Die Statuette mit dem Schmollgesicht
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Die Statuette mit dem Schmollgesicht Wenn Gletscher Schätze freigeben

Beim Abschmelzen der Gletscher kommen Überreste der Vergangenheit zum Vorschein. Und nicht selten sind es Wanderer und Bergsteigerinnen, die die Gegenstände finden. So ist es auch auf dem Col de Collon im Jahr 1999 mit der rätselhaften Statuette passiert, über die demnächst eine wissenschaftliche Publikation erscheint.

Bruchstücke aus der Vergangenheit erreichen uns oft über Umwege, und dabei ist nicht immer klar, ob es sich um wichtige Dinge oder um Zufallsfunde handelt. Die Geschichte um einen Fund einer menschenähnlichen Figur zeigt beispielhaft die typischen Merkmale und die Schwierigkeiten der Gletscherarchäologie.

Begonnen hat alles an einem Tag im August 1999. Mauro Ferrini, Mitarbeiter eines italienischen Robotikunternehmens und Alpinist Mitte 50, besteigt in Begleitung seiner damaligen Partnerin Silvia den Haut Glacier d’Arolla im Kanton Wallis. In der Nähe des 3068 Meter hohen Col de Collon, der die Grenze zwischen dem Val d’Hérens und dem italienischen Valpelline im Aostatal bildet, stösst er auf eine 50 Zentimeter lange, aus Lärchenholz geschnitzte Figur. Er hebt sie auf, betrachtet sie und steckt sie in seinen Rucksack. Damals wusste er nicht, dass das illegal war und dass archäologische Objekte Eigentum des jeweiligen Staates sind, auf dessen Territorium sie gefunden werden.

Ein schmollender Smiley

Die Skulptur stellt einen menschlichen Körper ohne Füsse, Arme oder Geschlecht dar. Das runde Gesicht erinnert an einen schmollenden Smiley, und die Figur ist durch einen Schaft verlängert. Und obwohl die Figur im Schmelzwasser getränkt war, ist sie wie die meisten Funde in Gletschern, in Schneeverwehungen oder im Permafrost perfekt erhalten. Ihr Äusseres lässt glauben, dass sie erst vor wenigen Monaten oder Jahren geschnitzt und von ihrem Besitzer verloren oder hinterlegt worden ist. Aber diese Statuette, die dem Tim-und-Struppi-Abenteuer Der Arumbaya-Fetisch entstammen könnte, ist tatsächlich mehr als 2000 Jahre alt. «Mehrere Kohlenstoff-14-Analysen haben ergeben, dass dieses Objekt aus den letzten zwei Jahrhunderten vor Christus stammt», erklärt Pierre-Yves Nicod, Konservator am Geschichtsmuseum Wallis.

Zusammen mit seinem Vorgänger Philippe Curdy wird der Westschweizer Archäologe demnächst einen ausführlichen Artikel über diese Entdeckung im führenden deutschen Archäologischen Korrespondenzblatt veröffentlichen. Auch Mauro Ferrini wird darin zu Wort kommen. Mit gutem Grund, denn schliesslich hat der Italiener den wichtigsten Beitrag geleistet: Wie so oft in solchen Fällen war es ein gewöhnlicher Bergwanderer ohne archäologische Ausbildung, dem dieser wertvolle Botschafter der Vergangenheit in die Hände gefallen ist.

Mit Wachs poliert

Nach dem Fund folgten hingegen – unwissentlich und ohne Absicht – die üblichen unglücklichen Reflexe von Laien: Meist berühren sie die Objekte und gehen so das Risiko ein, dass die Konservierung verändert wird; sie lassen die Fundstücke zudem nicht an Ort und Stelle und fotografieren sie auch nicht in ihrer Umgebung. Auch Mauro Ferrini lokalisiert den Fundstandort nicht per GPS oder markiert ihn durch das Aufstellen eines Steinmännchens. Ebenso wenig meldet er seinen Fund bei der Kantonsarchäologie Wallis. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Turiner die Figur zu Hause wie einen normalen Dekorationsgegenstand an die Wand seines Wohnzimmers hängt. Im Glauben, das Richtige zu tun, poliert er ihn jahrelang regelmässig mit Wachs und reinigt ihn mit Antistaubspray – diese Sorgfalt könnte die Kohlenstoff-14-Datierung recht erschwert haben.

Zweite Statuette gefunden

Die Zeit vergeht, und Mauro Ferrinis Entdeckung wird für ihn zu einem Erinnerungsstück von geringer Bedeutung. Bis ihn seine ehemalige Partnerin 2004 auf einen Zeitungsartikel aufmerksam macht, in dem es um eine noch grössere Statuette der gleichen Art geht. Sie wurde im Vorjahr auf dem Gletscher in der Nähe der Passage du Colerin (3200 m) in den Savoyen von einem Bergsteiger gefunden. Die Italienerin stellt eine Verbindung zur Statuette ihres Expartners her und kontaktiert den französischen Wissenschaftler, der das Objekt fotografiert hat, per E-Mail. Dieser antwortet ihr nicht, behält aber seltsamerweise ihre E-Mail-Adresse.

Unglaubliche Verkettung der Umstände

13 Jahre später wendet sich Pierre-Yves Nicod mit der Idee an den Franzosen, die Statuette von Colerin in der von ihm organisierten Ausstellung Mémoire de glace, vestiges en péril in Sion zu präsentieren. Und bingo! Der französische Wissenschaftler bringt den Schweizer Archäologen auf die Spur seines piemontesischen Kontaktes. «Wie durch ein Wunder hatte die Italienerin immer noch die gleiche E-Mail-Adresse, und ihr ehemaliger Partner, den sie aus den Augen verloren hatte, hatte seine Handynummer behalten», sagt Philippe Curdy. «Als man ihn kontaktierte, erklärte er sich sofort bereit, das Objekt zurückzugeben, und reiste selbst von Turin nach Sion und zurück.»

Und was weiss man über die Statuette vom Col de Collon? «Bis heute wissen wir nicht, ob es sich um einen religiösen Gegenstand handelt, wie ihn die Menschen manchmal in den Bergen deponierten, um sich göttlichen Schutz zu erbitten, oder ob es ein Gebrauchsgegenstand wie eine Spindel oder vielleicht sogar ein einfaches Spielzeug ist», sagt Pierre-Yves Nicod. Diese Ungewissheit sei ein wenig frustrierend. «Aber das Wichtigste ist, dass dieses Objekt bestätigt, dass die Menschen im keltischen Zeitalter diese Hochpassage nutzten, um zwischen dem Wallis und dem Aostatal zu verkehren», sagt er. Und das taten sie sicherlich schon lange vorher, wie eine fast 5000 Jahre alte Dolchklinge aus altem Feuerstein vermuten lässt, die von einem Schweizer Soldaten in derselben Gegend gefunden worden war.

Was tun bei einem Gletscherfund?

Von Mitte August bis Ende September werden viele Gletscher einen neuen Tiefststand erreichen. Gut möglich, dass das Eis seltsame Gegenstände freigibt. Falls man solche findet, sollte man dies dem örtlichen archäologischen Dienst melden. Denn unser archäologisches Erbe ist das Eigentum aller, und die gesamte Gesellschaft kann von seiner Entdeckung und Erforschung profitieren. Die wichtigsten Kontakte:

Wallis: oca-archeologie(at)admin.vs.ch, 027 606 38 00

Bern: adb.sab(at)be.ch, 031 633 98 00

Graubünden: info(at)adg.gr.ch, 081 257 48 50

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