Drei Wochen im Clubgebiet
A. Ludwig ( Section Scesaplana ).
Von Es war, wenn ich es ehrlich gestehen will, nicht die patriotische Begeisterung der Bundesfeier, welche mich am 1. August des verflossenen Jahres mit so freudigen Gefühlen das Rheinthal hinauf dem geliebten Excursionsgebiet entgegeneilen ließ, nein, es war vielmehr das erhebende Bewußtsein, daß mir nun drei volle Wochen zu Streifereien in den Bergen zur Verfügung stehen sollten; mir erschien dieses Glück so groß, daß ich versucht war, mit Amasis zu sagen: „ Mir grauet vor der Götter Neide ". Und wenn schon die vielfach ungünstige Witterung dafür sorgte, daß auch mir des Lebens ungemischte Freude nicht zu Theil wurde, so konnte ich doch den größern Theil meines Programmes verwirklichen. Unausgeführt blieb eine schon lange projectirte Tour in die Gegend zwischen Jes-Fürkli und Falknis, in das Gebiet der „ rauhen Berge ", wie die österreichische Generalstabskarte diesen Zug nennt, der im Werdenbergischen und Liechtensteinischen auch thatsächlich diesen Namen führt; ebenfalls im Stadium des Projectes verblieb der Versuch eines neuen Aufstieges auf die Drusenfluh, und auch den Schlappinerketten konnte ich nicht so viel Zeit widmen, wie ich anfänglich beabsichtigte; immerhin nahm ich während 13 Marschtagen gegen 20 Gipfel, unter denen freilich einige weniger bedeutende mitlaufen. Indem ich es unternehme, hier einige von diesen Touren kurz zu schildern, will ich gleich bemerken, daß meine Zeitangaben wenig Werth haben, weil ich meistens darauf bedacht war, in ziemlicher Höhe zu übernachten, um beim Ersteigen der Spitzen nicht rennen zu müssen, wie ein gehetztes Wild, sondern in gemüthlichem Tempo die Gegend mit Genuß durchwandern zu können.
I. Im Hochwang.
Um meine des Bergsteigens ziemlich entwöhnten Glieder zunächst in einem gefahrlosen Gebiete wieder etwas zu kräftigen, begann ich mit dem Hochwang. Ich hatte zuerst beabsichtigt, schon am Abend des 1. August nach Sgära zu steigen und von dort aus die Höhenfeuer zu betrachten, deren hier äußerst zahlreiche sichtbar sein mußten; die sehr zweifelhafte Witterung hatte mich indeß daran verhindert, und so verließ ich erst am Sonntag Schiers mit dem Frühzuge, um, bei der Station Furna denselben verlassend, das gleichnamige Dörfchen zu erreichen, dessen weißes Kirchlein so malerisch in 's Mittel- und Hinterprätigau hineingrüßt. Es war ein prachtvoller Morgen, kein Wölkchen am Himmel; die Gipfel trugen ein blendend weißes Gewand von neuem Schnee; den Touristen nicht besonders anheimelnd, den Thalbewohnern aber hoch willkommen, weil so eine heillose Calamität verhütet worden war, welche die furchtbar angeschwollenen Wildbäche und die Landquart hätten verursachen können; auch heute noch toste der schwarzgraue Furnerbach gar unbändig in dem engen Tobel. Furna ist mit der Station durch ein gutes Sträßchen verbunden, auf welchem man die 650 ' " Höhenunterschied leicht und angenehm bewältigt, theils über Allmend, theils durch Wald und Wiesen, manche prächtige Ahorngruppe bewundernd und stetsfort den schönsten Blick auf das Hauptthal genießend, das wundervoll abgeschlossen wird durch die Silvrettagruppe mit den imposanten Doppel-gebilden Groß-Seehorn und Groß-Litzner, Verstanklahorn und Schwarzkopf, Plattenhorn und Piz Linard. Die Häuser von Furna stehen zerstreut in dem saftigen Grün lieblicher Wiesenhänge; von der Kirche weg, neben welcher, das alte Sprichwort rechtfertigend, ein gutes Gasthaus nicht fehlt, führt ein Zweigsträßchen nach den Höfen Riedje und Boden, deren. Umgebung zu den reizvollsten des ganzen Furnerberges gehört. Der Hauptweg aber führt in horizontaler Richtung hinüber zum Hinterberg; in einer halben Stunde stärkeren Steigens gelangt man sodann zum freundlichen Sgära, das ich aber einstweilen rechts liegen ließ, um erst droben auf dem Wannenspitz einen kurzen Halt zu machen und mich ein wenig umzusehen. Der Tag hielt nicht völlig, was der schöne Morgen versprochen hatte; Nebel krochen an den Bergspitzen umher, so daß z.B. die Gipfel der Schlappinerketten nicht deutlich zu erkennen waren; dagegen war der Rhätikon seiner ganzen Länge nach unverhüllt vor dem entzückten Auge ausgebreitet. Nirgends zeigt sich auf der Schweizerseite die Scesaplana schöner, als von der Umgebung von Sgära aus. Es gibt zwar noch einen ebenfalls günstig gelegenen Punkt, den ich oft erstiegen habe, nur um die Scesaplana aus der Nähe zu bewundern; es ist dies der Sassauna(2312 m ), nördlich von Schiers; allein hier wirkt das Colossale, Massige des mächtigen Gebirgsstockes fast erdrückend, umsomehr, als das Gehänge vom tiefen Valsertobel bis zum Alpstein auch noch sichtbar ist, während von Sgära aus der Bau leichter und zierlicher, aber doch kraftvoll erscheint und den Kegel schön hervortreten läßt. Drusenfluh, Sulzfluh und Ratschen bilden heute trotz ihres Kalkgesteins gar dunkle Partien im glanzvollen Panorama; an ihren steilen Wänden vermag der Schnee nicht zu haften. Unwirthlicher, als sie wirklich sind, sehen die Pässe aus, namentlich das Schweizerthor; hier würde man es kaum glauben, daß man von den Quellen des Aelpli-Baches direct aufsteigen könnte. Zwischen der kleinen und großen Furka, deren Bezeichnungen von unserm Standpunkt aus verkehrt erscheinen, zeigt sich der vielleicht noch nie touristisch erstiegene Hornspitz und links davon, als symmetrisch gelegene Scesaplana en miniature, der breite Tschingel. Vom Dreiländerstein „ Naafkopf " oder „ Schneethälispitz " wendet sich das Auge zn den Grauspitzen und dem Falknis und ruht dann auf den Gefilden des Rheinthals, in welchem Mastrils, Ragaz, Maienfeld, Jenins, Sargans, Azmoos und Oberschan sichtbar sind, während auf der andern Seite die Gegend von Mels, Flums und Wallenstadt offen daliegt. Dazwischen erhebt sich jener Zug, in welchem vielfach dem Alvier die größte Höhe zugeschrieben wird, während die Krone in Wirklichkeit der schmalen Gratschneide des Faulfirst gebührt, der aber an Großartigkeit von der mächtigen Steilwand des Sichelkamm weit übertroffen wird, obwohl letzterer, im Volke gemeiniglich Gemsberg genannt, an Höhe etwas zurücksteht. Churfirsten, Säntisgruppe und das Excursionsgebiet der Jahre 1888,89 präsentiren sich schön; auf eine weitere trockene Aufzählung verzichte ich; das Angedeutete mag genügen, um zu zeigen, daß man für den mühelosen Aufstieg nach Sgära reich belohnt wird; die Aussicht auf der ganzen ausgedehnten Höhe des Landquartberges ist fast dieselbe wie auf dem Wannenspitz.
Von letzterm aus bietet sich Gelegenheit zu einer höchst genußreichen Gratwanderung über Fadeur und Hochstelli zum Rothhorn ( 2358 m ). In einer Höhe von 2200 ' " begann schon der Neuschnee. Am Rothhorn, dessen Novdabhang von den Aelplern auch etwa Falschberg genannt wird, traf ich einen Schafhirten, bei dessen Anblick man wahrlich nicht versucht war, das Lied vom wackern Hochlandsburschen zu singen. Er wußte nicht, wo seine Wollenträger hingekommen waren, und wir suchten dieselben mit meinem Feldstecher, bei dem Schnee ein ziemlich hoffnungsloses Unternehmen. Die Schafhirten führen ein äußerst langweiliges Leben, stecken immer auf den höchsten Rasenflecken oben, haben unter mancherlei Entbehrungen zu leiden und für Vorwürfe nicht zu sorgen, wenn ihnen hie und da einige der störrischen Thiere in die Abgründe stürzen, daher sie sich, wenn etwa Bauern die Alp besuchen, die ironische Frage gefallen lassen müssen: „ Hend'r no Schaf ?" Von Poesie steckt nicht viel in diesem Leben, besonders nicht in solch'nassen Sommern, wie die letzten waren. Im Herbste, wenn das Vieh von den Alpen abgezogen ist, bleiben die Schafe noch einige Wochen droben, und die Hirten sind dann natürlich ganz vereinsamt. Dagegen weiß man von den Geißhirten, wie sie etwa in poesiereichen Lesebüchern geschildert werden, im Prätigau eigentlich wenig. Die „ Geißler " kommen nicht so hoch hinauf wie die „ Schäflera; sie müssen ja am Abend mit ihren Pflegebefohlenen wieder drunten sein im Dorf oder Dörfchen; damit soll indessen nicht gesagt sein, daß ihnen die Gelegenheit zur Ausübung der nachgerühmten Kletterkünste fehle; das ihnen angewiesene Gebiet ist gewöhnlich wild genug, und auch sie sind überhaupt nicht auf Kosen gebettet; doch fristen sie gegenüber unsern Schafhirten noch ein beneidenswerthes Dasein.
Hat man den Rothhorngrat passirt, so gelangt man durch ein Trümmer thälchen, in welchem man gewöhnlich auch noch einen Flecken Schnee antrifft, auf den Gebieter der Gruppe, den Hochwang ( 2535 m ), die höchste, aber nicht die wildeste Gipfelpartie des Zuges. Steil fällt er nach Norden ab; doch ist er auch von dieser Seite zugänglich. Wenn Neuschnee liegt, so erhält der Nordabfall ein ziemlich respectables Aussehen, wie auch der breite Kunkel sich dann ganz famos macht; die dunkeln Schieferschichten stechen grell ab von dem blendenden Weiß der sanfteren Gehänge. Die Felspartien des Hochwang vermeidet man gern, nicht sowohl ihrer Steilheit, als des faulen und brüchigen Gesteins wegen. Vom Gipfel wanderte ich immer über den Grat hinüber zum Teufelskopf, der, von Südosten betrachtet, einem Pilz mit dickem Hals nicht unähnlich sieht; die Dimensionen sind übrigens keine großartigen, und es ist nicht der Mühe werth, sich beim Erklettern dieses Blockes die Hosen zu zerreißen; überdies steigt der Grat immer noch bis zu Punkt 2482. Diese Partie ist viel wilder als der Hochwang selbst, wird jedoch, wie dieser, noch von Schafen besucht. Die Nebel wogten im Quellgebiet des Schrankenbaches; dann und wann sah man durch einen Riß tief hinab in die schönen Trimmiser-Alpen. Dann stieg ich hinab in das liebliche Thälchen, das zwischen dem von Punkt 2482 ausgehenden Grate und dem Bleisstein liegt, und besuchte noch letztern Gipfel ( 2479 m ), der von den Hirten auch Kühberg genannt wird.
Pflichtschuldigst sollte ich auch etwas von der Aussicht sagen, die natürlich von all' diesen Gräten und Gipfeln so ziemlich die gleiche ist; sie umfaßt der Hauptsache nach das jetzige und das Excursionsgebiet der vorigen Jahre ( 1888/89 ), die Silvrettagruppe natürlich nicht zu vergessen, und erhält gerade dadurch besondern Reiz, daß man gleichsam in einem Amphitheater von höhern Gebirgen eingeschlossen ist und auf dem schönsten blumenreichen Rasen sorglos dahinwandert, während man ringsnm der Felsen, Schutthalden und Gletscher genug erblickt. Recht imposant macht sich bei den jetzigen Schneeverhältnissen die Strelakette, deren trotzige Häupter ihren Steilabfall nach Nordosten kehren. Schön ist auch der Blick hinauf in 's Oberland, wo die thälertrennenden Gebirge coulissenartig gegen den Rhein vorgeschoben sind und durch ihre Gipfel, wie Piz Riein und Piz Fez, den Verlauf der Seitenthäler ahnen lassen.
Das sonst als Felsenthal verschrieene Schanfigg erscheint vom Hochwang aus in einem günstigem Lichte.Von den Dörfern desselben sieht man zwar nur wenige, am besten natürlich Prada und Tschiertschen, dafür aber die schönen Maiensäße, Alpen und Heuberge, von denen man unten auf der „ ränkevollen " Straße keine Ahnung hat. Der Stidabhang des Hochwang ist zwar steil; aber die Steigung ist ungleich vertheilt; sie ist am größten vom Flußbett weg bis hinauf zur obern Waldgrenze; dann folgen, wie ein Blick auf die Karte zeigt, die sanfter geneigten Alpen und Heuberge, die bis auf den Grat hinauf den schönsten Blumenschmuck hervorsprießen lassen und einen überaus freundlichen Anblick gewähren, namentlich auch, weil die vielen Tobel, die weiter unten den Wanderer in gallige Aufregung bringen, hier noch nicht so tief eingeschnitten sind. Dazu ist das ganze Gelände mit unzähligen kleinen Heuschobern besäet, die Bargaun oder Bargä genannt werden und aus Rundholz zusammengefügt sind. Sie sind dazu bestimmt, das kurze würzige „ Zugheu " aufzunehmen, das diese hochgelegenen Mäder liefern, die vielfach nur alle zwei Jahre abgemäht werden, nie Dünger bekommen und natürlich nur einen geringen Ertrag abwerfen; doch ist das gewonnene Futter von vorzüglicher Qualität. Es wird im Winter auf die Maiensäße oder in 's Thal hinunter geschüttet, daher der Name Zugheu. Die Mäder werden höchstens hie und. da bewässert, was früher mehr geschah als jetzt, da man in dieser Beziehung zum eigenen Schaden saumseliger geworden ist.
Am Nordabhange des Gebirges treffen wir nur ein solches Heuberge-gebiet; es sind die Fideriser-Heuberge. Schon dieser Umstand zeigt uns an, daß die Prätigauerseite wesentlich verschieden sein muß vom Südabhang. Die Wasserscheide zwischen Landquart und Plessur liegt zwar von der erstem doppelt so weit entfernt, als vom Flußbett des Schanfigg; aber dennoch sendet sie ihren Steilabsturz nach Norden, und auch unterhalb desselben finden wir durchaus nicht überall so sanfte Gelände und Terrassen, wie man nach den Steigungszahlen glauben möchte. Die Nordseite weist eben mehrere starke Seitenäste auf, die zunächst gratartigen Charakter haben und dann allmälig in die breiteren welligen Formen übergehen, wie wir sie nördlich von Sgära finden oder als formenschöne Pyramidenseite sich gleichmäßig zur Landquart senken, wie dies beim Glattwang der Fall ist. Diese Seitenäste trennen die tief eingefressenen Schluchten und fallen oft ziemlich steil in dieselben ab, tragen aber auch manche prächtige Alpweiden von bedeutender Größe. Ein solch'aus-gedehntes Alpengebiet ist z.B. dasjenige von Farneza bis zum Fumer-berg, das ich seiner ganzen Länge nach durchwanderte, nachdem ich vom Bleisstein zum Uebergang 2318 niedergestiegen und dort den Grat verlassen hatte. Farneza und die Alp zwischen Wannenspitz und Danusa gehören den Furnern, während die vier dazwischenliegenden Alpen Eigenthum der Igiser und Zizerser sind und einst von den Furnern um wahre Spottpreise sollen verschleudert worden sein, so die Alp Sattelu- :. ...i^ ',. «..
um ein gesatteltes Roß. Ein altes Weib, das hinter dem Ofen den diesbezüglichen Verhandlungen gelauscht, soll den leichtsinnigen Verkäufern den Rath gegeben haben, wenigstens Farneza noch zu behalten, damit sie auf dem langen Weg dahin Zeit genug hätten, über ihre Narrethei nachzudenken, und die Furner scheinen der klugen Alten gefolgt zu haben; sie sind übrigens besser bestellt als ihre Nachbarn in Valzeina, die gar keine Gemeindealpen besitzen; der weidenreiche Hintergrund des Thälchens gehört den Trimmisern. Aehnliche sonderbare Eigenthumsverhältnisse kommen vielerorts vor, so in großem Maßstabe im Montafun, wo die Walgauer die Stelle unserer Herrschäftler einnehmen.
Verweilen wir in Gedanken noch einen Augenblick auf der schon erwähnten aussichtsreichen Höhe, welche nördlich vom Wannenspitz sich ausdehnt und steil mit breitem Fuße zum Hauptthal abfällt. Man erreicht dieses wellige Hochplateau in sehr directem Aufstiege von Schiers aus, vorausgesetzt, daß die Brücke über die Landquart nicht weggerissen ist, was sowohl 1888 als 1890 der Fall war. Durch Wald und über einsame, schattige Waldwiesen gelangt man an den obern Rand jenes schönen dunkelgrünen Halbmonds, der den Schiersern unter dem Namen „ Landquartberg " als unerwünschter Schattenspender bekannt ist. Nun verändert sich die Gegend; in reizvoller Abwechslung zieht sie sich ohne wesentliche Steigung nach Sgära; zahlreiche niedere Höhenzüge und Hügel lassen liebliche Thälchen und Mulden entstehen; schöne Güter wechseln ab mit prachtvollen Waldparzellen, mit Alpweiden und großen Strecken von Heidel-, Rausch- und Preißelbeeren; .Alpenrosen, Himbeerstauden, Erlen, wilder „ Holder ", weißschimmernde Birken, Espen, sogar Buchen ( in einer Höhe von gut 1600 m ) und zahlreiche „ Gttrgätsch " ( Ebereschen ) geben in buntem Durcheinander dem Wanderer immer neue Augenweide. Ein reizendes Mattengebiet ist Danusa; zahlreiche Ställe und Hütten zeugen von des Menschen Hand; fleißige Hände bewirtschaften die saftigen Wiesen; die kleinen, nach einer Seite ganz offenen Brunnen-häuschen ( vulgo „ Wasserhütten " ) verrathen den Wasserreichthum. Dann folgt die Furner-Alp mit ihren zahlreichen Staffeln und Hütten. Es existirt kein großes gemeinsames Sennthum; mehrere Bauern vereinigen sich nach Gutfinden und Bequemlichkeit zu gemeinsamem Betriebe der Milchwirthschaft; der-Weidgang aber ist für sämmtliches Vieh in der ganzen Alp ungehindert.
Besonderes Interesse erhält das ganze Revier durch die Torf-Rieter, von denen zwei ziemlich groß sind, nämlich das schlechthin so genannte „ Riet " und dasjenige „ im Rone ". Zweifelsohne waren es, ihrer horizontalen Oberfläche nach zu schließen, einst See'n, welche das Schicksal, dem der „ Stelser-See " jetzt entgegengeht, schon früher ereilt hat. Das erstere sendet nach Osten eine circa 50 m breite und 200 m lange Zunge. Der westliche größere Theil ist doppelt so breit und ebenso lang als die Zunge und läuft im Südwesten in einen Winkel aus. Ein Zaun schließt dieses Riet ab, dessen Umgebung im Sommer durch das Gebimmel der Heerdeiigloeken und das Gewieher munterer Pferde belebt ist. Der Abfluß wendet sich durch den Rietgraben dem Bendlentobel zu. Der Rietgraben beherbergt auch Fische, daher schon Sererhard die Forellen im gäben stotzigen Tobel fabelhafte Sprünge machen Läßt.
Wer das Riet besucht, versäume nicht, ein Unicum von einer Tanne zu besehen, das sich nahe beim nördlichen Zaun befindet. Aus einem gewaltigen Stocke erheben sich mindestens zehn Stämme und Stämmchen, darunter einige von recht bedeutender Dicke. Die Tanne hat in diesem Exemplar den Charakter eines geraden schlanken Baumes ganz verleugnet; es ist ein Durcheinander, in welchem die Unterscheidung von Stämmen und mächtigen Aesten schwer fällt, unsymmetrisch, knorrig, aber kraftvoll, ein Bild zäher, trotziger Gebirgsnatur.
Vom „ Riet " durch einen Höhenzug getrennt, befindet sich das zweite große, „ im Rone " genannt. Es hat im Ganzen die Form eines gleichschenkligen Dreiecks; doch ist die Basis eine gebrochene Linie, gebildet durch die Grenzen eines rechtwinklig in 's Riet vorspringenden Maiensäßes, so daß links und rechts von diesem Vorsprung Keile hervorragen. Die Schenkel des Torfdreieckes messen ungefähr 300 m, ihre Entfernung, über die Ecke der vorspringenden Wiese gemessen, circa 140™. Dieses Riet hat Abfluß sowohl nach der Furnerseite als nach dem Bendlentobel; ein Weg durchquert es, und mit Verwunderung erblickt man dort Stücke jenes erratischen Gesteins, das man oben am Wannenspitz ziemlich häutig findet. Es ist denkbar, daß einst die Ausbeutung von Torf hier eine Rolle spielen könnte, umsomelir, als noch zahlreiche kleinere Rieter vorhanden sind und das Verschwinden des jetzigen Holzreichthums ein sorgfältigeres Verwerthen des Brennmaterials nach sich ziehen wird.
Das ganze Hochplateau, wenn wir bei einem immerhin welligen und hügeligen Terrain von Plateau reden dürfen, sowie auch seine Abhänge sind noch ziemlich wildreich, namentlich an Hühnern. Ich war einmal Zeuge, wie ein Furner als Beute eines einzigen Streifzuges vier gewöhnliche Hasen, einen Alpenhasen, zwei Haselhühner und einen prachtvollen Auerhahn heimbrachte.Vereinzelt zeigen sich Hirsche; Gemsen, scheue Waldthiere, sind nicht so selten und kamen in den letzten zwei Jahren hie und da bis an die Landquart hinab; die klugen Thiere scheinen bemerkt zu haben, daß der Fluß durch das Wegreißen des „ Sagensteges " die vielen störenden Besuche von Schiers her, namentlich auch die zahlreiche Geißenschaar, ferngehalten hat.
Es bleibe nicht unerwähnt, daß nicht nur im Osten des kurz geschilderten Gebietes der Mensch sich angesiedelt hat, sondern auch an den nordwestlichen Abhängen. Wir treffen zwar hier kein Dörfchen, aber doch manche schöne Heimwesen und Höfe, wie Brand, Sigg, das aus- sichtsreiche Cavadura etc. Im Süden aber, wo der Wald allmälig zurückbleibt, liegt in einer Höhe von circa 1700 m das freundliche Sgära, für den heutigen Abend das Ziel meiner Wanderung, da ich, weil kein besonderer Freund von Nachtquartier in Alphütten, an den Staffeln von Lerch, Pavig und Sattel vorbeimarschirt war. In dem einfachen Gasthause logirt der Wanderer, der keine zu großen Ansprüche macht, bei sehr bescheidenen Preisen zu vollster Zufriedenheit. Oft ist 's hier ziemlich belebt; die Furner Ledigen pilgern etwa hinauf; die Nachbarn von Valzeina kommen herüber; die Alpverhältnisse bringen es mit sich, daß Igiser und Zizerser häufig als Gäste vorsprechen, von denen namentlich die erstem wohlgelitten sind. An jenem Abend ging 's recht lustig zu und wurde sogar ein Tänzchen arrangirt. Ziemlich früh schied indessen die frohe Jugend; den Rest des Abends verbrachte ich in traulichem Gespräch mit einigen Alpgenossen von Igis, die hier übernachteten, um am nächsten Tage am Vernichtungskriege theilzunehmen, der gegen die Alles überwuchernden Alpenrosen schon seit mehreren Jahren mit Ausdauer geführt wird. Die Freunde der Königin der Alpenpflanzen brauchen übrigens deren Ausrottung nicht zu befürchten; wenn nur der hundertste Theil übrig bleibt, so sind noch mehr als genug.
Die verehrten Clubgenossen mögen hier eine kleine Abschweifung entschuldigen, da ich vorhin die Furner erwähnt habe. Dieselben müssen im Verein mit den St. Antöniern im Prätigauer Volkswitz die Rolle der Sehiidaer übernehmen. Dahin gehören die famosen Geschichten von dem Nadel- und Nietensamen und dem Esel, der die schön hervorsprießende Saat abgefressen, von dem Transport des, großen Steines, den der Herr Ammann mit seinem Kopfe den Berg hinab dirigiren sollte, u. A. m. Wo indeß das Vorurtheil noch herrscht, das theils auf die abgeschiedene Lage des Dörfleins, theils auf den originellen Dialekt zurückzuführen ist, da beruht es auf ähnlichen Gründen, wie sie mir einst ein geistvoller Kritiker vorführte, als er behauptete, das Prätigau müsse doch dumme Bewohner haben; es gebe dort Leute, welche noch keine Eisenbahn gesehen haben. In Wirklichkeit sind die Furner ein geistig begabter und auch körperlich schöner Menschenschlag, und in sehr vielen Beziehungen könnte ihre Gemeinde mancher andern des Prätigau's zum Vorbild dienen. Die Furner sind fleißige, verständige Landwiithe und halten auch mehr auf Ordnung, als man in vielen Bündner Dörfern gewohnt ist; dabei sind sie durchgehends wohlhabend und brauchen keine Armengenössigen zu unterhalten. Die kleine Gemeinde mit ihren circa 250 Einwohnern weist ein Steuercapital von mehr als einer Million auf.
Der Dialekt wird allerdings dem Unterländer zuerst sonderbar und schwer verständlich vorkommen; dies gilt übrigens mehr oder minder für das ganze Thal und erklärt sich nicht zum kleinsten Theile aus dem häufigen Vorkommen des Lautes „ seh ", sowie aus einer sehr feinen Unterscheidung, welche der Prätigauer im Accusativ der Mehrzahl des persönlichen Für-wortes dritter Person macht. Wahrend die Schriftsprache und die meisten Dialekte sich z.B. so ausdrücken: „ Er hat sie gesehen ", resp. „ hed sie gseh ", sei nun von Bergen, Wiesen oder Häusern die Rede, sagt der Prätigauer je nach dem Genus: „ Ar hed'sch, hed'schä, hed'schi gseh ", und an dieser ungewohnten Klippe, welche sich zum Theil auch beim Plural der besitzanzeigenden Fürwörter geltend macht, scheitert meistens die hie und da spöttisch versuchte Nachahmung seitens der Unterländer.
Mehr oder minder sinnreiche Anzüglichkeiten muß sich jedes Dorf gefallen lassen. Die Klosterser ärgert man mit ihrer Bärenjagd. Sie veranstalteten nämlich einmal eine Treibjagd auf einen Bären, der ihre Schafheerden dezimirte. Als sie aber Meister Petz zu Gesichte bekamen, sollen die muthigen Klosterser Reißaus genommen haben, indem sie sagten: „ Das ist nid mischen Bär; mischen Bär hed an Plaß ob'm Aug ". Bei den Contersern muß der Kirchthurm herhalten. Es sei nämlich einmal bei tiefem Neuschnee ein Mann den Conterser-Berg heruntergekommen und dabei über etwas zu Boden gestolpert; wie er sich dann recht umgeschaut, habe er entdeckt, daß der Kirchthurm die Ursache seines Stolperns gewesen.
Doch kehren wir wieder nach Sgära zurück. Ich verließ dasselbe am Montag Morgen um 6 Uhr und wanderte über die Alpen dem Grat zu, denselben da wieder aufnehmend, wo ich ihn gestern verlassen, also auf der tiefsten Stelle zwischen Bleisstein und Kunkel, und strebte letzterm Gipfel zu. Von Westen gesehen erscheint derselbe als schöne grüne Pyramide, während er in Wirklichkeit ein nahezu horizontaler Kamm ist und nach Norden in hoher steiler Wand abfällt. Der Südabhang ist sanfter geneigt und bis auf den Grat bewachsen, und zwar mit einem so blumengeschmückten Rasen, daß ich oft staunend stehenblieb; der Anblick war mir factisch ungewohnt, weil ich bis dato meine zahlreichen Ausflüge meist erst Ende September und im October gemacht hatte, zu welcher Zeit von der Flora nicht mehr viel zu sehen ist. Auffallend sind namentlich zahlreiche förmliche Polster von Gentiana verna. Auf dem Gipfel stand ich um 9 Uhr 20 Min. Dort blühten Vergißmeinnicht, Hahnenfuß, Löwenzahn, überhaupt ein ganzes Sortiment von Blüthenpflanzen. Ich sammelte lediglich einige Schnecken, um sie einem befreundeten Clubgenossen zur Verfügung zu stellen; es waren indeß, trotz äußerlicher Unterschiede, lauter Exemplare der ganz communen Species Helix arbustorum, var. alp. Unter der hohen Felswand verbindet ein Weg xter Classe die Alpen Fanin und Farneza. Vom Kunkel sieht man sehr gut das große Rüfengebiet beim Muntjetobel, nordwestlich vom Glattwang. Ich hatte dort letzten Herbst einen interessanten Erdthurm entdeckt, den ich heute mit dem Feldstecher deutlich wieder erkannte, und bei weiterer Musterung glaubte ich noch mehrere solcher Gebilde zu erblicken, so daß ich beschloß, diese Rufen in den nächsten Tagen noch einmal zu besuchen. Für heute aber hütete ich mich vor dem Tobel und wanderte immer über den Grat nach dem Faninpaß. Diese Gegend hat eine gewisse Berühmtheit erlangt, als eine Stelle, wo man sich, namentlich beim Nebel, fast nicht zurechtfinden kann, und thatsächlich hat sich hier schon Mancher verirrt. Davon könnten die Zöglinge des Seminars Mariaberg ein Liedlein erzählen. Dieselben wollten von Castiel aus über die Arflinafurka nach dem Bad Fideris, wo das Nachtessen bestellt war. Auf dem Grate angekommen, übersahen sie, daß noch die allerdings sehr undeutliche Erhebung, die zum Glattwang hinüberleitet, links liegen zu lassen sei, und stiegen hinab in die Alp Fanin. Es geschali dies nicht etwa bei Nebel; an Hand des betreffenden Siegfriedblattes hätte der richtige Uebergang kaum verfehlt werden können; doch hatte man die Karten vorsichtiger Weise in Castiel liegen lassen.
Aehnlich ging es einem meiner Freunde, der von Schiers nach Peist wollte. Ich begleitete ihn bis auf die Arflinafurka, und zwar bei dichtem Nebel; dort kehrte ich wieder um und nach Jenaz zurück; er dagegen stieg gemtithlifih hinab nach Fanin, wo ihm die Alpknechte den Schreiber als Führer mitgaben, worauf sich Beide mit einander verirrten und wieder in die Gegend der FideriserHeuberge geriethen, von wo sie dann durch Galtvieh-Hirten auf die richtige Spur geleitet wurden.
Die Gegend ist eben nicht übersichtlich, zeigt viele undeutliche Erhebungen, wenig ausgeprägte Gratlinien; zudem ist der Faninpaß ein für die dortigen Verhältnisse prachtvoller Weg, wogegen man von einem Pfad zur ArHina-Furka sozusagen nichts bemerkt, daher viele Wanderer unbedenklich den famosen Faniner Alpweg benutzen und so buchstäblich auf der breiten Straße in 's Verderben rennen. Die Alp Fanin gehört den Schanfiggern, weshalb von der Prätigauer Seite kein Weg in dieselbe führt.
Die Partie bis zum Mattlishorn ist theilweise sumpfig, und zwar findet man solche Sumpfstellen fast auf dem Grat oben, der hier allerdings ziemlich breit ist. Das Mattlishorn ( 24G4 m ) betrat ich heute zum dritten Mal; es ist immer ein schöner Punkt, der vom Landvolk auch ziemlich häufig besucht wird, am meisten etwa von den Fiderisem und Langwiesern, wenn sie in den Heubergen beschäftigt sind. Namentlich sieht man hier fast alle Ortschaften des Schanfigg, wie sonst von keinem Gipfel des Hochwang. Markant ist hier auch der Gegensatz zwischen der Vegetation der Südseite und derjenigen des schattigen Nordabhanges, viel auffälliger als beim Bleisstein und Kunkel, wo die Terrainverhältnisse den Contrast bedingen, während beim Mattlishorn auch nach Norden kein steiler Absturz sich vorfindet.
Drunten im Fondeythal liegt Straßberg, wo einige Familien auch im Winter wohnen. Die Gegend liegt zwar schon weit über dem Wald; doch leiden die Bewohner nicht an Holzmangel; sie befördern das Brenn- material mit ihren „ Galti ", deren sie oft eine ansehnliche Zahl anspannen, aus den Wäldern zur Winterszeit herauf. Auf der Ostseite des Baches bemerkt man ein eingezäuntes Stück Weide, das nicht etwa in Folge rationellerer Alpwirthschaft da ist; dasselbe ist vielmehr dazu bestimmt, zu einer gewissen Zeit, während welcher die Schanfigger mit Leidenschaft dem Tanze huldigen, das Vieh aufzunehmen, damit die Hirten des Htitens enthoben sind und ebenfalls am Tanze theilnehmen können. Der Tanzplatz befindet sich im Freien; den Boden bilden „ Brügänä " ( Brücken; Brügi heißt der Holzboden in den Viehställen ); das Tanzen dauert Tage und Nächte lang. Die Bewohner des Felsenthales jodeln auch mit Vorliebe und bringen es darin weiter als die Prätigauer, ja nicht selten zu wirklicher Meisterschaft.
Nachdem ich den aussichtsreichen Gipfel verlassen, beging ich den Grat gegen den namenlosen Punkt 2436, der sehr selten besucht wird. Er ist ein Schafberg und nicht ganz so unschuldig, wie man nach unserer Excursionskarte meinen möchte; mir wenigstens erschien er als der schwierigste Gipfelgrat, der im ganzen Hochwang anzutreffen ist, wenn man hier von Schwierigkeiten überhaupt reden kann; er ist ungemein schmal, und wenn man denselben absolut nicht verlassen will, so muß man an einigen Stellen wirklich Vorsicht beobachten, namentlich wenn so starker Wind geht, wie er sich im Laufe jenes Nachmittags einstellte. WTenn auch die Abstürze nach beiden Seiten nicht von beträchtlicher Höhe sind, so würde dennoch ein Ausgleiten bedenkliche Folgen haben. Es war mir nicht deshalb da oben etwas ungemüthlich, sondern weil unter der südlichen Wand die Schafe weideten, so daß ich mich peinlich hüten mußte, Steine loszulassen. Leichter ist dann der Abstieg in nordöstlicher Richtung. Mein Sehnen galt noch dem Kistenstein, den ich zwar schon früher bestiegen. Man erreicht denselben leicht, indem man eine nicht sehr angenehme, jedoch nicht allzu breite Blockpartie überschreitet und dann über Rasenbändchen und kleine Felsstufen den Grat gewinnt, über welchen man in westlicher Richtung zum Gipfel sich wendet und hiebei Gelegenheit hat, die interessanten Felsbildungen zu beobachten. Der ziemlich wild aussehende Kistenstein ( 247 7 m ) ist für das Prätigau, was für das Schanfigg das Mattlishorn; die meisten Ortschaften des schönen Thaies sind sichtbar. Dagegen steht die Gebirgsaussicht etwas zurück hinter derjenigen der westlichen Hochwanggipfel; Casanna, Todtalp-Schwarzhorn und Weißfluh machen ihre Höhe in allzu großer Nähe fühlbar.
Der heftige Wind schien mir keine gute Vorbedeutung für den folgenden Tag; ich ließ daher die Parsennfurka und den Abstieg nach Davos bleiben und besuchte den Gyrenspitz ( 2187 m ), auf dem ich noch nie gestanden; ich erreichte denselben, Punkt 2262 auf der Westseite traversirend, um 3 Uhr 15 Min. Die Thalaussicht ist noch schöner als auf dem Kistenstein; auch Fanas, Fideris und Klosters-Dörfli sind hier sichtbar.
Der schöne Punkt ist namentlich den Kurgästen von Fideris sehr zu empfehlen; die „ Wegsame " vom Bad aus ist nicht so übel, einige sumpfige Stellen ausgenommen; beim Abstieg durch den Wald sollte man indeß den richtigen Pfad erwischen, besser als es mir glückte.Vom Alt-Säßli weg stolperte ich einfach auf 's Gerathewohl hinunter; alle Augenblicke liegt ein halb verfaulter Stamm am Boden, bei der Nähe des Dorfes und Bades eine staunenerregende Holzverschwendung. Im Bade, das diesen Sommer sich nicht sehr großer Frequenz zu erfreuen hatte, erfrischte ich meinen brennenden Gaumen mit einigen Gläsern des köstlichen Sauerwassers und eilte dann hinab auf den gewaltigen Schuttkegel, der Fideris trägt, um von Station Fiderisau mit dem letzten Zuge nach Schiers zu fahren.
Die nächsten Tage waren regnerisch oder doch so unbeständig, daß nichts zu unternehmen war.
Samstag, den 8. August, begab ich mich in 's Furnertobel, um jenen schon erwähnten Erdthurm noch einmal zu betrachten. Diese Erscheinung hatte mich wirklich frappirt; ich hielt sie für ziemlich selten. Ein Schierser, den ich auf meinem Wege in Prag zufällig traf, sagte mir indessen, im Schraubachtobel sei auch ein solcher „ Nagelfelsenthurm ", der schon oft seine Verwunderung erregt habe. Ich wollte mir heute vor Allem Gewißheit verschaffen, ob noch mehr solcher Gebilde in den Muntje-Rüfen anzutreffen seien. Man erreicht dieses Gebiet auf ordentlichem Holzwege von der Station Furna aus in zwei starken Stunden; der Gang ist an und für sich nicht uninteressant. Zahlreiche Erdschlipfe erinnern an die unheilvolle Einwirkung der Regenmassen des Jahres 1890. Drüben in dem Winkel zwischen Ronatobel und dem eigentlichen Furnertobel gewahrt man erstaunt eine furchtbare Waldverwüstung. Mehrere hundert Stämme liegen geknickt oder entwurzelt am Boden; andere stehen schief und weitere Partien sind bedroht Rutschungen sind die Ursache und durchaus nicht etwa auf Abholzung zurückzuführen. Mich interessirt es nur, ob diese Stämme geholt werden, oder ob sie, wie so viele tausende ihrer Brüder, das Schicksal haben, zu verfaulen. Aber auch auf der rechten Seite des Furnertobels sieht man an der schiefen Stellung ganzer Baum-partien, daß das Erdreich in Bewegung ist; doch begreift man es hier leichter, denn unterhalb fängt eben das große Rüfengebiet an. Den Erdthurm erreicht man von Neutieja aus in wenigen Minuten, indem man von da, wo der Weg ausgeht, vorwärts tappt, ohne wählerisch zu sein, bis man auf einmal am Rand der Rufe steht. Die Pyramide steht nahe am obern Ende und erschien mir nicht so imposant, wie meine Phantasie seit letzten Herbst sie ausgeschmückt hatte; immerhin würde sie mit ihrer Umgebung ein nicht unwürdiges Object für einen Zeichner darbieten. Vom untern Fuß bis zur Spitze mögen es gut 10 m sein; der untere Theil hat mehr cylindrische Form, während der obere sich rasch verjüngt, weshalb das Ganze nicht eigentlich schlank aussieht. Etwas weiter oben Drei Wochen im Clubgebiet.
steht noch ein kleiner Thurm, von dem man kaum begreift, daß er sich auf diesem steilen Gehänge halten kann. Ich umging den obern Rand der Rufe und stieg dann auf der andern Seite wieder hinab; der Thurm macht dort etwas mehr Effect, da man seine längste Kante von unten übersieht. Die graublauen Tobelhalden, der kühne obere Rand der Rufe mit seinen überhängenden Tannen, die beiden Thürme, die gelben Schlamm- Nach einer Photographie von Chr. Meisser, ströme, die sich nach Regenwetter hinuntersenken, und die seit langer Zeit unten liegenden, hie und da auch aus den Tobelseiten hervorragenden Baumstämme vereinigen sich zu einem reizvollen Bilde, das durch einen nahen prächtigen Wasserfall noch gewinnt. Ich überschritt noch jenes Tobel, in welchem der Wasserfall sich befindet, und kletterte dann auf der schmalen Rippe zwischen zwei Rinnen hinab zu ihrer Vereinigungs- stelle. Solches Terrain ist nicht nach meinem Geschmack, wo man nichts Festes unter den Füßen hat; da ist so ein solider Brocken Rhätikonkalk doch etwas Anderes. Ich ließ mich an einer lang aufgeschossenen Erle, die ich halb absägte und zu Boden drückte, so weit als möglich hinab und erreichte dann in einigen Sätzen den Grund des Tobeis, durch das ich noch vollends zum Furnerbach hinabstieg. Ich wurde in zweifacher Hinsicht enttäuscht. Von der pittoresken Schlucht, die ich dort erwartet hatte, war nicht viel zu sehen; es fanden sich zwar Biegungen und Ver-knickungen der Schieferschichten, die jedoch an Schönheit hinter denen der Stierentole im Schraubachtobel weit zurückstehen. Auch die Thürme und Kegel, die ich beim Hinaufklettern noch entdeckte, waren nicht mehr von so ausgeprägter Form und Schönheit, wie der erste; entweder zu unbedeutend oder zu plump, um das Jnteresse zu erregen. Auf einem der letztern war noch ein Rasenplätzchen mit zwei Tannen übriggeb¾ieben. Der Rüfenboden ist schwer zu begehen; bei trockenem Wetter sind die steilen Halden so fest und hart, daß der Fuß nur mit Mühe Stand rindet; hat es geregnet, so sind sie wieder viel zu schlüpfrig. Die Mittelwände zwischen den Rufen - Steilmulden sind sehr schmal; einen solchen Grat passirte ich halb rittlings, bald mit den Armen nach der einen Seite übergreifend und auf der andern mit den Füßen arbeitend. So gelangte ich durch den nördlichen Theil des Rutschgebietes wieder hinauf in die bedrohten Waldpartien, wo mich einiges thierische Leben erfreute. Es erschreckte mich dort ein Haselhuhn; ich sage „ erschreckte ", denn fast jeder Wanderer wird dieses Gefühl empfinden, wenn der scheue Waldbewohner mit schwerem Flügelschlage hart neben dem Ahnungslosen emporfiattert; kurz nachher sah ich einen Birkhahn das Weite suchen und unmittelbar darauf ein Wiesel verschwinden. In botanischer Beziehung ist eine Alpenrosencolonie merkwürdig, die sich fast unten am Furnerbach, also in einer Höhe von nur circa 1250 m, befindet. Sie stemmt offenbar vom obern Rand des Rüfengebietes, wo in immerhin ebenfalls noch geringer Höhe zahlreichere Exemplare winken.
Wie schon angedeutet, begegnet man den Rüfenthürmen auch im Schraubachtobel. Es befindet sich ein solcher von bedeutenden Dimensionen in der Hochrufe; man erblickt denselben sehr gut von der Alp Valpun; ein anderer, mehr walzenförmiger, steht in den Rufen des Großbaches und muß nach den Angaben meines Clubgenossen Truog ein recht stattliches Exemplar sein, umsomehr, als er auf der Deckfläche einen gewaltigen Stein trägt; er würde, wie noch mehrere dieser Gebilde, Einen an die Pyramiden von Useigne erinnern, die ich freilich nur von Vex aus gesehen.
Diese Griesthürme kann man immer da antreffen, wo sich zwischen zwei benachbarten Rutschgebieten eine schmale Mittelw'and vorfindet. Diese ist vielleicht zuerst fast horizontal oder schwach geneigt; durch Drei Wochen im Clubgebiet.
Ursachen verschiedener Art, z.B. durch Bildung kleiner Seitenrinnen, wird der stehen gebliebene Mittelgrat geschartet; der Einschnitt wird immer größer und tiefer, bis der Thurm isolirt dasteht. In der That hat man im Muntjetobel Gelegenheit, die vollständige Entwicklung von der seichten Einbuchtung bis zur tiefen Scharte, von der anfänglichen vorspringenden Ecke zum ausgebildeten schönen Kegel an zahlreichen Mittelrippen zu beobachten.
Ich besuchte die Muntje-Küfen am 21. August nochmals, diesmal in Gesellschaft meines Clubgenossen Meißer, der seinen photographischen Apparat mitnahm. Wir exponirten bei nicht sehr günstiger Beleuchtung sechs Platten, theils für den mehrmals erwähnten Erdthurm, theils für andere Partien des Rutschgebietes 5 heldenniüthig kletterten wir in den A. Ludwig.
steilen Seiten umher und hätten in unsern sonderbaren Stellungen, die das ungünstige Terrain zum Aufstellen des Apparates erheischte, wohl Heiterkeit erregt. Freund Meißer ließ sich auch die Mühe nicht verdrießen, den beschwerlichen Weg durch das Schraubachtobel zur Stierentole zurückzulegen, um die schönen Schichtenbiegungen aufzunehmen. Ich darf dieselben hier um so eher erwähnen, als sie auch im Hochwang vorkommen.
Sollte allenfalls ein Clubgenosse Lust haben, das Muntjetobel zu besuchen, so kann er auf dem Rückwege sich die Stätte besehen, wo ehemals das Bad Jenaz gestanden. Ich gelangte nie dazu und kann daher auch nicht sagen, ob die Quelle noch fließt und ob noch Spuren der ehemaligen Gebäulichkeiten zu sehen.
Es sei mir hier gestattet, zu bemerken, daß das Wort „ Rufe " im Prätigau eigentlich zwei Bedeutungen hat. Rufe heißt ein in Bewegung befindlicher Stein- und Schlammstrom, wie ihn die Bewohner von Schiers etwa beobachten können, wenn bei anhaltendem Regenwetter hoch oben an den schwarzblauen Flühen des Landquartberges sich plötzlich eine Masse Geschiebes loslöst und mit donnerndem Gepolter hinunterrast bis an den Fuß des Berges, wo die Landquart den hiedurch entstehenden Schuttkegel nach und nach wegfrißt, so daß die Tobel oft mit hoher Geschiebewand zum Flußbett abfallen. Rufen heißen aber auch die zahlreichen, nicht felsigen Abrutschungsgebiete selbst, von denen das oben geschilderte im Furnertobel ein Heispiel ist. Ihre gelbgraublaue Farbe unterbricht nur zu oft das Dunkel prachtvoller Wülder; von Vegetation ist auf dem unfruchtbaren Gries keine Rede. Es finden sich solche gewaltige Rufen namentlich auch im Gebiete des Schraubaches. Ueber dieselben fuhrt gewöhnlich nur ein höchst primitives Weglein, das oft kaum passirbar ist, weshalb man sich manchmal gezwungen sieht, den obern Rand zu umgehen. Dies verschmähten jene zwei Schierser, die einst ein gewaltiges Alpkessi von Schuders nach Drusen befördern sollten; sie wählten, auf ihre Kraft vertrauend, den Weg durch die Rufe selbst, mußten aber der Schwankungen und des Gegenstoßes wegen das Kessi falnen lassen, um mit heiler Haut davonzukommen, und gaben so der bekannten „ Kessirüfe " den Namen.
Doch wir haben damit den Hochwang schon verlassen. Wenden wir uns zu etwas höhern Gipfeln.
II. Gorihorn ( 2989 m ), Flüela-Weißhorn ( 3088'm ) und Kessispitz ( 2834 m ).
Am 9. August lag wieder Neuschnee auf den Gipfeln. Ich fuhr am Morgen bis Wolfgang, besuchte die Todtalp, unternahm auch den fast werthlosen Abstecher auf Punkt 2536 und erstieg dann über den Südgrat das Schwarzhorn ( 2672 ™ ). Von hier aus wendete ich mich über die Parsennfurka und den Gemeinen Boden zur Casanna ( 2561 m ), lavirte durch eine steile Rnnse hinab in die Alp Parsenn und war Abends 6 Uhr wieder auf dem Wolfgang. Ich wollte anfänglich hier übernachten; denn ich hegte den ziemlich großartigen Gedanken, am folgenden Tag über Drusatscha zum Grat zwischen Mönchalp und Flüelathal aufzusteigen und dann, immer den Kamm begehend, nach einander Pischa, Gorihorn und Flüela-Weißhorn zu besuchen. Reifliche Ueberlegung ließ mich indeß davon abkommen, besonders da ich nicht wußte, wie es mit der Gangbarkeit dieses Grates bestellt sei; zudem war ich, wie gewöhnlich, allein; ich begab mich deßhalb am gleichen Abend noch in 's Flüelathal, wo ich in der Alpenrose gutes und billiges Quartier fand. Die Flüelastraße hat für einstweilen durch die Bahn Landquart-Davos gewonnen und ist ziem- lieh belebt; manches Fuhrwerk bewegt sich auf derselben, und eigenthümlich muthet es Einen an, spät am Abend in einer Höhe von 1800 m die Post vorbeirasseln zu hören.
Am 10. August brach ich erst um 6 Uhr 30 Min. auf und begab mich zunächst zum Tschuggen, wo neben dem Wirthshaus ( nach Sererhard „ die gemeine Niederlaag aller Durchreisenden " ) auch ein Kirchlein steht. An den Tschuggen knüpft sich eine fesselnde Erzählung des beliebten bündnerischen Schriftstellers A. v. Sprecher, die ich besonders darum erwähne, weil darin eine halb sagenhafte Besteigung des Fergenkegels durch einen Geißhirten und nachherigen Pfarrer geschildert wird. Unmittelbar hinter den Gebäuden verließ ich die Straße und wendete mich dem Tschuggenberg zu, durch den es zunächst ziemlich steil hinaufgeht; nachher kommt man in eine sanftere Thalmulde; überhaupt ähnelt der ganze Aufstieg sehr demjenigen durch die Tschuggenmäder und das Mattjesthäli; nur hat letzteres noch mehr wirklich thalartigen Charakter. Oestlich von dem kleinen See machte ich einen kurzen Halt; dann passirte ich die zwischen den auf der Karte leicht erkenntlichen Felspartien sich herabsenkende steile Grashalde und kam so in ein Gebiet ganz andern Charakters. Der Schnee lag in diesem weniger steilen Gehänge noch ziemlich tief; mächtige Blöcke versperrten oft den Weg. Hier bekam ich endlich das Gorihorn einmal zu Gesichte; aber nur mühsam, oft durch den weichen Schnee zwischen den Steinen einbrechend, näherte ich mich allmälig dem Grat, mußte aber noch abschüssige Gneißplatten überwinden, bevor ich nach unschuldiger Kletterei den Gipfel erreichte. Das Gorihorn ist wenig bekannt und scheint sehr selten besucht zu werden; ich fand in der Flasche eine einzige Karte, von Herrn Oscar Schuster mit Führer Engi. Vom Prätigau sieht man nur Pany und Seewis; überhaupt steht die Thalaussicht hinter derjenigen der Pischa zurück, während das Gebirgspanorama im Großen und Ganzen natürlich dasselbe ist. Schön machen sich, wie immer von den Davoserbergen, die Oberhalbsteiner und die Häupter der Albulakette, Piz d' Err, das mächtige Trapez des Piz Kesch und das Gletschergebiet des Piz Vadred.
Ich bereute es keineswegs, meinen gestrigen Plan abgeändert zu haben; denn die beabsichtigte Gratwanderung wäre entschieden zu zeitraubend gewesen. Ich nahm mir aber vor, später den Kamm von der Pischa zum Gorihorn doch noch zu begehen; es muß das unbedingt eine herrliche Wanderung sein. Heute aber verzichtete ich sogar auf den Grat zum Weißhorn; ich sah nämlich auf den ersten Blick, daß der Abstieg zu den Jörisee'n in südlicher Richtung leicht möglich sei, und bewerkstelligte denselben durch ein steiles Fels- und Trümmertobel; dann wanderte ich über Geröll und kleine Schneefelder dem größten der Jörisee'n zu. Das Pfeifen der Murmelthiere, das „ gör, gör " der Schneehühner und äußerst zahlreiche Gemsenspuren lassen erkennen, daß hier doch auch noch etwa Gewild sich regt; von den flüchtigen Gazellen des Gebirges erblickte ich indeß nur ein einziges Exemplar in den Felsen oberhalb des genannten See's. Die prachtvolle Perlenschnur der Jörisee'n, in denen noch mächtige Stücke Eis schwammen, verleiht im Verein mit dem wunderschönen Gletscher dem Hintergrunde des Jörithales einen eigenartigen Reiz, verschieden zwar in seiner Art von der Schönheit des Ltinersee's, aber nicht minder anziehend, dabei des Großartigen nicht mangelnd; denn gar kühn winken die Pyramiden der Plattenhörner-Linardgruppe in der Nähe. Einen würdigen Abschluß bildet im Süden das Weißhorn. Dasselbe ist ein prächtiger Gipfel. Nach Norden, in 's Vereinathal hinaus, leuchtet weit das steile Schneedreieck, das dem Berge den Namen gegeben; von Westen dagegen erkennt man ihn leicht an der gewaltigen Steilmulde, die sich vom obersten Horizontalgrate hinabsenkt in 's Flüelathal zur weißen Rufe. Als ich von den See'n aus die schimmernde Berggestalt so recht betrachtete, erwachte mit verdoppelter Kraft der Wunsch in mir, den Fuß auch einmal dort hinauf zu setzen. Dem Gedanken folgte unmittelbar die Ausführung. Ich überwand leicht die Felsstufen, welche den westlichen Gletschertheil von dem größten See trennen. Der Gletscher war mit tiefem Schnee bedeckt und darum etwas mühsam; er ist fast spaltenlos und ungefährlich. Eis bekam ich eigentlich erst auf dem Abstiege zu sehen. Ich suchte den westlichen Grat zu gewinnen und kam dabei noch zu einem kleinen See, der in seiner winterlichen Hülle einen frostigen Eindruck machte. Die gestrige Tour und die Schneewaterei um das Gorihorn herum hatten mich doch ein wenig ermüdet, so daß ich öfters Athem schöpfen mußte, bis ich endlich den Grat erreichte, auf der Karte ungefähr lcro südlich von Punkt 2793. Zunächst ging 's hier etwas leichter; nachher wurde die Steigung bedeutender, und die mächtigen Blöcke und Platten, zwischen denen ich oft bis an die Hüften einsank, erforderten nicht geringe Anstrengung. Indessen tröstete ich mich auf ähnliche Weise, wie Till Eulenspiegel, wenn er bergauf ging; ich freute mich schon auf den leichten Abstieg oder, richtiger gesagt, auf die famosen Rutschpartien, die es nach meiner Meinung auf dem nebenanliegenden Schneedreiecke absetzen sollte. Endlich erreichte ich die Stelle, wo die Spitze des letztern mit dem nun etwas nach Südwesten umbiegenden Kamme zusammentrifft, welcher den obern Rand der Schnee- und Trümmerhalden bildet, und stand nun bald beim Steinmann. In einer Flasche fanden sich die Namen der Herren Oscar Schuster, Rzewuski, Dr. Bela Tanscher und Frau Hermine Tauscher, dem bekannten Ehrenmitglied der Section Rhätia, Alle mit Führer Engi. Wer das Weißhorn ersteigen will, dem rathe ich an, entweder vom Wegerhaus 2210 direct durch Geröll und Schnee in jener mächtigen Mulde vorzugehen oder das Flüelaliospiz zum Ausgangspunkt zu nehmen; diese Aufstiege sind viel kürzer, und dann kann ja der Abstieg über die Jörisee'n gewählt werden. Ich hätte freilich heute keine bessere Route einschlagen können, da ich ja vom Gorihorn herkam.
Es blieb mir nicht lange Zeit, die Aussicht zu mustern, da es schon halb 4 Uhr war und zudem sich ein Gewitter zusammenzuballen schien. Im Prätigau sieht man nur noch Pany; schön hat man Vereina- und Flüelathal unter sich; im Süden zieht sich die Flüelastraße tief unten hinab in 's Susascathal. Ein eigentliches Schaugerüst für die Albulakette ist das Weißhorn nicht, da es fast in ihrer Längslinie liegt; doch sind die nähern Partien immerhin effectvoll, namentlich der vergletscherte Piz Vadred. Auch das Schwarzhorn, obwohl ein abgelaufener Modeberg, nimmt sich nicht übel aus. Dominirend ist natürlich die nahe Linard-gruppe; das eigentliche Silvrettagebiet tritt etwas zurück, und auch die rechtsseitigen Unterengadiner, hinter denen der Ortler sich bemerkbar macht, vermögen nicht zu concurriren; sie sehen zu düster, verbrannt und gletscherarm aus. In der ganzen Kette zwischen Flüela- und Vereinathal scheint mir das Pischahorn den Vorzug zu verdienen; wer kein eigentlicher Gipfelstürmer ist, wird von demselben ebenso befriedigt zurückkehren, als vom Gorihorn oder Weißhorn; eine wundervolle Partie, ich meine die Jörisee'n, ist ihm dann freilich entgangen.
Der Heimweg war weit; ich brach deßhalb bald auf, nachdem ich noch meinen Namen deponirt und alles Verlierbare aus den Taschen im Tornister versorgt hatte, letzteres in Hinsicht auf die bevorstehenden Rutschpartien. Allein mit denselben war es nichts; ich riß solche Massen Schnee's mit mir fort, daß ich die Geister, die ich beschwor, fast nicht mehr los wurde; zudem hätte ich auf dieser etwas zu steilen, schiefen Ebene die schönsten Studien über beschleunigte Bewegung und Umwandlung des Gleitens in 's Rollen machen können, so daß ich es, aus allen Kräften bremsend, vorzog, wieder festen Fuß zu fassen, nachdem ich glücklich Taschen und Schuhe mit Schnee gefüllt hatte. In langsamerem Tempo, mich ausgibig des Stockes bedienend, schritt ich hinab zum sanftem Gehänge des Jörigletschers und longirte letztern in genau nördlicher Richtung, wobei ich eine einzige Spalte östlich von dem scharf abstechenden Felsrücken antraf. Gegen die See'n hinunter merkte man endlich doch, daß man auf einem Gletscher sich befinde; der Schnee lag hier weniger tief. Ich setzte über den Bach, wanderte gemächlich am Ufer der blauen See'n und passirte dann die Felsenschwelle nördlich vom größten See. In Fremd-Vereina bildeten mächtige Lawinenreste eine natürliche Brücke über den Bach; ich traute ihr indeß nicht recht, gab mir übrigens auch nicht Mühe, trockenen Fußes hinüberzukommen, da ich denselben schon wiederholt durchwatet hatte. Wenn die Wetteraussichten günstiger gewesen wären, so wäre ich, trotzdem ich allein war und die Küchenutensilien nicht zur Verfügung standen, in der Clubhütte übernachtet, um am folgenden Tage Canardhorn und Silvretta-Weißhorn zu besuchen; allein die Häupter der Berge hüllten sich nach und nach in ein dichtes Nebelgewand, und so beschränkte ich mich darauf, die einen propern Eindruck machende Hütte zu besichtigen und dann den Fuß weiter zv setzen, um an diesem Abend noch Klosters zu erreichen. Ein schmales Steglein führt unweit der Clubhütte über den Bach, und von hier an bleibt der Weg bis nach Novai auf der rechten Thalseite. Es fehlt demselben nicht an landschaftlichen Reizen, wozu namentlich die vielen wasserreichen Sturzbäche und gewaltige Lawinenreste gehören; der Weg selbst jedoch ist in kläglichem Zustande, und es scheint das projeetirte Sträßchen lange auf sich warten zu lassen. Erst um 8 Uhr kam ich nach Novai; es war bereits so dunkel, daß ich kaum das prächtige Fahrsträßchen entdeckte, das diese Alp mit Klosters verbindet. Diese angenehme Strecke, auf der das Murmeln der jugendlichen Landquart schmeichelnd den Wanderer begleitet, kam mir diesmal recht lang vor, umsomehr, als ich zu guter Letzt noch das Gewitter zu spüren bekam, das sich nun endlich entlud. Um 9 Uhr erreichte ich Klosters, gehörig durchnäßt und müde, aber innerlich erfreut über die heutige Tour, die mich bei noch recht günstigem Wetter auf die zwei höchsten Gipfel unseres Excursionsgebietes geführt hatte. Ich übernachtete in Klosters, mit dem Hintergedanken, am Morgen, wenn irgend möglich, doch nach dem Canardhorn aufzubrechen; allein der Nebel schien nicht so schnell weichen zu wollen, und so fuhr ich mit dem Frühzuge nach Schiers.
Da wir einmal an den Ausläufern der Silvrettagruppe sind, so erwähne ich hier noch eine Tour in der nördlichen Schlappinerkette, nämlich diejenige auf den Kessi- oder Kübliserspitz. Ich unternahm dieselbe von Klosters-Dörfli aus. Der Weg nach Schlappin-Dorf wird Einem nie langweilig werden; der Bach macht gar zu muntere Sprünge. Beim Thalknie befindet sich eine kleine, etwas sumpfige Ebene; von hier an führt der Weg mit sehr schwacher Steigung durch das lange, einsame Thal hinein, das einst den Oberlauf des Davoser Landwassers gebildet haben soll. Man übersieht das liebliche Thälchen am besten von der Madrisa aus, und es ist dieser Blick geradezu ein Hauptstück der Aussicht von letzterm Gebirgsstock; dagegen vernachlässigt man darüber, und weil im Hintergrund die Silvrettagruppe dominirt, nur zu leicht die einschließenden Schlappinerketten, die trotz ihrer nicht unbedeutenden Höhe gar zu sehr zurückstehen. Die Wanderung zur Kübliser-Alp ist äußerst angenehm, jedoch zunächst nicht aussichtsreich; man vermag die Abhänge nicht bis zum Kamme hinauf zu verfolgen, und von dem prachtvollen Thalabschluß ist noch nichts zu bemerken; nur des Plattenhorns dunkle Wände heben sich scharf vom blauen Himmel ab. Die Alpgebäude von Außer-Säß bilden ein kleines Dörfchen, allwo der Tourist sehen mag, daß er nicht in den tief mit Dünger bedeckten Gäßchen stecken bleibt.
Gegenüber haben sich, circa 2000 m U. M., in steiler Halde kümmerliche Waldreste erhalten. Die Hütte von Inner-Säß sieht höchst primitiv aus; die Weiden werden steiniger; man nähert sich dem Absturzgebiete der nun sichtbaren Gräte und Zacken.
Bei der Hütte stand eben der Senn im Gespräch mit einem Monta-funer-Führer, der nach Partennen wollte. Ueber das Ziel meiner Wanderung befragt, nannte ich den Kessispitz; allein weder der Senn noch der Führer wollten wissen, wo dieser sei, und als ich ihnen die Richtung zeigte, in welcher der hier noch nicht sichtbare Gipfel liegt, behauptete der erstere, das „ Kessi " liege nicht dort oben, sondern vom Saß aus in südöstlicher Richtung, während das, was ich „ Kessi " nannte, in Wirklichkeit „ Kessel " heiße. Ich bezweifelte diese Angaben stark; doch sei dem wie ihm wolle, die Sache bleibt sich ziemlich gleich; wir haben einen „ Keßler " und einen „ Kessispitz ", die sich beide ihr Bürgerrecht auf der Karte erworben haben.
Da der Montafuner das Garneirajoch benutzen wollte, um in seine Heimat zu gelangen, so brachen wir mit einander auf und stiegen gemächlich durch die Spuren des Weges hinauf in die sanft geneigte Mulde des Garneirabaches, der über den untern steilern Hang sprudelnd und schäumend dem Schlappinerbach zueilt. Links senken sich Schutthalden herunter von den wilden, kahlen Felsen des Eisenthälispitz; rechts zieht sich ein Trümmer- und Schneethälchen hinein bis an den Fuß der Halden, die direct zum Kessispitz hinaufleiten. Diese Mulde, heiße sie nun Kessi oder Kessel, sollte man passiren, wenn man bei der Besteigung des Kessispitz nicht mit der Kirche um 's Dorf herumlaufen will; man wird dabei mehr als eine Stunde Zeit ersparen. Ich nahm das Garneirajoch mit, weil ich noch nie dort oben gestanden und so auch länger in Gesellschaft des Führers bleiben konnte, mit dem ich nicht ungern plauderte. Was mir an diesem Manne auffiel, war seine schriftdeutsche und von ziemlicher Bildung zeugende Ausdrucksweise. Als ich ihm meine Verwunderung darüber ausdrückte, bemerkte er, ich sei nicht der Erste, der ihn deßwegen befrage. Er sei manche Jahre als „ Kabisschnetzer " in die Rheinlande, bis nach Köln und noch weiter, gekommen und habe überhaupt die Welt ein wenig gesehen. Ueber Letzteres verwunderte ich mich bei einem Montafuner keineswegs; dagegen konnte ich fast nicht begreifen, wie bei diesem Geschäft, das sich doch nur vom Herbst bis Weihnachten erstreckt, etwas herausschauen sollte, wenn man die Länge und die Kosten der Reise in Betracht zieht. Er klagte übrigens, daß jetzt hierin nicht mehr viel zu machen sei, sowohl in Folge der Concurrenz von Arbeitskräften, als auch weil die hiezu erforderlichen Instrumente, in deren Herstellung die Montafuner ein gewisses Renommee besaßen, nun auch anderwärts in gleicher Güte fabrizirt würden.
Naturgemäß kamen wir auch auf Wild, Jäger, Wilderer und Schmuggler zu sprechen. Da war ich denn erstaunt, zu hören, daß drüben ganz die gleichen Meinungen über unser Gebiet herrschen, wie bei uns über das ihrige. Die Prätigauer Jäger glauben, das Montafun sei wildreicher, streifen daher oft hinüber und wissen nicht genug zu erzählen von den Feindseligkeiten der sie allenfalls antreffenden Finanzer oder einheimischen Jäger; dagegen behauptete mein Gefährte, der selbst Jäger ist, steif und fest, auf Schweizerseite habe es viel mehr Gemsen, aber die Bündner Jäger würden sich nichts daraus machen, einen herüberstreifenden Oesterreicher zu tödten; früher wenigstens sei es so gewesen. Er erzählte mir einige Beispiele von solchen, meist sagenhaften oder stark ausgeschmückten Rencontres. So sei ein Jäger aus Galthür mit seinem Sohne am Seegletscher gesessen, um eine Stärkung zu sich zu nehmen, als plötzlich von Schweizern ihnen eine Kugel zugesandt worden, die indessen unschädlich zwischen den Füßen des Vaters durchgegangen. Darauf sei derselbe, wie wenn er getroffen wäre, zurückgesunken und habe zum Sohne gesagt, er solle jammernd und wehklagend über den Gletscher hinlaufen. Nun seien die Schweizer hervorgekommen und auf ihr vermeintliches Opfer zugeeilt, aber — der Erzähler vollendete den Satz nicht — wenn der Galthürer diese Geschichte erzählt habe, so habe er immer geschlossen: „ I hob besser troff'n ". Wie man sieht, sind es ähnliche Histörchen, wie sie bei uns im Schwange sind; sie sollen jedesmal die Geistesgegenwart und Tapferkeit der angegriffenen eigenen Landsleute constatiren.
Wir saßen ziemlich lange, uns erfrischend, auf dem Garneirajoch. Die Aussicht, die dasselbe bietet, ist beschränkt; doch erblickt man endlich einmal den Kessispitz, und zwar von vorteilhafter Seite; er erscheint hier als schön gewölbte Schneekuppe. Das anziehendste Stück ist der wilde Kamm bis zum Hochmaderer, die Plattenspitze, Cromerthalerwand und Gunschellasspitzen. Die schattige, nach Nordwesten gekehrte fels-bekränzte Firnmulde unter diesem Kamm führt den Namen Hinterberger Litzi. Von den entferntem Häuptern sticht vortheilhaft die Patteriolspitze hervor.
Der Montafuner bestätigte mir, was im Jahrbuch schon einmal erwähnt wurde, daß unser Groß-Seehorn im Illthale Groß-Litzner und umgekehrt unser Litzner dort Seehorn heißt. Es war sein sehnlicher Wunsch, den Groß-Litzner, von dessen Schwierigkeiten er schon so viel gehört, auch einmal zu besteigen. Er erzählte mir, in einer Alphütte habe er einst einen tüchtigen Tyroler Führer getroffen, der die Walliser und Berner Riesen schon bestiegen; derselbe habe geweint, wie ein Kind, weil er vor dem Groß-Litzner, nicht etwa der Witterung wegen, habe umkehren müssen.
Während unsere Vorfahren sich auf den Grenzpässen die Köpfe blutig schlugen, schieden wir, als friedlichere Nachkommen, mit herz- lichem Händedruck von einander. Er eilte in 's Gannerathal hinunter, indessen ich den zuerst noch ziemlich zahmen, dann allmälig wilder werdenden, mit großen Blöcken und Platten bedeckten Grat verfolgte, der zunächst sich südlich zieht. Hie und da verließ ich denselben auf kurze Zeit, um die linksseitigen Schneehalden zu benutzen. Mehrere auf einem kleinen Rasenplätzchen eingeschnittene Namen zeigten mir, daß der Grat kürzlich mußte passirt worden sein. Wenn diese Partie demselben Ziele zustrebte, wie ich, so hat sie wahrscheinlich auch den gleichen Bock geschossen. Ziemlich mühsam, aber stetig vorrückend, glaubte ich mich bald oben; aber auf einmal kam ich an eine Stelle ( Punkt 2751 ), wo die Felsen „ jäh versinken ". Der Grat brach plötzlich fast senkrecht ab zu einer tief eingeschnittenen Scharte.Vergebens spähte ich umher, um einen irgendwie praktikabeln Abstieg zu finden; ebenso wenig konnte ich auf das östlich liegende Firnfeld gelangen oder rechts in den Hintergrund des „ Kessi " absteigen. Ich mußte, so ungern es geschah, ein gutes Stück zurück, bis ich endlich durch ein steiles Trümmertobel hinter dem See in 's Kessi hinabklettern und stolpern konnte. Als ich unter dem Felskopf durchging, wo ich zur Umkehr gezwungen worden, zeigten mir zwei von dort herbeieilende Gemsen die Stelle, wo ich nothdürftig den Abstieg hätte forciren können. Die Scharte besuchte ich nun nicht, sondern stieg über Geröll und Schneeflecken direct auf die Kuppe hinauf; dieselbe geht unvermuthet noch in einen schmälern Grat über, auf welchem man ohne Schwierigkeiten nach kurzer Wanderung den Steinmann erreicht.
Den größten Theil der Aussieht kann man auf der Madrisa oder sogar schon auf der Rätschenfluh billiger haben. Die kahlen Vorarlberger imponiren nicht; der Rhätikon erscheint unter zu spitzem Winkel, um sich geltend inachen zu können; die Scesaplana verdankt nur der Breite ihres Massivs, daß sie hier so recht als Königin der langen Gebirgs-Hjauer erscheint. Schön sieht man im Westen die Tödigruppe und was drum und dran hängt. In der Nähe hat man nordwestlich die kahlen, zerrissenen, rothbraunen Felsen des Eisenthälispitz und Rothbiilil, an welchen man vergebens nach Schneeflecken sucht; in der südlichen Schlappinerkette fesseln besonders die trotzigen Fergenhörner, eine gut ausgeprägte, stilvolle Gruppe, während die etwas höhere Schiltfluh als plumper, charakterloser Blockgipfel erscheint. Den Glanzpunkt aber bildet die unvergleichliche See- oder Litznergruppe. Schon das große Seehorn ist eine wunderschöne Pyramide, und nun denke man sich noch den Groß-Litzner dazu, einen Thurm von fast phänomenaler Kühnheit; dieses Paar wird auf jeden Beschauer einen bleibenden Eindruck machen. An Höhe der Seegruppe nicht ebenbürtig, aber an Kühnheit der Thürme, Hörner und Nadeln mit ihr wetteifernd, verbinden die Seescheien die östlichen Enden der Schlappinerketten. Die Thalaussicht dagegen ist sehr beschränkt; man erblickt kein Dorf, weder des Montafuns noch des Prätigan's, und von den Seitenthälern ist nur dasjenige von Gannera auf größere Strecke sichtbar.
Die Gipfel der Schlappinerketten gelten im Allgemeinen als undankbar; ich muß indeß gestehen, daß ich den Kessispitz wo möglich nochmals besteigen werde, hauptsächlich der Litznergruppe wegen; freilich gedenke ich mir dann auch die Seescheien näher zu besehen. Der prachtvolle Abschluß des Schlappinerthals, jener Kranz von der Schiltfluh bis zum Rothbühl, lohnt an und für sich schon einen Gang in dieses Gebiet. Nicht ohne Reiz müßte in dieser Beziehung eine Besteigung- des fast im Centrum desselben gelegenen Plattenhorus ( 2677 m ) sein. Der Hintergrund des Schlappinerthaies übertrifft an malerischen Reizen sogar denjenigen des Gafienthales, welches zwar ebenfalls wunderschön abgeschlossen wird, zunächst durch die ^weißen Kalkwände der Plattenfluh und dann durch die dunklern Thürme und Pyramiden, die vom Madrishorn zum Madriserspitz hinüberleiten; aber so kühne Gestalten, wie die Seescheien, finden wir hier nicht, und die größern Firnfelder und die Gletscher fehlen, während die Schlappinerketten deren drei aufweisen ( Leidhorn-, Reßler-uud Schiltgletscher ); letztern scheinen die Klosterser-Jäger auch Kalber-thäligletscher zu nennen; derselbe soll sehr spaltenreich sein.
Um halb 4 Uhr verließ ich den Gipfel, den Abstieg durch ein äußerst steiles Felstobel bewerkstelligend, das ich zum Absteigen nie mehr, vielleicht aber nächstes Mal als sehr directen Aufstieg benutzen werde. Man gelangt durch dasselbe hinab auf die Trttmmernalden nördlich des Hühnersee's, der mich fast zu einem Bade verleitet hätte, wäre es nicht schon so spät an der Zeit gewesen. Ich mußte mich entscheiden, entweder wieder nach Schlappin hmauswandern oder, den Grat der Seescheien überschreitend, das Thälchen von Sardasca zu gewinnen suchen, was für mich den Reiz der Neuheit gehabt hätte. Allein da ich so wie so nächsten Sommer dieses Gebiet noch einmal zu bereisen gedenke und überdies keine Karte des Silvrettagebietes zur Hand hatte, so wollte ich nicht „ antieipiren ", passirte daher zwischen Plattenhorn und Hülmersee durch und überschritt bald darauf den Bach, um etwas aus dem Bereich der massenhaft umherliegenden lästigen Blöcke zu kommen, und eilte dann in beschleunigtem Schritte durch die Kübliser-Alp hinaus nach Schlappin und Klosters-Dörfli, wo ich noch knapp den letzten Zug erwischte. Ich hatte wohl daran gethan, meine Tour nicht auf zwei Tage auszudehnen; gerade als ich in Schiers ausstieg, erdröhnte der erste Donnerschlag eines Gewitters, und der folgende Tag war für Hochtouren ganz ungeeignet, zum großen Aerger unzähliger Bergsteiger, die sich nach den Höhen aufgemacht hatten, in der Meinung, dem prachtvollen Samstag werde ein ebenso schöner Sonntag folgen.
III. Kirchlispitzen ( 2555 und 2541 » ).
Der 12. August war für mich ein halbverlorner Tag. Ich stand sehr früh auf und schaute nach dem Wetter; dasselbe verhieß nichts Gutes, und nicht ungern kroch ich, dem Gesetze der Trägheit folgend, noch einmal in die Federn, verträumte auch glücklich die Abfahrt des ersten Zuges. Allein im Laufe des Vormittags hob sich der Nebel; der schönste blaue Himmel lachte und schien mich zu verspotten. Um wenigstens noch etwas auszuführen, fuhr ich mit dem zweiten Zuge nach Saas, wo ich um 11 Uhr anlangte und sogleich den Weg nach der Rätschenfluh antrat, die auf dem heutigen Programm figurirte; die Hauptrolle war freilich dem österreichischen Madriserspitz zugedacht gewesen. Auf nicht übelm Wege gelangt man rasch nach der Alp Albeina, zum großen Theil durch Wald, dessen Holz, als von hiezu besonders geeigneter " Qualität, zu Violinen sehr gesucht ist, namentlich dasjenige aus dem östlichen Theile. Im Vieh-Calanda droben weideten die Heerden; in dem weiß und grün gemischten, nach Westen steil abfallenden Zuge vom Geißhorn zum Rätschenhorn pfiffen die Murmelthiere; wie ganz anders war es im October, als ich noch einmal in dieses Gebiet kam, das thierische Leben verschwunden, die Blumen verblüht, und das Gefühl, für dieses Jahr meine Wanderungen abschließen zu müssen, ließ mich um so wehmüthiger nach der unvergleichlich schönen Saaseralp zurückblicken. Heute aber strebte ich mit frohem Muth aufwärts und begab mich aus dem lieblichen Thälchen des Vieh-Calanda auf das Kalkgebiet des Saaser-Calanda ( 2560 m ), wo kleine Felsstufen abwechseln mit Rasenplätzchen. Mitten auf diesen grünen Böden findet man oft sogenannte Steinwaben von so regelmäßiger und zierlicher Gestalt, daß man glauben könnte, hier seien Menschenhände im Spiele gewesen. Die berasten Flecken verschwinden allmälig; die Terrassen werden ausgedehnter; es sieht oft aus, als ob man auf einem Bauplatz sich befinde, wo die Zimmerleute den hellgrauen Kalk verarbeitet haben statt des Holzes; angenehm, ohne jedes Klettern, geht 's vorwärts, bis man beim gewaltigen Steinmann des Rätschenhorns steht ( 2707ra ). Die Aussicht steht derjenigen der Madrisa wenig nach; nur entzieht Einem letztere den schönen Blick in 's Schlappinerthai und auf die Seegruppe; dafür ist aber die Thalaussicht nach Westen weit schöner; denn dem Besteiger der Madrisa vermag die Rätschenfluh ziemlich viel zu verdecken, da z.B. nicht einmal das Kreuz ( 2200 m ) sichtbar ist. Ich konnte zwar nur hie und da durch einen „ Riß der Wolken " die Welt erblicken; der Nebel legte sich wieder um die Höhen, und ich brach deswegen bald auf; doch besuchte ich im Herbst noch einmal diesen leichten, lohnenden Gipfel, der mit Unrecht Hörn genannt wird.
Beim Abstieg nach Gafien braucht man auch im Nebel keinen Compaß; man folgt einfach der Grenzlinie zwischen dem Kalkgestein des Rätschenhorns und dem Urgestein des Madrisa-Massivs; sie stoßen hier so unmittelbar zusammen wie der Serpentin des Todtalp-Schwarzhorns und der Dolomit der Weißfluh. Die'Gehänge der Madrisa sind steiler; die dunkeln Blöcke rollen oft über die Grenzlinie hinaus und nehmen sich dann im hellem Gestein des Nachbargebietes aus wie arme Sünder. Die da und dort hervorsprudelnden Quellen verschwinden öfters wieder in Höhlungen. Hätten mich nicht die vorgerückte Zeit — es war bald 5 Uhr — und der Nebel abgehalten, so wäre unterhalb der Felsen östlich vom Madrisjoch ( 2602 m ) der Ort gewesen, nach Punkt 2611 abzuschwenken und dann durch ziemlich ungastlich aussehende Schutthalden und Felstobel den Madriserspitz zu erobern. Nun, vielleicht bezwinge ich ihn nächstes Jahr; angethan hat er mir 's; er ist ein zu origineller Kerl, ein Stock, in ein Blockmeer getaucht und mit malerischen Zacken gekrönt.
Ich eilte über die Felsenschwelle hinab in 's Gafienthal. Höchlich ergötzte mich bei den Hütten von Gafien ein Bauer, der Wasser holte. Ich saß beim Brunnen, die offene Excursionskarte in der Hand. Mein Bauer stellte sich, ohne ein Wort zu sagen, hinter mich und schaute lautlos ein Weilchen über meine Schultern auf die Karte, dann, mit blitzartiger Geschwindigkeit die Gegend von Partnun zeigend, rief er: Das ist der See, der See! und äußerte die lebhafteste Bewunderung und Freude über die Aufnahme von solchen Details, wie Schlangenstein etc. Hätten unsere Bauern öfters Gelegenheit, die Resultate der mühevollen Arbeit der Gebirgstopographen kennen zu lernen und über deren Zweck aufgeklärt zu werden, so würden sie die Ingenieure mit weniger mißtrauischen Blicken betrachten und die nicht unbeträchtlichen Kosten, mit denen die Gemeinden an der Aufstellung und dem Unterhalt der Signale theilnehmen, williger tragen.
Das Gafienthal ist, wie St. Antönien überhaupt, waldarm. Wie der sich streckenweise vorfindende Nachwuchs zeigt, sind nicht die klimatischen Verhältnisse an dieser Armuth schuld, sondern vielmehr der Unverstand der Menschen, resp. das Bestreben, Weide zu gewinnen. Auch auf der rechten Seite des Hauptthaies, oberhalb Castels bis nach Garschina, ist der Wald höchst spärlich; hie und da zeugt noch eine freitehende stolze Tanne von verschwundener Pracht. Laubholz ist, einzelne Ahorne und die Alpenerle ausgenommen, keines vorhanden; die St. Antönier stipitzen solches, da sie es zu allerlei Geräthschaften, Schlitten etc. nothwendig brauchen, den Schiersern aus dem ausgedehnten Sunniwald, gestehen es auch mit großer Ungenirtheit ein, sind aber nichts desto weniger sehr capriciös, wenn einmal den Hirten der Schierser Alp Garschina ein un-gehorsamer Wiederkäuer in die St. Antönier Mäder entweicht.
Das Ziel meiner heutigen Wanderung war Partnun, wo ich um 8 Uhr anlangte und in der dortigen Pension übernachtete. Dieselbe treffliche, preiswürdige und freundliche Bewirtinnig, wie sie Herr von Pfister im letzten Jahrbuch erwähnte, findet der Clubgenosse daselbst auch heute noch. Am Morgen regnete es stark, und als endlich die Schleusen des Himmels sich ein wenig schlössen, wollte der Nebel nicht weichen. Ich verbrachte die Zeit mit der Durchsicht der nicht Übeln kleinen Bibliothek alpiner Litteratur; allein schließlich plagte mich die Langeweile, und so rückte ich um 11 Uhr bei stockdickem Nebel aus. Zum Ueberfluß fing es, schon als ich beim Partnuner See war, wieder an, fein zu regnen. Ich stiebte der Garschinafurka zu; aber trotzdem ich den Weg schon mehrmals gemacht, hätte ich mich ohne Hülfe des Compasses kaum zurechtgefunden. Unter solchen Umständen mußte ich die beabsichtigte Recognoscirung der Nordseite der Drusenfluh bleiben lassen und wanderte dem Bach nach hinunter in die Alp Drusen. Dabei wurde ich vom wieder heftiger gewordenen Regen gründlich durchnäßt, und wäre zudem noch fast an den Gebäuden vorbeigerannt, da man keine 20 Schritte vor sich hinsah. Froh, endlich ein schützendes Obdach gefunden zu haben, betrat ich die Flutte, wo ich lauter bekannte Gesichter traf. Das ehemalige Gewirr von kleinen „ Schärrä " ist verschwunden; ein stattlicher langer Bau erhebt sich an ihrer Stelle, Raum für weit mehr als 100 Kühe bietend; daneben steht noch das „ Lieggmach " ( Schlafstätte ), in dessen Parterre der Zusenn seine treuen Saumthiere versorgt.
Indessen war es erst 2 Uhr; mit was sollte ich bei diesem trostlosen Wetter den langen Nachmittag ausfüllen? Da nahte sich nach Verlauf einer Stunde als rettender Engel der würdige Gemeindspräsident von Schiers mit mehrköpfigem Gefolge, und nun war alle Aussicht auf einen gemüthlichen Abend vorhanden. Den im Walde drunten beschäftigten Holzarbeitern wurde berichtet, sie möchten sich ihre Schlafstätte für diesmal in der Alp Mutten suchen; wir aber, nach gehöriger Erfrischung des leiblichen Menschen, begaben uns, mit Melkstühlen versehen, auf das Lieggmach, placirten auf einen Holzklotz eine Milchgebse als Tisch und begannen mit Eifer jenes Spiel, dessen sich kein Republikaner schämen soll, weil darin der Bauer den König sticht. Dann folgte noch ein genußreicher Plauderabend, nachdem alle Alpknechte und des Präsidenten Cohorte sich zusammengefunden hatten, und das Plätschern des unaufhörlich strömenden Regens machte den Aufenthalt nur um so wohliger. Das Lager in Drusen muß insofern noch rühmlich erwähnt werden, als man nicht Ursache hat, alle Augenblicke, aufzufahren und fluchend das schöne Lied zu parodiren: „ I de Flüehne isch mys Lebe ".
Früh erhoben sich die Hirten; wir schlummerten etwas länger. Erst um halb 8 Uhr machten wir uns auf den Weg. Ich trennte mieh schon bei den Alphütten von meinen Gefährten; dieselben stiegen südwestlich hinab, um einen Augenschein betreff eines durch den Liziwald zu erstellenden Holzweges vorzunehmen. Nicht ungerne hätte ich mich ihnen angeschlossen; aber da ich nun einmal so nahe bei den Kirchlispitzen war, die mir noch immer im Kopfe steckten, zudem der Nebel Miene machte, zu weichen, so wanderte ich über die südwestlichen Abhänge des Bregez ( 2158 m ) der Heidbühlgauda zu. Letztere ist ein ausgedehntes Trümmergebiet; die Drusenfluh hat eben schon manchen schönen Streifen Weide mit ihrem Geröll zugedeckt. Vergebens späht man an ihren trotzigen Wänden nach einer irgendwie Erfolg verheißenden Aufstiegslinie; hat man es einen Augenblick für möglich gehalten, durch eine weithin sichtbare Rinne wenigstens Punkt 2633 zu erreichen, so schwindet bald wieder alle Hoffnung, wenn man die Wand von etwas verändertem Standpunkt aus betrachtet. Auch der mächtige rothe Streifen am westlichen Ende der Drusenfluh bietet gar keine Aussicht, obwohl der Seewenkalk ziemlich leicht verwittert. Ich marschirte fast horizontal durch das langweilige Geröll. Bevor man zum Rasenband kommt, das zum Schweizerthor führt, passirt man eine Gruppe von Felszähnen gelblichen Kalkes, ähnlich denjenigen in dem Gehänge östlich vom Partnuner See. Es befinden sich mehrere respectable Kerle darunter, wenn auch keiner an Höhe und Kühnheit den bekannten Scheienzahn ( unter der Scheienfluh ) erreicht. Während ich verwundert auf einem Blocke ein Tännchen betrachtete ( in einer Höhe von 2100 m ), kam plötzlich ein Prachtsexemplar von einer Gemse vom Schweizerthor hergerannt und eilte der Schutthalde zu, die von der Schüßhöhle herab sich senkt. Im Westen sieht man eine mächtige Geröllterrasse, südlich von einer Felsenschwelle begrenzt; nördlich thürmen sich die Kirchlispitzen auf. Es ist dies das sogenannte Kirchli, von dem die Spitzen ihren Namen haben. Ob die Felsgruppe bei Punkt 2263 oder der mächtige, in diesem Trümmerfeld liegende Block, der, von Osten aus betrachtet, einem Gebäude nicht unähnlich ist, zu diesem Namen geführt hat, kann ich nicht entscheiden. Der Rasen war noch sehr naß und schlüpfrig; deßhalb hielt ich mich auf dem Band an die obern Felsen; dort wird auch ein mit Schwindel behafteter Wanderer leicht passiren können. Das Schweizerthor ist unserm guten Sererhard „ ein wunderlicher Paß, da man zwischen zwey perpendicular gegen einander aufgerichteten sehr hohen Felsen, welche nicht weiter als circa drey Klafter von einander stehen, durchgehet01. Von hier aus erstieg ich ungesäumt das Verrajöchl, um die Kirchlispitzen in Angriff zu nehmen, auf die ich daher noch einmal mit einigen Worten zurückkomme.
Die meisten Besucher des Lünersee's kennen diese Spitzen kaum dem Namen nach. Und dennoch würde die Umgebung des See's gar " viel von ihrem Reiz verlieren, wenn nicht eben im Südosten dieses eine halbe Stunde lange, schmale und kühne Massiv einen prächtigen Hintergrund bilden würde. Steht es auch an Höhe hinter den Nachbarn im Hauptkamme zurück, so zeigt es dennoch ebenso trotzige Formen. Zudem kann man hier eine so prachtvolle Lagerung der Schichten beobachten.
wie an keiner andern Kalkmauer des Rhätikons. Da sieht man an glatten Wänden schön übereinander die rothen, gelblichen und hellgrauen Schichten, so daß es von Interesse wäre, diese Felspartien in den wirklichen Farbentönen zu Papier zu bringen.
Die Kirchlispitzen standen lange im Rufe der Unersteigbarkeit und werden wohl auch jeden Angriff von Süden her zurückschlagen. Im Norden gestaltet sich die Sache günstiger; indeß war noch immer keine Besteigung bekannt geworden; es war also da oben noch ein, wenn auch sehr bescheidenes, Jungfernkränzchen zu holen. Die wenigen Clubgenossen, die sich um diese Spitzen interessiren, werden sich noch meines albernen Versuches vom Herbst 1890 erinnern, bei welchem ich zwar den Grat auf dem Einschnitt zwischen Punkt 2555 und 2541 erreichte, dann aber bei dem Versuche, über den zerrissenen Kamm die höchste Spitze zu bezwingen, zurückgeschlagen wurde und so auch die Gelegenheit, d.h. die Zeit verlor, die von der Einsenkung aus leicht zu nehmende westliche Spitze zu gewinnen. Auf der Ansicht des Rhätikons von Müller-Wegmann ( vide Beilagen zum letzten Jahrbuch ) sind sowohl Punkt 2555 als auch 2541 und die Scharte sehr gut zu erkennen. Ich hatte schon damals den Grund erkannt, warum der Aufstieg auch auf der Nordseite schwierig erscheinen muß, trotzdem er es nicht ist. Der Fuß zeigt abwechselnd Felsen und Schuttkegel, über welch'letztern sich wieder Felsen erheben; es erscheint daher die ganze Front felsig, namentlich wenn man sie aus naher Distanz von unten mustert. Steigt man aber die Schutthalden hinauf, bis die Felsen Halt gebieten, so kann man auf ziemlich breiten, ungefährlichen Halden, die unten gar nicht oder nur als schmale Bänder bemerkbar sind, sich westlich wenden und so die untern Felspartien „ bodigen ". Ueber denselben ziehen sich Rinnen und Trümmertobel bis hinauf auf den Grat, den man meist auf einer Einsenkung betritt. Diese Erscheinung wiederholt sich dreimal, zuerst, und zwar noch undeutlich, beim Verrajöchl; die Felspartie ob der Schutthalde ist dort nur verkümmert, sodann sehr gut ausgeprägt beim Aufstieg auf die Lücke zwischen den zwei Hauptspitzen, und sie kehrt noch einmal wieder zwischen Punkt 2541 und einem westlich davon gelegenen Vorgipfel, der in der erwähnten Beilage von Müller-Wegmann ebenfalls eingezeichnet ist.
Kehren wir zum Verrajöchl zurück. Die Schutthalde, die sich zu demselben herabsenkt, geht weiter oben in ein Schneefeld über, das nie ganz zu schmelzen scheint. Im Schutt bemerkte ich Fußspuren; vielleicht war mir schon ein Bergkraxler zuvorgekommen. „ Erröthend " folgte ich den Spuren, verlor sie aber bald. Oberhalb eines Gewirrs größerer Blöcke betrat ich das steile Schneefeld. Hat man dessen obern Rand erreicht, so ist man dem Hauptkamm schon sehr nahe; man überwindet noch einige Blöcke und Platten, bei denen es mir indessen fast fatal gegangen wäre. Der Griff der linken Hand gab nämlich nach und ein ziemlich großer Stein legte sich auf mein zum Glück schon erhobenes und fest aufgesetztes rechtes Bein. Es war mir dies ein Fingerzeig, das Gestein etwas besser zu prüfen; die obern Partien sind sehr verwittert, und die nicht selten rhomboederförmigen Stücke bröckeln leicht los. Ich stand nun in einer Scharte; östlich erhebt sich ein dicker Felskopf; westlich schien der sanft ansteigende schmale Grat mich mühelos das Ziel erreichen zu lassen. Aber o weh! da stand ich auf einmal an einem Absatz, vor welchem ein Steinmann sich breit machte; neben demselben lag eine Holzstange. Hier war ein Fortkommen schlechterdings unmöglich. Der Absatz war zwar nicht einmal 3ln hoch und wäre allenfalls noch zu passiren gewesen; aber unter demselben setzte sich der Grat dachfirstähnlich in solcher Glätte fort, daß mir jede Lust zu einem Versuch verging. Gleiche Erwägungen scheinen den Erbauer des Steinmanns zum Rückzug veranlaßt zu haben, nachdem er die Holzstange, die offenbar für die höchste Spitze bestimmt war, dort gelassen; der Wind mochte sie umgeworfen haben. Uebrigens würde jeder Clubist den beschriebenen Weg für den geeignetsten halten und ihn ohne Zaudern einschlagen und bis zu jenem Absatz verfolgen. Mein Vorgänger scheint aber übersehen zu haben, daß man, an der fraglichen Stelle in nordwestlicher Richtung den Grat verlassend, über ungefährliche Felssätzchen hinabklettern kann auf Karren- und Schuttbänder, über welche man so sicher wie auf einer Landstraße in südwestlicher Richtung den Grat wieder erreicht, und zwar auf einer schwachen Einbuchtung. Ein breiter Höcker trennt dieselbe von einer nochmaligen Einsenkung, die sich dadurch auszeichnet, daß hier der Grat der Länge nach gespalten ist; der ziemlich lange Graben mag etwa 2 m breit und stellenweise bis 3 m tief sein; er muß jedem Besucher auffallen. In dieser Gegend ist der Kamm überhaupt am breitesten, wenn auch eigentliche Scheitelflächen auf den Kirchlispitzen natürlich ausgeschlossen sind. Vom Graben aus ersteigt man mit leichter Mühe über ziemlieh großblockiges Geröll den eigentlichen, schmälern Gipfelgrat und gelangt auf und neben demselben auf Punkt 2555. Ich sah auf den ersten Blick, daß ich mich thatsächlich auf der höchsten Spitze befand. Ueber Punkt 2541 sah ich hinaus in die Gegend zwischen Vilan und Falknis; ich überblickte auch den wilden Zackengrat, der sich von jenem Felskopf, den ich letztes Jahr nicht hatto erklimmen können, herüberzieht bis zu meinem jetzigen Standpunkt. Nach Süden hat man ein fürchterliches Felstobel unter sich, ein etwas weniger schauriges nach Norden; letzteres sendet seine Geschosse hinab in die Schutthalde, durch die ich letztes Jahr aufgestiegen.
Der Aussicht wegen begibt man sich natürlich nicht auf die Kirchlispitzen; doch genießt man einen prachtvollen Blick auf den Lünersee, und es ist nicht ohne Interesse, Scesaplana und Drusenfluh auch einmal von einem zwischen ihnen liegenden Punkte zu betrachten. Auffallend ist auch, wie immer von den Gipfeln im Grenzkamm, der Unterschied zwischen den Vorbergen des Prätigaus und denen des Montafuns, zwischen dem bis auf die höchsten Gräte mit Weiden bedeckten Schiefergebirg und den rauhen Formen der Nordseite mit ihren gewaltigen Schutthalden und riesigen Steinwüsten.
Ich documentirte meine Anwesenheit auf dem höchsten Punkte durch Aufschichtung einiger Steine: zu einem größern Steinmann fehlt dort genügendes Material, und ein großes Vergnügen ist es nicht, von einem etwas geräumigem Rastplätzchen, das sich einige Meter von der höchsten Erhebung entfernt befindet, die Steine dorthin zu schleppen; zudem liegen die Blöcke so lose, daß ich befürchten mußte, durch Loslassen derselben unter dem Vieh, das tief unten im Süden auf den obersten Weideplätzen graste, Unheil anzurichten. Leider versäumte ich es, einige Gipfelsteine mitzunehmen, konnte aber auch beim besten Willen mit meinen ungeübten Augen nichts Anderes entdecken, als den gewöhnlichen hellgrauen Kalk, der die Hauptmasse des Berges bildet, nur daß er vielfach mit rostbraunen Flechten bedeckt war. Der Rückweg ging leicht von statten; ich konnte direct in nordöstlicher Richtung absteigen und war nicht genöthigt, wieder zu jenem Absatz hinaufzuklettern, betrat also auch das Schneefeld nicht mehr. Ueber Schuttbänder, zerfressene Kalkplatten, untermischt mit spärlichem Rasen, und zuletzt durch eine lange Halde kam ich hinab in das westlich vom Verrajöchl liegende Thälchen, wo ich ein Mittagsschläfchen hielt. Dann bestieg ich das Cavelljoch und wanderte über Calrosa und das Fadurfurkli in die Fanaser-Alp, deren Obersäß mit dem Untersäß durch einen fabelhaft schmutzigen Weg ver-blinden ist. Mit Grausen überwindet man von hier aus die Gegensteigung bis zum Ochsenberg, wo man entschädigt wird durch die prachtvolle Aussicht auf das ganze Vorderprätigau, dessen Sohle mehr als 1000 m tief unter uns liegt, sowie auch auf die Grauen Hörner und die Tödigruppe. Ueber Lassein und den Marierberg eilte ich im Schnellschritt hinab nach Schiers, um am folgenden Tag die schon erwähnte Tour in die nördliche Schlappinerkette anzutreten.
Am 17. August stand ich schon wieder auf Punkt 2555 der Kirchlispitzen, diesmal in Begleitung meines Freundes und Clubgenossen Hartmann, der sich nicht wenig verwunderte, als wir beim Aufstieg das so bestechende Firnfeld ob dem Verrajöchl nicht betraten, sondern schon ungefähr da, wo der leicht erkennbare zweite Streifen rothen Kalkes beginnt, rechts abschwenkten. Weiter oben machte ich einen Abstecher, um die Holzstange vom Grat herunterzuholen und sie an einem würdigern Orte aufzupflanzen. Wieder bei meinem Gefährten angelangt, fanden wir nach kurzem Marsche zu unserer Ueberraschung einen zerbrochenen Bergstock, der, seinem Aussehen nach zu urtheilen, schon manches Jahr dort gelegen sein mochte. Wenn sein Eigenthümer Absichten auf die höchste Spitze hatte, so konnte er sie von hier aus wohl erreichen, es sei denn, daß er Hindernisse geahnt, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind; ich fand indessen bei keiner meiner beiden Besteigungen Spuren irgend welcher Art, welche auf die frühere Anwesenheit von Menschen auf der höchsten Spitze schließen ließen. Ich halte es auch für höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar für unmöglich, daß der ganze Grat vom Schweizerthor bis zu dem Cavelljoch von Geißbuben überklettert worden ist. Abgesehen davon, daß man oft an Abstürze geräth, wo man solche gar nicht vermuthet, ist jedenfalls die zerrissene, steil nach Norden und noch steiler nach Süden abfallende Partie westlich von Punkt 2555 fast unbezwingbar.
Diesmal wurde auf der höchsten Erhebung ein Steinmann erbaut, wobei mein Gefährte als Baumeister und ich als Handlanger functionirte. Wir befestigten die Stange darin und deponirten eine Flasche mit den Daten. Vielleicht tritt aber bald die ganze Herrlichkeit mit sammt dem vorspringenden Block, auf dem sie ruht, den Sturz in 's Kirchli hinunter an. Als ich den kurzen Grat passirte, der zu unserm Rastplätzchen zurückführte, rief mein Freund, noch beim Steinmann stehend: „ Lueg, lueg !" Betroffen aufschauend, erblickte ich meinen Schatten, wie mir zuerst schien, riesengroß in einer Nebelschicht, in der Richtung gegen das westliche Ende der Drusenfluh. Trotz meiner zahlreichen Bergtouren war dies das erste Nebelbild, das ich zu beobachten Gelegenheit hatte; leider war es nur von kurzer Dauer. Wir stiegen dann hinab zum Lttnersee und übernachteten in der Douglashütte.
Am folgenden Tage erstiegen wir bei nicht sehr günstigen Aussichts -Verhältnissen die Scesaplana, waren indeß schon um 10 Uhr Vormittags wieder bei der Hütte am Lünersee, da wir uns bei der zweifelhaften Witterung nicht getraut hatten, über den Panüeler durch den nun in Aufnahme gekommenen Straußweg in den Nenzinger Himmel abzusteigen. Während wir am See ein Schlaraffenleben führten, begann sich der Himmel zu säubern. Da mir das thatenlose Leben nicht behagte und ich nun einmal in die Kirchlispitzen vernarrt war, so brach ich um 1 Uhr allein nach der westlichen Spitze auf, die ich unverantwortlicher Weise schon zweimal hatte liegen lassen. Leichter als im Herbst 1890 erreichte ich jene Lücke; von derselben gelangt man über grobes Geröll leicht auf Punkt 2541, der gegen Nordosten ziemlich zahm aussieht. Hier überblickt man in sehr günstiger Stellung den Lünersee ganz, und darüber hinaus sah ich auch, was mir auf der Scesaplana noch nie recht deutlich zu Theil geworden, das Blau des Bodensee's, von keinem neidischen Nebel verdeckt. Punkt 2541 hat eine etwas geräumigere Gipfelfläche als die östliche Spitze; er ist von der Douglashütte aus leicht kenntlich an dem mächtigen rothen Fleck, der sich nicht weit unter dem Gipfel befindet.
Ich trat trotz des wunderbar schönen Wetters sehr bald den Rückweg an, da heute Abend Brand unser Ziel war. Es ist Jedem anzurathen, der allenfalls in diese Gegend kommt, beim Abstieg auf den steilen und harten Firnhalden nicht mit Rutschpartien glänzen zu wollen; direct unterhalb, oder nur durch ein Schuttband von ihnen getrennt, beginnen die felsigen Partien. Auf der östlichen und längsten Schneehalde mag man 's probiren, da sie in den Schuttkegel übergeht; man wird aber auch hier keine große Freude erleben. Um 4 Uhr war ich wieder in der Clubhütte bei meinem Gefährten, und es folgte noch ein gemüthlicher „ Hock ".
Am Lünersee wird man während der Saison nie von Langeweile geplagt sein. Das ist ein Leben und Treiben, ein fortwährendes Kommen und Gehen, wie wir es in der Schamellahütte nur in kleinerem Maßstabe und als Ausnahme beobachten können. Wir haben allerdings auf der Schweizerseite auch keinen Lünersee, der ebenso viele Besucher anzieht, als die Scesaplana selbst, abgesehen davon, daß der Weg von Bludenz aus bedeutend besser ist, als von Seewis aus. Eigentliche WTalgauer oder Montafuner wird man, Führer ausgenommen, wenige antreffen; die Bewohner des Illthales steigen entschieden viel weniger zu Berge, als die Prätigauer. Dafür begegnet man zahlreichen weitgereisten Montanisten, die so gelegentlich die Scesaplana auch noch mitnehmen, und kann manche interessante Erlebnisse aus andern Gebirgsgruppen zu hören bekommen. Ueber die schweizerischen Clubhütten fielen während unserer Anwesenheit von Mitgliedern des D. u. Oe. A. V. Worte, die man nicht gerade als Schmeicheleien bezeichnen konnte, und allerdings müssen einige derselben, verglichen mit den geräumigen, zweckmäßigen Gebäuden des genannten Vereins, als armselig und unbequem taxirt werden, liegen aber meistens auch höher; sodann ist zu berücksichtigen, daß man in unsern, gerade im jetzigen Excursionsgebiet gut vertretenen, hochgelegenen Bergwirthshäusern, wie Sgära, Partnun, im Flüelathal ebenso gut und preiswürdig logirt.
In der Clubhütte kam ich mit einem Führer in 's Gespräch, den ich ohne Wissen und Wollen erschreckt hatte. Während des Aufstieges zu Punkt 2541 hatte ich nämlich beim Hinaufkrabbeln durch eine Rinne unabsichtlich einen ziemlich großen Stein losgelassen, der auch in den Schnee- und Schutthalden nicht zum Stillstand kam, sondern in gewaltigen Sätzen über die untern Felspartien hinabflog in das Thälchen, gerade als der Führer und sein Herr, glücklicher Weise auf der rechten Seite des Baches, unten durchmarschirten; sie hatten Gemsen die Schuld zugeschrieben. Derselbe Führer behauptete auch, auf dem höchsten Punkte der Kirchlispitzen sei schon etliche Jahre eine Stange gestanden, was ich ihm aber lebhaft bestritt; ich wußte zu gut, wo sich dieselbe vorgefunden hatte. Er theilte mir auch mit, daß in den letzten Tagen auf den Kleinen Thurm ( 2438im Ostmassiv der Drusenfluh ein Angriff gemacht worden sei, daß aber die Partie trotz aller möglichen Hülfsmittel unverrichteter Sache habe abziehen müssen. Von der Drusenfluh bemerkte er drastisch, sie sehe auf der Schweizerseite aus wie ein Kleiderkasten.Inzwischen war es 6 Uhr geworden, und wir brachen, durch zwei Bekannte von Schiers verstärkt, vier Mann hoch nach Brand auf. Wenn man das „ Seebord " von unten betrachtet, so begreift man einigermaßen, weßhalb heute noch, wie zu Sererhard's Zeiten, Messen gelesen werden, um den Ausbruch des See's zu verhüten. Der Verfasser der „ Einfalten Delineation " schreibt darüber etwas boshaft: „ Danachen die Pfaffen selbiger Orten jährlich eine Meß wegen des Ausbruchs dieses Sees lesen sollen, und könte man hiervon schier sagen: es geschechen Miracul, indeme sich dieses Seewasser in Wein verwandele, wan nämlich die Pfaffen von ihrem durch dieses Meßlesen erlösten Geld ihnen selbst Wein an-schafen. "
Im obern Gasthaus in Brand bezogen wir unser Nachtquartier. Bald nach unserer Ankunft erhob sich unerwartet ein rasender Föhnsturm; am Morgen hüllte der Nebel das Thal ein, und bald folgte tüchtiger Regen, über den — zu unserer Schande sei es gesagt — mein Gefährte sich offen und ich im Stillen mich freute. Wir ließen Matschonjoch, Fundelkopf, Nenzinger Himmel und andere schöne Sachen links liegen und pilgerten, nachdem der Regen nachgelassen, hinaus nach Bludenz, von wo uns die Bahn nach Schiers brachte. Damit waren meine Wanderungen, wenigstens der Hauptsache nach, für einige Zeit beendigt.
. ' ) Ein Schierser Jäger, Hans Willi, der. beiläufig bemerkt, letzten Herbst das Glück hatte, im Salginatobel binnen einigen Minuten drei Gemsen zu schießen, behauptete, schon mehrmals auf der Drusenfluh ( 2829 m gestanden zu sein. An der Richtigkeit seiner Aussage zweifelnd, befragte ich ihn ziemlich genau darüber; er blieb aber dabei und anerbot sich, mich hinauf zu führen, wann ich nur wolle. Seine Weyangaben klingen nicht unwahrscheinlich; er ist, wie es scheint, vom Ofenpaß ausgegangen, und ein Theil seines Aufstieges würde mit demjenigen der Herren Inihof und Sprecher ( vide letztes Jahrbuch, pag. 25—32 ) zusammenfallen.