Ein Tal hält Schritt 25 Jahre Forschung im Safiental
Eine Feldstudie vor 25 Jahren hat dem Bündner Safiental keine rosige Zukunft vorausgesagt. Nun haben die Studienautoren das Bergtal erneut aufgesucht und festgestellt: Die Berglandwirtschaft hat sich modernisiert, der Tourismus hat sich sanft entwickelt, und manchmal haben die Safierinnen und Safier auch Neues gewagt.
Lange dauert die Fahrt von Valendas nach Thalkirch zuhinterst im Safiental. Ab der Vorderrheinschlucht beim Flimser Bergsturz durchquert die Talstrasse mächtige Tobel. Hier ist sie heute geschützt durch Galerien und Tunnels. Rechterhand prägen von der Sonne dunkel gefärbte Walserhöfe die imposante Landschaft. Viele verstreute Ställe reichen bis hoch hinauf an den Alpzaun. Linkerhand starren uns schroffe Felswände an. Auf ihren Schultern thronen scheinbar unzugängliche Schafalpen. Unter uns rauscht die Rabiusa, die sich im Laufe der Zeit tief in die Bündnerschiefer eingefressen hat. Es scheint fast, als sei das Tal in dieser sich rasch verändernden, globalisierten und digitalisierten Welt stehen geblieben. Und so verwundert es nicht, dass das Safiental für Unterländer immer noch ein kleiner Geheimtipp ist: Hier finden sie Ruhe und Erholung, im Winter auf Ski- und Schneeschuhtouren oder beim Langlaufen, Schlitteln und Eisfallklettern und im Sommer beim Wandern.
Moderne Berglandwirtschaft stösst an Grenzen
Wir sind im Weiler Z’Hinderst in Thalkirch und sitzen in einem uralten Walserhaus. Das einfache, enge und noch bis 1900 ganzjährig von drei Parteien bewohnte Haus gehört heute Christian Buchli. Für ihn ist es ein Rückzugsort und ein Ausgangspunkt für die Jagd, die anderntags beginnt. Vor 25 Jahren haben wir für die Universität Bern eine Feldstudie gemacht und eine Diplomarbeit über die Chancen und Risiken der Berglandwirtschaft im Safiental geschrieben. Heute interessieren wir uns für die Veränderungen seither.
«Nein, stehen geblieben ist die Zeit nicht», sagt Christian Buchli. «Die Berglandwirtschaft präsentiert sich modern und hoch mechanisiert.» Neben Rindviehbetrieben finden sich heute auch solche, die auf Truthähne, Hirsche und Yaks setzen. Über die Hälfte hat auf bio umgestellt. Christian Buchli kennt sie alle, die Höfe, die Bauern und Bäuerinnen, denn während 20 Jahren hat er die Meliorationen im Kanton Graubünden begleitet. Zwar gab es dabei schwierige Diskussionen und Einsprachen, aber dank Kompromissen liessen sich gute Lösungen finden. Betriebsflächen wurden zusammengelegt und Zufahrtswege sowie Erschliessungsstrassen gebaut. Heute verfügen praktisch alle der noch rund 70 verbleibenden Bauernbetriebe über ein zentrales Bewirtschaftungsgebäude. Die Arbeitsbedingungen sind daher viel besser als vor 25 Jahren.
Diese Einschätzungen werden von Valentin Luzi vom Amt für Landwirtschaft und Wald des Kantons Graubünden ergänzt: Die Produktion und die Einkommenssituation hätten sich verbessert, aber es gebe noch viele Herausforderungen für die Landwirtschaft, beispielsweise die Nachfolgesituation. Wegen der Abgelegenheit des Tals sei es für die Bauern nicht einfach, eine Partnerin zu finden. Auch sei der landwirtschaftliche Strukturwandel nie abgeschlossen. Ab 2022 würden die Agrarsubventionen voraussichtlich verstärkt nach der Fläche eines Betriebes bemessen. Dies setze die Bauern wieder dem Druck aus, mit wenig Arbeitsressourcen grössere Flächen zu bewirtschaften.
Entschleunigung jenseits vom harten Tourismus
Szenenwechsel: Im Bahnhof Zürich, im klassischen, altehrwürdigen Restaurant Da Capo, treffen wir Jolanda Rechsteiner. Als ehemalige Leiterin der Geschäftsstelle Pro Safiental und heutige Geschäftsleiterin von Safiental Tourismus kennt und schätzt sie die Kultur- und Naturlandschaft des Tales in besonderer Weise. Am besten erfahre man sie, wenn man den zwei- bis dreitägigen Walserweg unter die Füsse nehme. Er biete eine ideale Möglichkeit, in die einmalige Landschaft Safiens einzutauchen. Versam oder Valendas bilden den Ausgangspunkt dieser Wanderung, die über die Güner Lückli via Tenna und Camana bis nach Thalkirch führt.
Ausgebaute alte Ställe dienen im Safiental als ungewöhnliche Unterkünfte für Wandernde und Wintertouristen und erlauben einen einfachen Kontakt zur Bevölkerung. Die Zahl der Übernachtungen und Gäste nehme zu, sagt Jolanda Rechsteiner. Leider hätten diese aber noch nicht viele Möglichkeiten, Geld auszugeben. «Viele touristische Projekte sind vor etwa zehn Jahren durch Schweiz Tourismus angestossen worden, so beispielsweise das Kunstprojekt Art Safiental, das alle zwei bis drei Jahre mit verschiedenen Outdoorkunstinstallationen ein anderes Publikum ins Safiental lockt», sagt sie. Die touristische Infrastruktur ist bescheiden. Die Besucher erfahren Entschleunigung und können sich in Ruhe mit der Natur, der Kultur und den Menschen auseinandersetzen. Ganz entscheidend ist dabei der bewusste, behutsame Umgang mit der Kulturlandschaft, die das eigentliche Kapital des Safientals bildet.
Gemeinwesen vor ständigen Herausforderungen
In zahlreichen Kurven geht es per Postauto hinauf nach Tenna. Steil ragt die Dorfkirche in den Himmel und bildet mit den dunklen, blumengeschmückten Walserhäusern ein schönes Ensemble. Hier empfängt uns Thomas Buchli, Biobauer und Gemeindepräsident. In der Küche des Bauernhauses setzen wir uns an einen langen Holztisch, wo das Gespräch schnell an Fahrt gewinnt. Viel hat Thomas Buchli zu berichten. Zum Beispiel von der verbesserten Gemeindeinfrastruktur oder davon, dass der Ausbau der Talstrasse zu einer besseren Erreichbarkeit geführt habe. Auch erhalte das Safiental vom Naturpark Beverin viel Unterstützung bezüglich touristischer Planung, Marketing oder Angeboten wie Exkursionen und Führungen.
Trotz allem Optimismus macht sich Thomas Buchli auch Sorgen. Etwa, weil infolge des fortschreitenden landwirtschaftlichen Strukturwandels und der abnehmenden Bevölkerung immer wieder der Schulbetrieb gefährdet sei. Wie ein Damoklesschwert schwebe die Bevölkerungsentwicklung über dem Tal, das doch so grosse Fortschritte gemacht habe. Oder weil die Strasse ab Safien Platz zur hinteren Talhälfte wohl nie ausgebaut werden könne und die Orte Bäch und Thalkirch isoliert blieben. Doch dann ist seine Zuversicht schon wieder da: «Mit ihrer nüchternen, offenen Art haben die Safier und Safierinnen schon mehrfach bewiesen, dass sie gerade in schwierigen Zeiten offen für Neues sind und anpacken können», sagt er. Als Beispiel nennt er den ersten Solarskilift der Welt in Tenna. Sogar in Japan wurde darüber berichtet.
Auf Romanen folgten Walser
Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt: Das Safiental ist seit je einem stetigen Wandel unterworfen. Im 13. Jahrhundert besiedelten Walser, vom Oberwallis kommend, das ursprünglich von Romanen genutzte hoch gelegene Tal und machten es urbar. Bis Mitte des letzten Jahrtausends entwickelte sich dieses zu einem florierenden Durchgangstal, zugänglich von Splügen über den Safierberg, von Vals über den Tomülpass und von Thusis oder Cazis via Heinzenberg über den Glaspass.
Im 18. und im 19. Jahrhundert erfasste schliesslich eine grosse Abwanderungswelle das Safiental. Einerseits geriet es mit der Eröffnung der Alpenpässe ins Abseits, anderseits verlor die Berglandwirtschaft wegen der Entsumpfung der Ebenen und der Einführung der Kleegraswirtschaft im Unterland ihre Konkurrenzfähigkeit. Lebten vor der grossen Auswanderung um die 3000 Personen im Tal, so waren es Mitte des 19. Jahrhunderts noch 1500. Heute sind es noch 905 Einwohner – Tendenz stabil bis leicht steigend. Einige Auswanderer sind in der Ferne reich und berühmt geworden. So beispielsweise Zuckerbäcker, die in Moskau und Petersburg grosse Kaffeehäuser eröffnet haben. Gelegentlich kommen sogar Nachfahren der einst Ausgewanderten von Übersee, um im Gemeindearchiv in Safien Platz nachzuschauen, wer ihre Vorfahren waren.
Der landwirtschaftliche Strukturwandel im 20. Jahrhundert, der zu weniger Höfen und weniger Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft führte, hätte wohl den Untergang des Gemeinwesens bedeutet, wären da nicht die Kraftwerke Zervreila AG gewesen. Ihre Wasserzinsen halten die Gemeinden seit den 1950er-Jahren ökonomisch am Leben.
Talmetzgerei und Open Air
Und in der Zukunft? Kann das Tal neben der Landwirtschaft noch weitere Arbeitsplätze schaffen, wie dies zum Beispiel mit der taleigenen Metzgerei bereits gelungen ist? Lässt sich die landwirtschaftliche Direktvermarktung noch weiter professionalisieren? Gelingt es ausserdem, das Einzigartige im neuen Kontext zu bewahren und weiterzuentwickeln? Zwischen Neukirch und Rüti nahe der Rabiusa findet etwa jährlich ein Open Air statt. Junge Bauern und Bäuerinnen engagieren sich beim Aufbau und bei der Organisation des Festivals. Ein weiteres Zeugnis davon, dass dieses Tal nicht stehen bleibt. Man darf also gespannt sein, wie es sich in einigen Jahrzehnten präsentiert.