Ein Holländer auf Abwegen Erstbegehungen in Nordwänden
Haroen Schijf hat in den letzten 30 Jahren diverse neue Routen durch Eis- und Felswände in den Berner und Walliser Alpen erklettert. Dabei liegt der höchste Berg in der Nähe seines Wohnorts Amersfoort gerade einmal 44 Meter über Meer.
Aufgewachsen im teilweise sogar auf sechs Metern unter dem Meeresspiegel liegenden Amsterdam, entdeckte Haroen Schijf die hohen Berge der Alpen auf seine ganz eigene Weise. Normalrouten waren für ihn seit je nur wenig interessant. Gemeinsam mit seinen Bergsteigerfreunden aus den Niederlanden widmet er sich lieber Touren in Fels und Eis, die noch unbestiegen sind. Seine Sammlung beinhaltet Neurouten am Bishorn, am Weissmies oder auch am Galenstock.
Als Höhepunkt bezeichnet er selbst aber die Erstbegehung der Grosshorn-Westwand, der Via Neerlandica, im Jahr 2000. «Es war wohl die letzte grosse unbestiegene Wand im Lauterbrunnental», so Schijf. Und es war auch diejenige Wand, an der er ein paar Jahre zuvor alpines Lehrgeld bezahlen musste. An Weihnachten versuchte er damals mit einem Kollegen, die Westwand zu durchsteigen. Doch aufgrund der Schneeverhältnisse hätten sie nur schon für den Weg in die Schmadrihütte gegen neun Stunden gebraucht. «An ein Weiterkommen in Richtung Einstieg war nicht zu denken gewesen», schmunzelt Schijf fast ein Vierteljahrhundert später. Natürlich habe es auch in den späteren Jahren immer wieder heikle Situationen gegeben, so der Niederländer weiter. Davon zeugen Routennamen wie Watch that stone, cowboy!, den das Nordwestcouloir am Lauterbrunner Wätterhoren erhalten hat. Mit trockenem Humor erklärt Schijf einen seiner Sicherheitsgrundsätze aus jungen Jahren: «Verbringe nie einen ganzen Tag unter einem Eisabbruch.» Mit fortschreitender Erfahrung ist aber auch seine Sicherheitsmarge gestiegen. Nur so lässt sich erklären, dass er bis dato fast ein Dutzend Neurouten in abenteuerlichem Gelände erschlossen hat – ohne nennenswerten Zwischenfall.
Schon in jungen Jahren vom Bergfieber gepackt
Angefangen hat Haroen Schijfs Leidenschaft für die hohen und schwierigen Berge bereits in seiner frühen Jugend. Er erinnert sich, wie er mit seinen Eltern in den Ferien durch verschiedene Regionen Europas gereist ist und sie dabei auch regelmässig die Zeltplätze im Berner Oberland angesteuert haben. «Ich habe auf der Karte jeweils mögliche Ausflüge und Wanderungen an schöne Orte geplant», so der heute 49-Jährige.
Mit elf Jahren tritt Haroen Schijf dem niederländischen Alpenverein bei und besucht fortan die dortigen Ausbildungs- und Tourenleiterkurse. Auf diversen Reisen in die Schweiz und nach Österreich sammelt er Erfahrung um Erfahrung. Im Alter von 16 Jahren steht er zum ersten Mal selbst auf einem über 4000 Meter hohen Berg: dem Nadelhorn. In den kommenden Jahren folgen unzählige weitere Touren. Ein steter Begleiter: der Drang, nach unbestiegenen Varianten Ausschau zu halten.
Mit gut 20 Jahren beginnt für Schijf die bergsteigerisch aktivste Phase in seinem Leben. Er studiert Architektur und verbringt all seine Semesterferien entweder in den Alpen oder auf Expeditionen mit Erstbegehungen in Peru, Patagonien und Tibet. Jedes Jahr begeht er viele, viele Routen, darunter zahlreiche Nordwände, manche davon solo. Auch im Winter meistert er schwierige Routen, zum Beispiel die Nordwand des Mont Blanc de Cheilon. Gegen 40 Viertausender hat Schijf mittlerweile bestiegen und fast keinen davon über die Normalroute.
Routenwahl im Fernstudium
Unter den niederländischen Bergsteigern sieht sich Haroen Schijf mit seinem Faible für Erstbegehungen nicht als Sonderfall. «Es gibt auch in der Nordwand des Grossen Fiescherhorns oder des Lauterbrunner Breithorns niederländische Erstbegehungen», erklärt er. Vielmehr sei es gerade dieser Hang zu kreativen Erstbegehungen, der den niederländischen Alpinismus vielleicht sogar ausmache, sagt er. Dennoch kommt die kreative Herangehensweise bei ihm nicht von ungefähr. Der Architekt setzt sich auch im Beruf mit der Suche nach neuen Linien auseinander. So hat er für sein Studium gar einmal ein Papier über die Gemeinsamkeiten seiner Arbeit als Architekt und seiner Leidenschaft für das Bergsteigen geschrieben. Die Inspiration holt er sich aus den unzähligen Karten und Führern, die er seit Langem sammelt: «Ich sehe eine eingezeichnete Route und fange automatisch an, zu überlegen, wo man sonst noch auf diesen Gipfel hochklettern könnte.» Anschliessend sucht er auf Bildern oder Satellitenaufnahmen nach Eisrinnen und Schneebändern.
Inzwischen hat Schijfs Leidenschaft für wilde alpine Touren arbeits- und familienbedingt etwas nachgelassen. Seine Tochter (15) und sein Sohn (18) sind dafür bereits Mitglieder im niederländischen Alpenverein. Mit seinem Sohn hat er zudem unlängst den Cotopaxi (5897 m) in Ecuador bestiegen. In die Schweiz reist er nun auch mit seinen Kindern – wie einst seine Eltern mit ihm. Ein Besuch in einem der hiesigen Klettergärten, Wanderungen oder auch Klettersteige stehen dann auf dem Familienprogramm. Steile Nordwände ist er seit Längerem keine mehr hochgeklettert. Aber sein Interesse am Alpinismus ist zumindest gedanklich ungebrochen. «Ich habe aus Führern und Karten eine Liste mit etwa 30 möglichen Neutouren zusammengetragen, einige dieser Touren sind mittlerweile begangen, aber nicht alle», lächelt Schijf und lässt damit offen, ob er dereinst wieder in die hohen Wände der Berner und Walliser Alpen zurückkehren wird. Ideen dafür hätte er auf jeden Fall genug.