Ein versuchter Genozid bleibt ein versuchter Genozid
Zum Editorial und zum Artikel Von Viehhirten und Vaganten, «Die Alpen» 11/2020
Mit grossem Interesse habe ich das Editorial von Alexandre Vermeille und den Artikel von Daniel Anker über den Psychiater Johann Joseph Jörger gelesen. Sie schreiben, der in der Schweiz unternommene Versuch des Genozids an den Jenischen sei «unschön» und die diesem Verbrechen gegen die Menschheit zugrunde liegenden Forschungen «aus heutiger Sicht bedenklich» gewesen. Erlauben Sie mir, auf das relativierende und exkulpierende «aus heutiger Sicht» einzugehen. Mit dieser Nebelkerze täuscht man darüber hinweg, dass damals wie heute ein versuchter Genozid nichts anderes ist als ein versuchter Genozid. Und weil das so ist, gilt für die systematische Kindswegnahme, die in der Absicht begangen wurde, eine ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, dass dieses Verbrechen nicht verjährt! Niemand kann sich im Fall eines Verbrechens gegen die Menschheit damit herausreden, dass zu seiner Zeit die Sicht halt anders gewesen sei. Mit dem «aus heutiger Sicht» verfehlt Herr Anker nicht nur die historische Realität, sondern widerspricht auch einem rechtsstaatlichen Grundprinzip.
Gewiss, es ist dankenswert, dass Sie das Thema überhaupt aufnehmen. Doch Sie machen es spät, sehr spät. Vor allem aber machen Sie es ohne die nötige Klarheit und Entschiedenheit.