicht mehr, ich schwankte und hätte einen exponierten Pfad nicht begehen können. Es war mir nicht eigentlich schlecht, ich fühlte mich aber irgendwie gelähmt und war voller Sorge, die Tour vor ihrem Beginn abbrechen zu müssen, falls mein Zustand sich nicht besserte.

Meine Kameraden waren längst verschwunden, während ich mich berganquälte. Aber der abscheuliche Zustand verging nach etwa einer halben Stunde völlig. Beim Berggasthaus angekommen, vertraute ich mich sofort Freund Kreis an und vernahm zu meiner Beruhigung, dass auch er unter ähnlichen Symptomen gelitten hatte, deren Ursache wahrscheinlich in der Zitronensäure lag. Die verdächtigen Kristalle wurden weggeworfen und der Rucksack um 150 g erleichtert.

Aiguille de Béranger ( 3475 m ), Dôme de Miage ( 3675 m ) Soviel wir feststellen konnten, windet sich der von den Führern benützte Weg auf die Aiguille de Béranger über ein wüstes Blocksystem, Trélagrande genannt, ziemlich direkt gegen den Gipfel. Er kam für uns nicht in Frage, da wir nachts aufbrechen mussten und diesen « Slalom » nicht wagen konnten. Wir hatten uns, um sicher zu gehen, vielmehr dem Glacier de Trélatête anzuvertrauen und ihm so lange zu folgen, bis man zum Gipfel ansteigen konnte.

So brachen wir in tiefer Nacht schwerbepackt auf und strebten dem Gletscher zu, den wir recht lange zu verfolgen hatten. Dann kam der Aufstieg über steilen Firn gegen den Gipfel. Er setzte uns sehr zu. Wir waren nicht mehr die Jüngsten, meine Freunde gingen gegen das fünfzigste, ich gegen das sechsundvierzigste Lebensjahr. Wenn wir rasteten, schauten wir uns mit dem Blick von Duldern für eine gute Sache an und führten philosophische Gespräche über den erzieherischen Wert des Bergsteigens. Ich konnte bei diesen Disputen, bei denen es um Hohes ging, nicht verschweigen, dass meine Frau uns für komplette Narren hielt. Es stellte sich dann heraus, dass die Frauen der Freunde nicht viel anders über unser heroisches Tun dachten.

Aber wir kamen immer wieder ein paar hundert Meter hinauf, und schliesslich durften wir auf dem Gipfel aufatmend die Rucksäcke ablegen. Es war nun, wie es immer war: die Müdigkeit verflog und wich einer euphorischen Gemütslage.

Wir hielten lange Rast, genossen die vielgerühmte Aussicht und blickten immer wieder zu den Silbergipfeln des Dôme de Miage hinüber, die wir noch zu überschreiten hatten. In bester Stimmung stiegen wir zum Col de Béranger hinab, und nun begann eine Höhenwanderung über den vielgipfligen Dôme de Miage ( 3675 m ), deren Zauber nicht zu beschreiben ist. Rechter Hand zog sich wie ein träger breiter Fluss der Glacier de Trélatête zum Col Infranchissable hinauf. Der Blick nach links schweifte über unendliche Weiten bis zu den Dörfern, von denen wir ausgegangen waren. Vor uns dominierte der immer mächtiger aufwachsende Mont Blanc. Es war eine Wanderung in sanftem Auf und Ab, bei der man das Gefühl völliger Entrücktheit hatte. Auf jedem Gipfel machten wir geniesserischen Halt. Wir hatten keine Eile, das Wetter war herrlich, und wir brauchten nur vor der Dämmerung im Col de Miage ( Refuge Durieux ) einzutreffen. Vom letzten Gipfel, von dem wir zum Col abzusteigen hatten, sahen wir lange zur Aiguille de Bionnassay hinüber und wurden angesichts der steilen Firngrate, Felsen und des obersten Firnstückes recht kleinlaut. Was sich da in äusserster Steilheit vor uns aufbaute, war denkbar abweisend, doch tröstete die alte Bergerfahrung, dass die Steilheit gegenüberliegender Hänge und Grate ebenso überschätzt wird, wie dieselben Partien, von unten in der Verkürzung gesehen, unterschätzt werden.

Der Grat zum Col de Miage hinab wechselte anregend zwischen Kletter- und Firnstellen und bot keine Schwierigkeit. Am späten Nachmittag erreichten wir die kleine Hütte. Sie ist ein rechter Adlerhorst, von dem man einen weiten Blick über die Alpe de Miage in die dunstige Ebene und die eisigen Abstürze der Aiguille de Bionnassay hat. Ein schweigsamer Amerikaner mit zwei Führern teilte sie mit uns. Während sie die Aiguille de Bionnassay am nächsten Tag zu besteigen gedachten, hielten wir es für richtig, einen Ruhetag einzuschalten, der der Erkundung des Aufstieges dienen sollte. Zudem waren wir, wie wir uns gestanden, herzhaft müde, nachdem wir 15 Stunden unterwegs gewesen waren.

Am frühesten Morgen brach der Amerikaner auf. Welch ein Glück, dass man sich nur mit einem « Good luck » umzudrehen hatte und weiterschlafen konnte.

Im Laufe des Nachmittags kamen zwei junge Österreicher von der Bionnassay her zur Hütte. Sie erzählten, dass sie sich beim Abstieg böse verklettert hatten und Stunden um Stunden brauchten, bis sie in heiklen Traversen den Grat wieder fanden. Wir hörten von ihnen, dass die zerspaltene Firnwand vom Mont Blanc du Tacul zum Col du Midi nur eine einzige Durchgangsstelle habe, die durch ein rotes Fähnchen markiert sei.

Aiguille de Bionnassay ( 4052 m ) Abmarsch bei Morgendämmerung. Steile Firnhänge und ein splittriges Grätchen waren bald durchstiegen. Ein äusserst luftiger waagrechter Firngrat ohne Wächten folgte, und auch das letzte Schneestück bis zu den Felsen bot keine Schwierigkeit. Die Kletterei war ungewöhnlich, da sie sich über senkrecht aufgestellte, schmale, eisenharte Granitplatten vollzog, die zum Grat führten. Nur an einer Stelle kletterte der vorangehende Kreis ohne seinen Rucksack, den wir auf hissten. Auf das Felsstück folgte eine sehr steile Firnwand, die gute Stufen bot. Wir kamen höher und höher, und als wir den Gipfel erreicht hatten, blickten wir, in den letzten Stufen stehend, über den schmalen Firngrat, eine ungebrochene Eiswand von etwa 1300 Metern, auf den Glacier de Bionnassay Français hinunter.

Hier war kein Platz zu geniesserischer Gipfelrast, und wir wandten uns dem Ostgrat des Berges zu, der mit grossen Wächten gespickt war. Das Wetter war herrlich, aber wir fürchteten den Einfluss der Sonne auf die riesigen Gebilde. Doch das Glück war uns hold, und der Abstieg über den berüchtigten Grat vollzog sich glatter, als wir nur wünschen konnten. Wie viele Bergsteiger mochten hier bei aufkommendem Oststurm in schwere Not gekommen sein.

Als wir im Col de Bionnassay angekommen waren, drückten wir uns, ohne ein Wort zu sagen, die Hände. Die schwerste Hürde war genommen Die weitere Traversierung der Mont Blanc-Gipfel war nur noch vom Wetter abhängig.

Der schmale Grat erweiterte sich zum Dôme du Goûter ( 4303 m ), und eine geruhsame Himmels-wanderung brachte uns zum heutigen Ziel, der Cabane Vallot ( 4362 m ). Sie war eine böse Enttäu- schung. Man betrat zunächst einen ungemütlichen Vorraum, dessen Boden mit hohem Eis bedeckt war. Er enthielt eine Holzpritsche ohne Decken. Als wir die Tür zum eigentlichen Hüttenraum öffneten, erscholl der Ruf, er sei besetzt, so dass wir uns wieder zurückzogen. Wir durften nicht einmal im geheizten Raum essen. So legten wir, was in einer Hütte wohl einmalig ist, die Steigeisen wieder an, ohne die man sich auf dem Eis nicht bewegen konnte, ohne auszurutschen, und kochten ab. Meine Bitte durch die Tür, uns Wolldecken zu geben, wurde zum Teil erfüllt. Eine Hand reichte uns eine Wolldecke hinaus. Wir legten uns mit der Decke und schliefen in dem windigen Loch, so gut es ging.

Mont Blanc ( 4807 m ), Mont Maudit ( 4465 m ), Mont Blanc du Tacul ( 4248 m ) Früher Aufbruch bei erster Helligkeit. Wir liessen uns beim Aufstieg Zeit, denn der vorige Tag und die ungemütliche Nacht hatten uns ziemlich zugesetzt. Aber die Bergkrankheit, die manchen Bergsteiger bei den letzten 400 Metern anfällt, verschonte uns, und wir waren, auf dem Gipfel bei grimmiger Kälte angekommen, ganz gut beieinander. Eine Gipfelrast war unmöglich, und wir beeilten uns, aus dem schneidenden Wind zu kommen Hinab über die Mure de la Côte, wo wir ausschnaufen konnten. Der Aufstieg auf den Mont Maudit war verhältnismässig einfach, aber auch auf diesem Gipfel wehte es stark, und wir stiegen nach kürzestem Aufenthalt über einen Eishang in eine Lücke in dem vom Gipfel herabkommenden Grat, die durch ein Fähnchen markiert war. Von dieser Lücke führte ein zuerst sehr steiler, aber bald auslaufender Firnhang in einen grossen Firnkessel, in dem wir eine ausgiebige Rast machten. Noch immer war das Wetter strahlend, und unsere Stimmung glich dem Wetter. Die Ersteigung des Mont Blanc du Tacul war kein Problem. Die Kälte hatte nachgelassen, und wir durften eine lange zweite Rast einschalten.

Mit einem Male verdüsterte sich der Himmel, und als wir rasch auf brachen, war der Nebel bald um uns, und es fing an zu graupeln. Was tun? Spuren früherer Partien waren in der Firnwand nicht zu sehen. Ich schlug vor, abzuwarten, bis der Vorhang aufriss, und uns schlimmstenfalls einzugraben. Wir hatten noch für Tage Proviant und Schlafsäcke und waren in keiner Weise gefährdet. Die Kameraden waren im Prinzip nicht dagegen, meinten aber, man solle soweit wie möglich absteigen, da ein Biwak in 3500 m Höhe besser sei als eines in der Höhe von 4100 m. Also weiter in dichtestem Nebel, von Kreis mit Kompass dirigiert. Links und rechts konnte man Spalten ungeheuren Ausmasses vage erkennen. Wir schienen uns also in der Mitte zwischen übelsten Spaltensystemen zu bewegen. Aber wie lange noch sollte das gut gehen? Wie sollte man in diesem infernalischen Nebel die Ausstiegstelle finden, von der die Österreicher gesprochen hatten? Immer weiter tasteten wir uns hinab; ich ging als Erster. Plötzlich sah ich in kürzester Entfernung unter mir ein rotes Fähnchen. Es war die Markierung für den Ausstieg.

Dieser Ausstieg, den wir durch ein Wunder gefunden hatten, bestand aus einer überaus steilen Eiswand, die man schief abwärts zu durchsteigen hatte und die kaum Stufen aufwies. Aber was focht uns das an? Ich schlug, so gut es ging, von oben gesichert, Stufen für Füsse und Hände, Burkart kam nach, verbesserte sie, so gut er konnte, und Kreis, von uns peinlich gesichert, kletterte die Eiswand langsam herab. Heute würde man dies mit einigen Eishaken aufs bequemste lösen.

Der Ausstieg hatte uns derart in Anspruch genommen, dass wir nicht auf das Wetter achteten. Wie wir nun alle auf sicherm Firn standen, sahen wir, dass die Wolken sich verteilten, und nach kurzer Zeit schien die Sonne über uns Glücklichen. Bald erspähten wir auch die Hütte im Col du Midi. Es war eine bescheidene Zigarrenschachtel, die sich kaum über dem Boden erhob. Aber als wir im Joch angekommen waren und sie besichtigten, waren wir zufrieden. Es war eine Hütte und sie hatte ein Dach. Eine Pritsche wie im Vorraum der Cabane Vallot erlaubte uns, nebeneinander zu liegen. Stehen und sitzen war nicht möglich. Aber was wollten wir mehr!

Wir machten es uns nun in wärmster Sonne auf den Granitplatten im Joch bequem, trockneten Schuhe und Strümpfe, kochten gewaltig ab und betrachteten wieder und wieder die zerborstene Firnwand, durch die wir herabgestiegen waren. Und wieder einmal stellte ich fest, dass bei grossen Touren das tiefste Glücksgefühl nicht der Gipfel bringt, sondern die erste Rast nach gelungener Tour, mochte sie wie hier in Schnee und Eis, auf einer Moräne oder auf einer Alpwiese gehalten werden.

Die Nacht verbrachten wir wie in der Cabane Vallot, allerdings ohne die den Fremdlingen gespendete Wolldecke, doch schliefen wir bis zum Morgen.

In unserer Freude über die gelungene Traversierung bestiegen wir noch die Aiguille du Midi ( 3843 m ) und kamen gegen Mittag zur Cabane du Requin. Meine spartanischen Freunde bestellten eine Erbssuppe, ich aber fragte aus reinem Fürwitz - ich kannte nur Schweizer Hütten -, ob ich eine Omelette à la Confiture haben könne. « Aber gewiss. » Sie kam und ich atmete das köstliche Gericht geradezu ein. Ich wäre hier gerne noch eine Nacht geblieben, aber die Freunde bliesen zum Aufbruch. Auch von Montenvert wäre ich liebend gerne mit der Bahn nach Chamonix gefahren, aber wieder zogen die Spartaner weiter, den Zögernden mit sich ziehend.

Unten aber, von sachkundigen, liebenswürdig plaudernden Friseuren zu zivilisierten Menschen gemacht, versanken wir schliesslich doch in capuanischen Genüssen, wobei wir zwischen den einzelnen Gängen des Galadiners zur Erheiterung der Gäste und des Personals ein erfrischendes Schläfchen einschalteten.

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