Drei Alpinistinnen in einer unberührten Bergwelt
Esmé Speakman, Argyll, Schottland
Nein, ganz entschieden nein! Fünf, das ginge, aber sieben, nein! Tut mir leid!
Es ist das letzte Wort des Chauffeurs des « Colec-tivo », eines dieser Riesentaxis, die mit den Camions zusammen in Peru das Hauptverkehrsmit-tel darstellen, sobald man sich von den Eisenbahnlinien entfernt.
Wir sind in Cuzco angelangt, eine Gruppe von drei nicht mehr ganz jungen Alpinistinnen, die das im Südosten des Landes gelegene San Lorenzo-Tal erforschen und ein paar der zahlreichen, unbestiegenen Gipfel am Ende des Tales zu bezwingen hoffen. Per Zufall haben wir im Flugzeug eine Gruppe von Wanderern getroffen, die sich anerbieten, uns bis zum Basislager zu begleiten. Später wollen Faye, Mary und ich weitere Lager aufschlagen, um von dort aus einige Gipfel zu erklimmen.
Das Taxiproblem lässt sich schliesslich trotz allem lösen. Fünf von uns sollen im « Colectivo » nach Marcopata reisen. Dort gedenken wir Trä- ger und Pferde zu mieten. Die zwei Übriggebliebenen, die am besten Spanisch sprechen, werden nachfolgen, sobald sie einen Platz auf einem Lastwagen gefunden haben ( es kommt selten vor, dass man dort in einem Lastwagen reisen kann ).
Wir fahren gegen 20 Uhr ab. Es herrscht bereits eine durchdringende Kälte. Aber die Nacht ist prächtig und die Landschaft in den Schein des silbernen Mondes getaucht. Nach und nach verlöschen die Lichter in den Dörfern, und wir haben den Eindruck, die einzigen Lebewesen auf einem ausgestorbenen Planeten zu sein.
Gegen Mitternacht erreichen wir die kleine Stadt Aussengate. Hier verlässt uns das Glück. Der Weg ist von einer langen, quer über die Strasse gespannten Kette gesperrt. Kein Wagen kann durchfahren, bevor der Polizist aus seinem Schlaf erwacht, d.h. also erst am nächsten Morgen. Solche Kontrollen gibt es fast überall auf den Strassen Perus. Aber für uns ist es das erste und, wie wir hoffen, ebenfalls das letzte Mal, dass wir fast acht Stunden warten müssen, bis sich ein Beamter aus seinem Bett erhebt... Wir verbringen die lange Nacht eng zusammengerückt in unseren Schlafsäcken. Als der Morgen anbricht, wird die Kälte fast unerträglich. Da treten dunkle Gestalten aus den Häusern, um sich mit Kaffeekannen, die sie auf kleinen Holzfeuern wärmen, auf dem Platz niederzulassen.
Kaffee? Wir stürzen aus dem Auto, und der miserable, ungezuckerte, aber kochendheisse Kaffee schmeckt uns herrlich.
Endlich wird die Kette entfernt, und wir können zum Huallachualla-Pass ( 4900 m ) aufbrechen. Es hat geschneit, und während der Nacht ist alles gefroren. Die Strasse, ohne Geländer oder Randsteine, gleicht einer Eisbahn. Wir können uns erst wieder entspannen, als wir in das Tal am anderen Ende des Passes herunterkommen. Endlich erreichen wir das 3000 Meter hoch gelegene Marcopata, wo wir die Ankunft unserer Kameraden erwarten und hoffentlich auch Träger auftreiben können. Die aus der Amazonasebene hochquellenden mächtigen Wolkenballen brin- gen Regen, und am Nachmittag wird es empfindlich kühl. Wieder haben wir Glück. Der Lehrer des Dorfes zeigt sich bereit, uns in einem grossen Schulzimmer übernachten zu lassen. Um Träger zu finden, werden wir allerdings noch fünfundzwanzig Kilometerweiter nach Limapunca gehen müssen.
Am nächsten Morgen will ich um 5 Uhr mit Len, einem Mitglied der Wandergruppe, aufbrechen, wobei wir - wie uns der Lehrer mitteilt - einen Teil der Strecke auf einem Pferdewagen zurücklegen könnten.
In Peru geschieht üblicherweise alles mit einer gewissen Verspätung. So sind wir nicht wenig überrascht, Mann und Wagen schon kurz nach 5 Uhr die Strasse entlang kommen zu sehen. Auch er scheint erstaunt. Dies aber vor allem, weil wir seinen Karren benützen wollen. Doch was soll 's, die Fremden sind überall auf der Welt verrückt!
Len steigt als erster auf. Kaum ist er oben, höre ich ihn fluchen, denn leider handelt es sich nicht um den Wagen, den uns der Lehrer empfohlen hat. Dieser hier befördert nämlich Mist. Als er nach einer Fahrt von neunzehn Kilometern endlich hält, rennen wir sofort zum eiskalten Fluss, um ein Bad zu nehmen.
Am Mittag sind wir wieder zurück, nachdem wir mit dem Hüter der unvermeidlichen Kette -er scheint übrigens der einzige Bewohner von Limapunca zu sein - alles bestens arrangiert haben. Den Nachmittag verbringen wir damit, in den warmen Quellen in der Nähe von Marcopata zu baden und unsere Wäsche zu reinigen.
Am Montag fahren wir alle schon früh mit dem Lastwagen nach Limapunca. Endlich, nach stundenlangen Verhandlungen mit den Trägern und nachdem die Pferde beladen sind, setzt sich die Karawane in Bewegung. Wir marschieren alsbald über steile, kahle, von jedem Schatten entblösste Abhänge, die uns zum San Lorenzo-Tal führen.
Am besten vergessen wir diese ersten Stunden. Als sich gegen Abend willkommene Wolken über dem Tal stauen, finden wir ein kleines Plateau am Rande eines Wildbaches. Im fein niederfallenden Regen stellen wir nun unser Zelt auf.
Zum Aufbruch am nächsten Morgen benötigen wir volle dreieinhalb Stunden. Unter anderem brennt ein bereits beladenes Pferd durch, stürzt in einen Sumpf und verliert seine Ladung... Wir überlassen es schliesslich den Trägern, beides in Sicherheit zu bringen.
Der Weg führt zuerst durch Bambusstauden hinan. Dabei kommen wir durch ein winziges Dorf, wo die Leute, so arm sie auch sind, uns zulächeln. Zweifellos haben sie vorher noch nie Europäer gesehen.
Bald danach befinden wir uns im Dschungel. Der Weg wird immer steiler. Oft führt er jetzt über felsiges, für die Pferde heikles Gelände. Es regnet leicht. Aber am Abend, als wir bei einer verlassenen Farm unsere Lager errichten, klärt sich der Himmel, und früh am nächsten Morgen begrüsst uns wieder ein prächtiger kalter Tag.
Kaum haben wir den Dschungel verlassen, gelangen wir in ein Tal, das uns gegen Süden in ein Gebiet karger Weiden bringt. Von hier aus erblicken wir nun die ersten Schneegipfel.
Der Ort, wo wir schliesslich unser Basiscamp errichten, wird uns praktisch von der Umgebung aufgezwungen und ist auch denkbar unwirtlich. Auf 4000 Meter gelegen, ungeschützt allen Winden ausgesetzt, lässt er sich nur schwierig erreichen, und das Wasser müssen wir i oo Meter weiter unten holen. Wir drei Alpinistinnen sind deshalb heilfroh, morgen weiter hinaufsteigen zu können.
Während der Nacht hat es geschneit, und bei unserem frühen Aufbruch herrscht noch dichter Nebel. Wir verfügen nur über eine ungenaue Vorstellung des Ortes, an dem wir unsere Zelte aufstellen wollen... wenn wir überhaupt einen finden. Plötzlich hören wir hinter uns die Klänge einer Hirtenflöte. Wir sehen immer noch nichts und gehen einfach weiter. Mit einem Mal tauchen zwei Indianer aus dem Nebel auf, lächelnd, der eine die Flöte in der Hand. Wir können natürlich nicht mit ihnen reden, da sie nur Quet- chua, eine bei den peruanischen Bergbewohnern gebräuchliche Indianersprache, beherrschen. Sie bedeuten uns aber mit Gesten, dass sie bereit sind, unser Gepäck zu tragen. Welch unerwartetes Glück! Unsere Rucksäcke sind so schwer! Diese jungen Leute heben sie indessen wie Feder-gewichte auf ihre Schultern und beginnen in einem Tempo loszumarschieren, welchem wir nur mit Mühe zu folgen vermögen.
Nach und nach erheben wir uns über den Nebel, und bei prächtigstem Wetter finden wir am Nachmittag einen idealen Platz für unser Lager. Dies in einer Gegend, die wir « grünes Tal » nennen und die am Fusse der beiden Gipfel liegt, die wir zu besteigen gedenken. Der Platz ist gut geschützt, und ein Bach fliesst ganz nahe vorbei. Noch bevor wir das Nachtessen zubereiten, stellen wir rasch die Zelte auf, denn in diesen Breitengraden geht die Sonne um 6 Uhr ziemlich unvermittelt unter. Dann ist es besser, man befinde sich schon in seinem Schlafsack. Wer hätte geglaubt, dass es so nahe beim Äquator dermassen kalt sein könnte?
Während der Nacht fällt erneut Schnee. Einmal, als ich die Zeltplane auf meinem Gesicht spüre, stehe ich auf und schüttle die weisse Last hinunter. Diese paar Minuten, während denen ich hinaustrete, gehören zu den schönsten meines Lebens. Die Erinnerung daran bleibt unvergesslich. Die Silhouetten der Berggipfel um uns herum leuchten hell im Vollmond, und in unmittelbarer Nähe ist jeder Fels, jeder Strauch mit Neuschnee bedeckt. Keine einzige harte Linie; jede Kante, jede Spitze wirkt abgerundet und weich. Ich versuche das Geräusch des Baches auszumachen; aber er ist verstummt - zugefroren. Plötzlich die Kälte spürend, die mir bis auf die Knochen vorzudringen scheint, schlüpfe ich wieder in meinen Schlafsack, mit dem Schwur, nicht mehr herauszukommen, bevor die ersten Sonnenstrahlen das Zelt erwärmen werden.
Als erstes besteigen wir den Padre Hurka ( 5300 m ), den höchsten Punkt in dieser Gegend und, wie die anderen Gipfel, noch unberührt.
Nach einem heiklen Aufstieg finden wir uns über dem Tal, um endlich einen kleinen, aus einzelnen Felsblöcken geformten Grat zu erreichen. Nach kurzer, müheloser Kletterei gelangen wir zum Gletscher. Die Steilheit nimmt jetzt zu, doch alpinistische Probleme treten keine auf. Wir treffen nur wenige Spalten an, und eine unschwierige Randkluft bringen wir ohne Zwischenfall hinter uns. In Reichweite des Gipfels erleben wir aber eine unangenehme Überraschung. Was wir für einen Schneegrat hielten, präsentiert sich in Wirklichkeit als eine Art dünne, zerbrechliche Eisklinge. Darüber emporzuklimmen scheint ausgeschlossen, um so mehr, als wir nicht feststellen können, ob der Schnee darunter eine Wächte bildet. Zu guter Letzt beginnen wir längs der Basis dieser Eisformation Stufen zu hacken. So kann — während zwei von uns gut sichern — die dritte bis zum höchsten Punkt klettern und den Gipfel mit angehaltenem Atem berühren... Auf diese Weise kommt jede einmal an die Reihe. Ich habe übrigens noch nirgends sonst eine solches Gebilde aus Schnee und Eis gesehen.
Wieder glücklich vereint, betrachten wir die Aussicht und den Nebel, der langsam aus den Tälern aufsteigt. Doch die Zeit drängt: es ist 16 Uhr, und es bleiben uns gerade noch zwei Stunden für den Abstieg. Sobald wir den Gletscher erreichen, besteht keine Gefahr mehr, und weiter unten kommt uns der Mondschein zu Hilfe.
Ursprünglich beabsichtigten wir, am nächsten Tag den Qplque Cruz ( 5200 m ), einen Nachbargipfel, in Angriff zu nehmen. Mary entschliesst sich jedoch, im Lager zu bleiben und vielleicht allein den Choccorrossi, einen leichten Klettergipfel hinter dem Lager, zu erklimmen.
Faye und ich wandern durch das kleine grüne, jedoch schneeüberzuckerte Tal bergan. Der Boden ist sumpfig, weiter oben wird das Tal indessen von Felsbänkenzerschnitten, über die sich wundervolle Wasserfälle hinunterstürzen. Am Fuss unseres Berges angelangt, scheinen sich vor uns nur Eistürme und Gletscherabbrüche zu erheben, da wir von hier aus den Hang in starker Verkür- zung sehen. Zuerst müssen wir einen Einstieg finden. Weiter oben dann, nachdem wir die Abbruche endlich hinter uns gebracht haben, stellen wir fest, dass die ganze Flanke von langen Spalten durchzogen ist, die sich nicht umgehen lassen. An vielen Orten sind Stufen zu schlagen, um auf der anderen Seite überhaupt wieder hochkommen zu können. Bereits bedeutend höher, oberhalb eines langen, steilen, aber zumindest geschlossenen Hanges, erreichen wir einen aus körnigem Schnee bestehenden Grat. Dieser führt, von einer Wächte und schöngeformten Eiszapfen geschmückt, schliesslich zur Gipfelkrete. Nach dieser schwierigen Passage befinden wir uns nicht mehr weit vom Gipfel. Hier sehe ich zum erstenmal - allerdings « en miniature » — die für die Anden typischen Schneeformationen, die man « pénitentes de hielo » ( Büsserschnee ) nennt. Leider verfüge ich nicht mehr über die Energie, meinen Photoapparat hervorzunehmen und eine Aufnahme zu machen.
Vom Gipfel ist die Aussicht prächtig. Im Vordergrund erhebt sich der Padre Hurka, dessen feiner Eisgrat - der uns am Vortag so beeindruckt hat - wir von hier aus sehr gut erkennen.
Wieder haben wir nicht Zeit, noch länger zu verweilen. Da wir nicht auf dem gleichen Weg zurückkehren können, müssen wir unseren Berg überschreiten. Auf der anderen Seite erwartet uns ein äusserst unangenehmer Abstieg über einen von Eis und Geröll bedeckten Hang. Weiter unten entdecken wir einen Gletscher, der die Bergschulter umgibt und uns in Richtung des grünen Tales führt. Wir vermuten, dass wir demnächst daraufstossen müssen. Die Sonne geht unter, und wir ziehen nun auch die Steigeisen ab. Sofort wird es Nacht, und der Abstieg im fahlen Licht einer Taschenlampe ist alles andere als angenehm.
Mary hat in der Zwischenzeit ihren Tag mehr oder weniger vertan. Beinahe ständig musste sie Besuche empfangen. Entweder kamen Wanderer oder Indios vorbei, die zwar alle sehr freundlich sind, aber den ganzen Tag mit Teetrinken zubringen können. Schliesslich blieb sie bis zum Abend vor ihrem Zelt, ohne Zeit für die Erkundung des Choccorrossi zu finden.
Am nächsten Morgen, als wir in der strahlenden Sonne vor dem Zelt unser Frühstücks-Por-ridge verzehren, beschliessen wir, das grüne Tal zu verlassen und einen anderen schönen Berg in Angriff zu nehmen: den Poycutoni ( 4920 m ).
Auf einem mit kleinen Seen übersäten Plateau stellen wir dann die Zelte auf. Am folgenden Tag besteigen Mary und Faye diesen Gipfel, während ich mich ins Basislager begebe, um Vorräte zu holen und den Zeitpunkt unserer Abreise festzulegen. Denn der Leiter der Trägerkolonne ist allein im Lager zurückgeblieben, während seine Mannschaft mit den Pferden ins Dorf zurückgekehrt ist.
Unser letzter Tag bricht an. Faye und ich unternehmen eine hübsche Klettertour, die bis gegen den IV. Schwierigkeitsgrad reicht. Der Fels ist wohl fest, aber trotzdem verfolgen wir mit etwas Unbehagen den Flug eines Kondors, der uns umkreist, als ob er nur auf unseren Absturz warte, um eine gute Mahlzeit zu erhalten.
Einmal glauben wir, nicht mehr weiterzukommen. Die Stelle scheint unpassierbar, jedenfalls übersteigt sie unsere Kräfte. Schliesslich versucht es Faye, gut gesichert, dennoch an einem Punkt, wo wir einen Durchstieg zunächst für unmöglich hielten. Ganz langsam gleitet das Seil durch meine Hände, während ich mich in die Betrachtung des Felsens, des Kondors... und der Leere versenke. Plötzlich ertönt von oben ein fröhliches Lachen, und eine Stimme ruft freudig: Komm!
Als zweite steige ich ohne Schwierigkeiten hoch. Noch zwei Schritte und ich stehe am Fuss einer leichten Verschneidung, die zu dem einem Lehnstuhl ähnlich geformten Gipfel führt.
Ich setze mich neben Faye und kann mich nicht sattsehen an der Aussicht auf diese unzähligen Gipfel, die noch von keinem menschlichen Fuss betreten wurden. Ach, warum müssen wir schon wieder ins Tal hinuntersteigen und nach Cuzco fahren?
164 Der Foxton's Pinnacle steht auf der Anhöhe eines kleinen, bewaldeten Hügels. Die Wunsh's Dihedral-Route zieht sich mitten durch die Hauptwand 165 Mose's Tower. Die Sandsteintürme, die sich im Grunde eines wilden und verlassenen Canyons erheben Ohne neue Abenteuer zu erleben, treffen wir 5 Tage später dort ein. Aber die besten, schönsten Erlebnisse sind diejenigen gewesen, die uns bei der Entdeckung von unberührten Gipfeln beschieden waren. Welches Privileg in unserer Zeit!
Aus dem Französischen übersetzt von E. Blaser, Bern