Dünne Schnur Gschichte us de Chischte
Von der Muttseehütte SAC bis zum Kistenpass ist es komplett schneebedeckt. Ich informiere im Internet täglich über die Verhältnisse und bin auch jederzeit per Telefon erreichbar. So sieht die Situation Anfang Juli aus. Es ist Dienstagvormittag, ich bin draussen bei den Fixketten unterhalb der Hütte am Werkeln. Die Hänge fallen gut 50 Grad bis senkrecht unter und über dem herausgesprengten, mit Ketten gesicherten Sommerweg ab. Pickel und Steigeisen sind Pflicht. Der Weg ist grösstenteils noch zugeschneit. Eisig. Mit einer von mir angelegten Spur. Weit unten erblicke ich zwei Frauengestalten. Eine Stunde später stehen sie vor mir, Mutter und Tochter. Kurze Hosen, kurzes Top, eine mit Turnschuhen, eine mit Wanderschuhen. Keine Steigeisen. Keine Pickel. Die Tochter hat aufgeschürfte Knie, blutige Unterschenkel, blutige Hände und eine Schramme am Kinn. Den Tränen nahe. Ich erkläre in ruhigem Ton, dass ihre Aktion wohl mehr als heikel sei. Ich bitte die zwei in die Gaststube. Sie sind durchnässt und erschöpft. Sie lehnen dankend ab.
Langsam realisiert die Mutter, wie gefährlich ihre Situation war, und meint dann, dass sie unten noch ein Seil zurücklassen mussten. Ich frage verwundert, wo denn ihre Klettergurte seien. Sie verstehen das Wort Klettergurt nicht. Ich schlage ihnen vor, das Seil zu holen. Sie wollen nicht. Ich will. Stapfe nach unten, suche. Und suche. Kein Seil. Plötzlich entdecke ich etwas Blaues: eine Drei-Millimeter-Flechtschnur von Bauhaus! 1,5 Meter lang. Ich übergebe der Mutter die Schnur mit dem Kommentar, dass diese wohl keine 60 Kilo aushalten würde. Die Mutter entgegnet sofort, dass sie nur 52 Kilo schwer sei. Die Tochter doppelt nach: Sie sei auch nur 55 Kilo. Ich schweige. Fassungslos. Sie stapfen von dannen. Ich wünsche viel Glück, zücke mein Smartphone und google nach Flechtschnur von Bauhaus. Belastbarkeit: 18 Kilo.