Die Südseite der Gastlosen.
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Die Südseite der Gastlosen. Bernhard Rudolf

Im Herzen der Freiburger Voralpen, zwischen den Dörfern Jaun und Château-d'GEx, und an der Grenze zwischen den Kantonen Freiburg und Bern liegen die Gastlosen mit ihren bemerkenswerten 61 Gipfeln. Les Pucelles und Corne Aubert im Süden der Kette, zwei Gipfel, die etwas von den anderen abgesetzt liegen, bieten einige schöne Kletterrouten voller Geschichte und Geschichten.

In den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts lebte in der abrupt abbrechenden Nordflanke des Vanil de la Gobette ein Adlerpaar. Dazu bemerkte Auguste Weissenbach, dass diese den Ruf hatten, «die kühnsten Wilderer des Landes» zu sein.1 Da es dem Geist jener Zeit entsprach, die Adler zu jagen, erfolgte die erste Besteigung der Pucelles anlässlich einer Adlerjagd. Die drei Kameraden Raymond de Boccard, Alexis und Rodolphe de Gottrau aus Freiburg und der Wildhüter Simon Currat aus Grandvillard erreichten nach mehreren erfolglosen Versuchen am 22. Juni 1885 den Gipfel. Von dort aus erreichten sie den Adlerhorst.

Auguste Weissenbach, der im Jahr darauf dieselbe Besteigung unternahm, schrieb über die Gastlosen: «Von allen Seiten erscheinen diese Gipfel uneinnehmbar; riesige, senkrechte Felsplatten versperren den Zugang; man könnte unserer Meinung nach nur mit Leitern und in den Fels gemauerten Eisen Erfolg haben.»2 Welche Vorahnung!

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind 28 Gipfel der Gastlosen noch unbestiegen. Damals begann die systematische Eroberung der Kette, die nur ein paar Jahre dauerte. Beschleunigt wurde sie dadurch, dass die Gipfel nahe beieinander liegen und ein gewisses Wettbewerbsdenken unter den Kletterern vorhanden war. Die wenigen Eroberer wandten jeweils einen unterschiedlichen Stil an. In die Geschichte eingegangen sind Hans Koenig, ein ausserordentlicher Purist, der bereits so etwas wie moderne Kletterei betrieb, und Raymond de Girard, der sich mehr mit Leitern beschäftigte. Letzterer war auch Autor eines Buches über die Gastlosen.

Raymond de Girard war Erstbesteiger zweier Gipfel der Pucelles, nämlich der Jumelle und der Pointe à l' Echelle. Am 27. August 1903 stand er mit dem Führer Olivier Rime aus Charmey auf dem Gipfel des Vanil de la Gobette. Zusammen planten sie die Besteigung der zwei anderen Pu-celles-Gipfel unter Einsatz von künstlichen Mitteln für die Stellen, die als unmöglich galten. Die beiden machten sich zuerst an den südlichen Gipfel. Im zentralen Couloir setzten sie mehrmals eine vier Meter lange Leiter ein und erreichten die Einsattelung zwischen den beiden Spitzen. Von da aus kamen sie leicht auf den Gipfel. Sie nahmen sogar einen Fotoapparat mit und schössen die ersten Kletter-fotos in den Gastlosen.

Bei der Rückkehr mussten sie bis zum Ort, wo sie die Leiter zurückgelassen hatten. Da ein weiterer Abstieg unmöglich war, führten sie das Seil durch eine natürliche Sanduhr und seilten sich ab. Vermutlich waren sie die Ersten, die in den Gastlosen ein Abseilmanöver vornahmen. Zu jener Zeit war die Technik, die Whymper 1860 beim Abstieg vom Matterhorn erfunden hatte, noch unerprobt und berüchtigt.

1904 waren die beiden Freunde wieder unterwegs, um den mittleren Gipfel zu besteigen. Die Ausrüstung bestand hauptsächlich aus bis zu 10 Meter langen Stangen, die sie in luftiger Höhe an die zu überwindende Wand stellten. Dann verband man zwei Stangen miteinander, indem man Sprossen annagelte, um so eine lange Leiter zu erhalten. Wegen einer dieser Konstruktionen heisst der mittlere Gipfel der Pucelles heute Pointe à l' Echelle.

Der Diehl-Grat Im Jahre 1936 bestiegen Wolfgang Diehl und Fred Müller den Südostgrat der Jumelle und erbrachten damit eine ausserordentliche Leistung im grossartigen, rauen und kompakten Fels. Man bewegte sich knapp am 5. Grad. Wolfgang Diehl (1908-1990), dessen Namen der Grat seither trägt, eröffnete noch manche andere Route in den Alpen, zum Beispiel den Südgrat am Doldenhorn in den Berner Alpen (1942). Drei Jahre später wiederholten das Ehepaar Betty und Ernest Favre zusammen mit Louis-Maurice Henchoz die Route. Das «Trio aus Château-d'Œx» kletterte kreuz und quer durch die Gastlosen, wiederholte die schwierigsten Routen und eröffnete ein Dutzend neue, vor allem im südlichen Teil nahe bei ihrem Wohnort. Ihnen gelang die Erstbesteigung der Südostwände aller drei Gipfel der Pucelles sowie zweier Routen auf den Vanil de la Gobette.

Der Diehl-Grat und die Pucelles bildeten die Messlatte für die Generation der Kletterer nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Ruf reichte weit über die Grenzen der Romandie hinaus.

Der Senn vom Chalet du Pralet realisierte die erste vollständige Traversierung der drei Pucelles-Gipfel im Jahre 1932. Im Laufe der Zeit entdeckte und beging Fernand Pipoz eine Reihe von anspruchsvollen Routen durch das felsige Labyrinth. Noch heute gelingt nicht manchem Kletterer die Wiederholung dieser Routen. 1939 durchkletterten Henri Cesa, Ernest Hänni und Fernand Pipoz nach mehreren Anläufen die beeindruckendste aller Wände, diejenige des Vanil de la Gobette. 250 Meter fast senkrechte Felswand, darunter eine kompakte Platte mit Wasserlöchern. Die Schwierigkeiten und das Engagement waren extrem. Die Klet- terer bohrten Löcher, griffen zum Mittel des Schulterstands und machten Pendelquergänge. Insgesamt setzten sie 25 Haken, was die Entschlossenheit der drei unterstreicht. Diese Route blieb lange Zeit die schwierigste in den Gastlosen. Mit ihr begann allmählich die Ära der künstlichen Kletterei in der Region. Die intensive Aktivität dieser Zeit machte die Kette weitherum bekannt.

Die Pucelles erwachten 1981 kurz aus ihrem Dämmerschlaf, als eine berühmte Seilschaft aus der Gegend - Erhard Loretan, der mittlerweile al- les, Corne Aubert und dem Übergang Pertet à Bovets le 8000er bestiegen hat, und seine Freundin Nicole Niquille, die erste Bergführerin der Schweiz - auf der Südostseite des Vanil de la Gobette eine neue Route eröffnete. 17 Jahre später kletterten Gerald Buchs, Urheber zahlloser Routen in den Gastlosen, und Francis Guillaume frei über die kompakten Mauern. Nach sieben Tagen Kletterei und mehreren Gewittern war das Meisterwerk der langen Routen auf der Südostseite der Gastlosen vollbracht: « La fête des pères».3 1999, ein halbes Jahrhundert nach den Exploits eines Fernand Pipoz, er- tönen erneut Klettergeräusche in der wilden Wand der Nordwestseite des Vanil de la Gobette. Zu den Hammerschlägen, dem Klirren des Eisens und den Zurufen kommt neu das Surren der Bohrmaschine dazu. In drei Tagen entsteht die Route « Le secret des lieux»4. Diese lange Route endet mit einer grossen Mauer, die rechts von einer kleinen grauen Verschneidung durchzogen ist, die aus dem Nichts zu kommen scheint.

Der bescheidene Gipfel wird nur selten besucht, obschon er ohne Klettern leicht erreichbar ist. Wetten, dass der neue Alpweg, der zum Chalet de Combette führt, und die kürzlich eröffneten Routen mehr als einen Kletterer interessieren werden. Der Südpfeiler der Corne Aubert wurde zum ersten Mal 1950 vom Trio aus Château-d'Œx bestiegen. Dazu kam eine Traversierung der Pucelles -und das Ganze mit Start und Ziel im Tal! Eine solche Tour lässt erahnen, wie gut und stark die «Alten» waren.

Gerald Buchs und Elma Rauber realisierten 1986 die Erstbegehung der Südwand der Corne Aubert, und 13 Jahre später eröffneten Claude und Yves Remy nacheinander zwei Routen am Südpfeiler: «Vasy-Eric» und «Maurice Brandt»4. Erstere lässt flU Die Corne Aubert, Südostseite; von dieser Seite erreicht man den Gipfel über einen steilen Gipfelhang ohne Klettern.

eine offensichtliche und «leichte» Route vermuten; aberoha! Letztere, unserem Freund Maurice Brandt (1927-1999) gewidmet, bietet schöne und gut ausgerüstete Seillängen, mehrheitlich Plattenkletterei mit einer letzten, etwas steileren Seillänge. Nach einer kurzen Traversierung nach rechts auf kompaktem und rauem Fels klettert man in ausgesprochen schönen Rissen. Man hat das Gefühl, direkt in den Himmel hinaufzuklettern.

Daguet L., de Gottrau G., de Girard R., Sektion Moléson des SAC: Les Alpes fribourgeoises. 1908

de Girard Raymond: La conquête des Gastlosen. Atar 1921

Seylaz L., Favre B., Henchoz L.M.: Les Gastlosen, Trésors de mon pays. Neuchâtel 1950

Brandt Maurice: Préalpes fribourgeoises. Editions du CAS 1991

Remy Claude und Yves, Buchs Gerald: Gastlosen. Lausanne 1999 (Französisch und Deutsch)

Zeitschrift des SAC Die Alpen

Karten: LK 1:25 000, 1245 Château-d'Œx (1992)

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