Die Sierra Nevada de S. Marta in Kolumbien
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Die Sierra Nevada de S. Marta in Kolumbien

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON PIERO GHIGLIONE, MILANO

Mit 10 Bildern und einer Kartenskizze ( 11-20 ) In den Jahren 1950-1956 hatte ich mehrere Male bei meinen Flugreisen Rom—Lima die wunderbare Sierra überflogen, wobei ich bis Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, die Alitalia-Fluglinie benützte und vom venezolanischen Flugplatz Maiquetia ( Caracas ) aus die Panagra-Fluglinie, via Bogotà—Quito, bis Lima.

Es handelt sich bei der Sierra Nevada um einen wahren « Wald » von eisigen und felsigen Gipfeln, welche sich über dem anderen Wald, dem grünen tropischen Urwald, erheben. Ich nahm mir vor, eines Tages auch die Sierra der Felsen und Gletscher zu besuchen, um ihre stolzen Eispyramiden, welche sich in der Karibischen See spiegeln, zu besteigen.

Diese Gelegenheit kam Ende 1957! Die besten Monate, um diese Berge zu besuchen, sind die trockenen Monate des Januars und Februars. Da in dieser Zeit die Sonne jeden Tag scheint und es heiss ist, wird die Jahreszeit « verano », der Sommer, genannt. Sie ist aber, geographisch gesehen, der Winter, da die Sierra sich noch nördlich des Äquators erhebt.

Es war im Februar 1939, dass es einer deutschen Expedition gelang, die höchste Spitze der Sierra Nevada, den Pico Bolivar, 5775 m, zu besteigen. Ein Italiener, Enrico Praolini, in Barranquilla ansässig, nahm an dieser Expedition teil. Um die ersten Erforschungen dieses Gebietes zu kennen, müssen wir aber ins letzte Jahrhundert zurückgehen. Damals, 1881, war es der englische Geologe Simons, der als erster in die Sierra hineindrang. Später folgte der deutsche Geograph Sievers. Aber keiner dieser Wissenschaftler versuchte Besteigungen zu unternehmen. Es scheint, dass ein Franzose, De Brettes, die ersten Besteigungen unternahm, und ihm wird die erste Ersteigung des Guardians ( 5295 m ) zuerkannt.

Die Sierra Nevada besteht aus zwei Hauptketten, die nördliche und die südliche. In der südlichen Kette erhebt sich der Guardian und bildet die imposanteste Erhebung der Kette. Sein nördlicher direkter Aufstieg ist heute noch nicht ausgeführt worden. In ihr sind noch der Pico Tairona ( 5000 m ), mit zwei Spitzen westlich vom Guardian, und die Chundua ( auch etwa 5000 m ), ganz östlich, zu nennen. Der Guardian selbst weist mehrere nicht leicht zu besteigende, vergletscherte Spitzen und Grate auf. Von Norden sind sie allgemein mühsam zu erreichen.

In der nördlichen Kette der Sierra haben wir, von Westen nach Osten, folgende besondern Gipfel: Pico Santander ( 5600 m ), Pico Simons ( 5690 m ), Pico Bolivar ( 5775 m ) und Cristobal Colon ( 5775 m ). Die letzteren zwei sind die höchsten Erhebungen der Sierra Nevada. Etwas weiter östlich setzt sich die nördliche Kette fort mit: Pico Ojeda N. I ( 5490 m ) und, etwas südlich, fast diesem Berg gegenüber, die Reina ( 5535 m ), zwei majestätisch emporsteigende Berge. Zwischen ihnen liegt der grösste Gletscher der ganzen Sierra.

Vom Pico Ojeda N. 1 zweigt nach Osten eine weitere, längliche Kette ab, die Nevaditos, und östlich vom Ojeda I erhebt sich eine fast ähnliche Spitze, etwas niedriger, welche wir hier vorläufig als Ojeda II benennen wollen. Von der Reina aus zweigt ebenfalls, in südöstlicher Richtung, eine lange Kette ab, die Picos Orientales, so genannt, weil sie die äussersten und östlichsten Gipfel der Sierra enthält. Die Nordkette ist besonders beim Cristobal Colon und beim Ojeda I ziemlich nahe bei der Karibischen See.

Die ersten Pioniere stiegen in die Sierra von Süden oder von Osten ein, wobei der Hauptzweck ihrer Unternehmen die wissenschaftliche Erforschung der Gegend war. Seit Ende des letzten Jahrhunderts bis zu den neuen Expeditionen vergingen jedoch viele Jahre der Ruhe. Nur Anno 1911 wurde ein neuer Besuch in die Sierra unternommen durch Missionar Sigismondo del Real de Gaudia; aber auch er bestieg keinen Gipfel. Dann blieb die Sierra wieder vergessen, bis 1936 zwei Schweizer die Besteigung des Pico Bolivar versuchten ( Berge der Welt, III, 1948, Seite 413 ). Es sind dies Willy Weber und S. Lötscher, wobei Weber beim Abstieg in eine Spalte stürzte und das Eisgrab fand. Seine Leiche konnte nicht geborgen werden. Weber und Lötscher waren Auswanderer.

Drei Jahre später folgte eine USA-Expedition, vom Geographen Cabot geleitet, um das Gebiet der Sierra Nevada geographisch zu erforschen und zu kartieren. Sie wurde von der Geographical Society in New York entsandt, und es gehörten ihr bekannte Wissenschafter und Bergsteiger an, so unter anderem auch Erwin Kraus, ein Deutscher, der in Bogota ansässig ist. Der Expedition gelang die Besteigung der zweithöchsten Spitze der Sierra, des Cristobal Colon ( 5775 m ). Es wurde eine detaillierte, geographische Karte ausgearbeitet, in welcher die verschiedenen Gipfel eingetragen und kotiert sind.

Im Jahre 1943 folgte die Expedition des tüchtigen schweizerischen Ehepaares Frédéric und Dorly Marmillod-Eisenhut und des Geologen August Gansser. Letzterem gelang die erste Besteigung des Pico Ojeda N. I ( 5490 m ), und er führte ausserdem eine reiche geologische Erkundung durch. Diese drei Schweizer sind gute und bekannte Bergsteiger; Gansser war mit Prof. A. Heim im Himalaya. Das Ehepaar Marmillod bestieg im Februar—März 1943 den Guardian, den Pico Simons ( 5660 merste Besteigung -, den Cristobal Colon, den Pico Bolivar, den Pico Ojeda I ( 5490 m ), La Reina ( 5535 m ). August Gansser erklomm den Pico Santander ( 5600 m ) über die Westwand und führte die Überquerung des Pico Ojeda I von Westen nach Osten aus. Er besuchte auch die wilde Chundua-Gruppe. Im Jahre 1950 war Erwin Kraus erneut in der Sierra und bestieg mit den Franzosen Ingenieur Georges Cuenet und Raymond Grière am 26. Januar den Guardian über den Westsporn. Am 31. Januar bestiegen sie den Simon Bolivar durch die Nordwand; sie folgten dann der nördlichen Hauptkette und fanden einen Sattel im Süden, über den sie zu den Quellen des Rio Tucurinca gelangten. Von da gingen sie zum nördlichen Dörfchen Ma-marango und endlich durch das Rio-Sevilla -Tal zu den Städten Sevilla und Guacamagel in die Ebene. Die Rückkehr dauerte fast eine Woche. Diese Expedition darf als eine der erfolgreichsten bezeichnet werden.

Was die Flora und Fauna anbetrifft, so möchte ich folgendes festhalten: Es folgen der Reihe nach, von unten nach oben: der Urwald, die Podocarpis, Farnkraut-dickichte, Bambuswälder zwischen 1200 und 2000 m/M ., vorwiegend die Chusquea-Art. Höher trifft man Ericaceen und Epiphyten, Moose und Flechten sowie eine Art Espelethia ( Composita ), sowie die Senecios, wie in den Hochregionen Mittelafrikas, aber niedriger. In der Zone des Pico Bolivar, Venezuela, sind diese Gräserfelder häufig und werden Freilejones genannt. Die Freilejones, welche ich im Pico Bolivar sah, sind aber viel höher gewachsen und schöner als diejenigen der Sierra Nevada. Nur im oberen Guatapuri-Tal habe ich einige hübsche Freilejones gesehen, die bis 1,80 m hoch waren.

Wir trafen in grosser Höhe, etwa auf 4400 m, Stiere sowie Kondore, als wir gerade bei den Gipfeln standen. Die Stiere sind gross, schwarz, mit ganz langem Schwanz und grossen Hörnern. Sie sehen wie die afrikanischen Gnus aus. Wir haben oft ihre Spuren verfolgt, welche manchmal sehr steil durch « Couloirs » hinaufgingen, was uns in Erstaunen brachte.

Die Sierra Nevada ( 10-12° Breite Nord ) ist granitischen Ursprungs und erstreckt sich ungefähr auf 90 km von Westen bis Osten und 95 km von Norden bis Süden, ist somit etwa 8600 Quadratkilometer gross. Es gibt kein Gebirgsmassiv in der ganzen Welt, das so nahe an der Meeresküste liegt ( im Mittel etwa 30 km, aber in gewissen Punkten auch 25 km ) und solche Höhe aufweist. Ich war einmal auf der Insel Borneo, wo der Kinabalu sich auf etwa 4200 m Höhe erhebt; dieser Berg ist aber mehr als 60 km von der Küste entfernt. Die Schneegrenze variiert in der Sierra ziemlich stark und reicht von 4800 m nördlich bis 4600 m südlich im Januar und März; in den anderen Monaten ist die Höhenlage sehr verschieden und wechselt je nach den Niederschlägen sehr häufig und stark.

Auf ca. 3300 m fängt die Zone der hochgelegenen Weiden und diejenige der überaus langen Moränen an. Im oberen Teil dieser Moränen liegen unendlich viele kleine und grosse Seen und charakterisieren die Landschaft dieser tropischen Sierra. Die Gletscher, ausgenommen der fast flache, der zwischen dem Ojeda N. I und der Reina sich erstreckt, sind nicht gross, aber sehr steil und ab und zu ziemlich zerschrundet. Erscheinungen wie « Büsserschnee » sind auf diesen Gletschern sehr oft zu sehen, da bei trockener Luft und starker Sonnenstrahlung die Verdunstung gross ist.

Die besten Monate für Besteigungen sind Januar und Februar; im März fallen bereits Regen und Schnee, und dichter Nebel ist sehr häufig. Ich war 1957 den ganzen Januar und 1958 Januar und Februar in den höchstgelegenen Gebieten der Sierra und habe durchwegs schönstes Wetter gehabt. Dies ermöglichte uns, die schweren Besteigungen durchzuführen. In der Nacht habe ich öfters 12-18° unter Null gemessen. Die Nacht ist lang ( etwa zwölf Stunden ), und deshalb ist gegen Morgen die Temperatur bei grossen Höhen immer niedriger. Gegen 4 Uhr morgens ist die grösste Kälte. In der Nähe eines meiner Lager, auf 4400 m, war ein kleiner See: um 8 Uhr morgens war derselbe grösstenteils noch gefroren, aber schon um 9 Uhr 30 war er bereits wieder aufgetaut.

Meine erste Expedition in der Sierra Nevada führte ich im Januar 1957 durch. Ich verliess Italien am 27. Dezember 1956, vom Flugplatz Malpensa ( Mailand ) aus, abends und kam, via New York, in Barranquilla ( Kolumbien ) an der Westküste der Sierra Nevada am 28. Dezember, abends, an. Von dort fuhr ich mit einem Flugzeug der Taxader-Linie nach der kleinen Stadt Valle-Dupar weiter. Die Stadt liegt am Südostfusse der Sierra selbst. Mit grosser Schwierigkeit, da damals kein regelmässiger Motorwagendienst vorhanden war, konnte ich einen Jeep von einem deutschen Ansässigen bekommen und kam damit nach fünf Stunden, durch Urwald und über ganz schlechte Wege, vorerst flach und dann sehr steil, nach Pueblo Bello. Dieses Dörfchen liegt auf einer schönen Hochebene, etwa 1200 m hoch. Das Gebiet ist sehr fruchtbar, aber von Mosquitos überfüllt! Man befindet sich hier auf dem südwestlichen Teil der Sierra.

In Pueblo Bello herrschte grosses Fest anlässlich des Silvesterabends, so dass es in der einzigen kleinen Wirtschaft des Ortes eine Nacht ohne Ruhe gab. Man kultiviert hier mit Erfolg eine Kaffeeart, welche die beste von ganz Kolumbien sein soll; und bekanntlich liefert dieses Land eine gute Kaffeesorte. Ich sah in Pueblo Bello wunderbare Privatgärten mit süssen und säuerlichen Orangen, Mandarinen, Pomelios, Guanabanos, Bananen, Papajas, Zapotes usw. Es wachsen auch mit Erfolg Korn und Weizen, Zucker, Kartoffeln, Hirse und Gerste. Ich habe auch wunderbare Zuckerpflanzungen gesehen; daraus brauen die Einheimischen Alkohol und die « panela », eine Art konzentrierten Zucker, in Stücke geschnitten, der wie Coca sehr kräftigend wirkt.

Am 1. Januar 1957 kam unser Maultiermann Alvarez zu unserem Lager, nahe der kleinen, sauberen Wirtschaft, nur mit zwei Stunden Verspätung. Wir fuhren weiter nach S. Sebastian. Der Weg ist zuerst eine breite Spur in der weiten Ebene, dann steigt er in den Urwald hinein und gleicht mehr einem Pfad. Die Fahrt nimmt etwa fünf Stunden in Anspruch, zuerst durch den dichten, wunderbaren Wald, dann über einen 2600 m hohen Pass und schliesslich wieder hinunter bis 2000 m. In S. Sebastian de Rábago existiert eine Mission der Kapuzinermönche. Wir kamen abends an. Ich hatte eine Empfehlung vom Oberbischof Fraile Vicente Roy y Villalba in Valle-Dupar bekommen, und so erfuhr ich eine sehr liebenswürdige Aufnahme bei Pater Don Atanasio de la Nora, Oberhaupt des dortigen Klosters.

Wir blieben den ganzen nächsten Tag hier, um das Pueblo ( Dörfchen ) der Indios Arhuacos zu besuchen und die weitere Beschaffung von Maultieren usw. zu organisieren, da nach S. Sebastian die absolute Einsamkeit folgt. Das Dorf der Arhuacos ist das einzige wirklich typische in der ganzen Sierra Nevada. Diese Indios sind ganz verschieden von allen anderen in Südamerika: sie haben lange, schwarze Haare und eine glatte Haut wie die Mongolen, sind misstrauisch, lassen sich nur ungern photographieren, oft nicht einmal mit Geld dazu bewegen. Sie sind in Stämme geteilt. Jede Familie hat ihre Hütte. Diese Wohnungen sind im untern Teil aus Steinen und Kot ausgebaut und oben mit einem grossen Strohdach bedeckt. Der innere Teil ist im allgemeinen sauber, mit einem primitiven Bratofen ausgerüstet. Das Dorf ist von der kolumbianischen Regierung recht artig, nach den Gebräuchen der Indios, gebaut worden. Die verschiedenen Hütten stehen in zwei geraden Reihen, mit einem weiten Platz dazwischen. Auf einer Seite haben die Missionare eine primitive Kirche und einen besonderen Glockenturm errichtet. Als ich auf den Glockenturm hinaufklettern wollte, um eine Photo vom Dörfchen aus der Vogelschau zu machen, kam eilig Don Atanasio gesprungen und sagte, der Turm sei noch nicht fest genug...

Die Arhuacos fanden hier zur Zeit der spanischen Einfälle Zuflucht und blieben seitdem immer in der Gegend. Ihre Kinder gehen bei der Kapuzinermission in die Schule. Die Missionare selbst pflegen verschiedene Pflanzungen sehr gut. Don Atanasio empfahl mir zwei Mestizos als gute « arrieros », die Gebrüder Jesus und José Zapata, und vom älteren, Jesus, bekam ich auch Maultiere. So konnte ich meine weitere Expedition zusammensetzen und in die fernen Berge steigen.

Zapata kam am 3. Januar 1957, auch mit Verspätung, ins Kloster. Wir zogen mit sechs Tieren um 8 Uhr morgens ab. Es war ein langer Marsch über Pässe und immer höherliegende Täler. Die Aussicht wurde aber immer schöner, und als wir die höchsten Sierraberge sehen konnten, war es wirklich ein überwältigender Anblick. Erst gegen 9 Uhr abends langten wir in Mamancanaca ( 3450 m ), zwei sehr schlechten Hütten, an. Seit zwei Stunden waren wir bereits im Dunkel marschiert, auf einem kleinen, über tiefen Schluchten am Hang hinführenden Pfad. Aber die Lasttiere gingen immer ruhig und sicher.

Der Nachtschlaf war durch das fortwährende Gebrüll der Stiere und das Blöken der Lämmchen ziemlich gestört. Wir gingen dann am 4. Januar weiter aufwärts und erreichten sechs Stunden später, gegen 3 Uhr nachmittags, einen Ort südöstlich vom Guardian, wo wir das Basislager auf 4400 m aufrichteten. Wir waren am Ufer eines reizenden, kleinen Sees: drei Zelte spiegelten sich eine halbe Stunde später darin. Der Hilfsarriero, Bernardo, bekam von mir den Auftrag, am 18. Januar wieder mit zwei Traglasttieren heraufzukommen. Für drei Wochen sind wir also hier oben geblieben, allein zwischen Felsen und im Wind; nur die Kondore flogen über unsere dünnen Wohnungen.

Schon am kommenden Morgen gingen wir zum nächsten hohen Sattel, 4500 m. Von dort genossen wir die wunderbarste Aussicht über die höchsten Gipfel, über die vielen blauen und grünen Seen dieser typischen Region. Uns nahe erhob sich der Guardian in der Südkette und ganz ferne Cristobal Colon, Pico Bolivar, Pico Santander und Pico Simons, alle in der nördlichen Kette. Im Osten konnte man noch die Reina und den Ojeda I sehen. Eine Menge Berge über 5500 m!

Am folgenden Tage, 6. Januar, wollte ich zum Guardian. Die Entfernungen sind aber grösser, als man sie in der überklaren Atmosphäre schätzt. So konnte ich an diesem Tag nur den Pico Tairona, etwa 5000 m hoch, den östlichen Gipfel, über den westlichen, schneideförmigen Eisgrat besteigen. Meine Freunde, der Chilene Evelio Echevarria und der Filmoperateur, sowie Jesus Zapata, blieben unten. Ich musste die Stufen selber schlagen. Auf dem Gipfel, wo ich keine Spur von früheren Besteigungen fand, liess ich meine Karte zurück.

Am 7. Januar wurde alles vorbereitet, um weitere Lager bis zu den Füssen der nördlichen Kette vorzuschieben. Es folgten deshalb zwei Tage mit schweren Märschen und Besteigungen, auf und ab in öden Tälern voll glatter Felsen; Zeichen von glazialen Epochen waren überall sichtbar. Jeder von uns war schwer beladen, am meisten der starke Echevarria und Jesus Zapata. Den ersten Nachmittag erstellten wir ein Lager am nördlichen Ufer des Marno, des grössten der Seen, auf etwa 4600 m. Am nächsten Tage stiegen wir über Geröll und längs idyllischen Seen. Viele grosse, schwarze Stiere waren in der Nähe. Glücklicherweise störten sie uns nicht, sahen aber recht böse zu uns herüber..

Spät abends, am 9. Januar, errichteten wir ein Lager ( zwei Zelte ) auf 4900 m, unter der Südwand des Cristobal Colon, an einem idyllischen See, aber noch ziemlich weit von der eigentlichen Felswald entfernt, denn um hinzukommen, mussten wir noch ein langes Moränenbett, dann einen stark verspalteten Gletscher überschreiten. Das geschah am Morgen des nächsten Tages, 10. Januar. Von unserem Lager, nahe an einem gefrorenen See, gingen wir um 6 Uhr früh weg. Wenig davon entfernt stiessen wir auf einen grossen Eishang, welcher bis zu einem niederen, gefrorenen See hineinreichte und uns diesen « tropischen Büsserschnee » in den schönsten Formen zeigte. Mit grosser Mühe brachten wir die ganze kinematographische Ausrüstung über den Gletscher, der in seinem obern Teil noch bizarrere Bilder dieser Naturerscheinung bot und für kinematographische Aufnahmen die beste Szenerie ergab.

Gegen 10 Uhr hatte ich meine Seilschaft bis auf 5250 m Höhe gebracht. Ich liess dort meine Begleiter arbeiten und setzte meinen Weg allein bis zum Felsfuss der Südwand des Cristobal Colon fort. Die Wand richtete sich fast abdrängend und übermächtig vor mir auf. Die ersten Schwierigkeiten musste ich schon zu Beginn in einem Felskamin überwinden. Ich musste mich sogar zweimal wieder abseilen, da keine Möglichkeit war, weiterzukommen. Dann fand ich einen Weg und stieg allmählich weiter hinauf. Dies war für mich eine erfrischende Arbeit; ich stieg in einem Eiskamin hinauf. Nichts mehr konnte mich nun anhalten. Ich hatte auch keine Höhenhemmung. Ich musste im harten Eis immer wieder Stufen schlagen, um sichern Tritt zu haben. Langsam kam ich höher. Ich konnte die höchste Spitze Cristobal Colon vor mir sehen, fast zum Greifen nahe. Sie war aber noch immer weit... Der Himmel war ganz klar, doch kühlte ein ziemlich starker Wind.

Endlich betrat ich den letzten Grat und konnte auf die andere Seite sehen. Eine andere Welt! Nichts ist schöner für einen Bergsteiger, als dieses Erleben, auf die andere Seite eines Berges, den er bestiegen hat, zu schauen. Hier war es wahrhaftig ganz phantastisch! Eine ungeheuere Wand schien es, kilometerhoch und weit, lag unter mir... und weit unten das Karibische Meer mit kleinen, weissen Wölkchen, wie baumwollenen Flocken.

Nirgends in der Welt kann man einen solchen Blick einfangen!

Dann stieg ich weiter und weiter, längs dem scharfen Eisgrat, immer wieder mit dem Pickel Tritte schlagend. Endlich, um 14 Uhr 30, stand mein Fuss auf dem höchsten Gipfel der Sierra, auf 5775 m. Eine fast unglaubliche Aussicht auf alle Spitzen der Sierra Nevada konnte ich geniessen!

Etwa um 18 Uhr war ich wieder in unserem Hochlager ( 4900 m ) zurück. Meine Gefährten hatten mich auf dem Gipfel gesehen und freuten sich mit mir.

Zwei Tage später waren wir wieder in unserm Basislager und kosteten einen Tag der Ruhe.

Echevarria musste wegen dringender Geschäfte nach den USA zurück. Wir Zurückgebliebenen errichteten in den nachfolgenden Tagen auf der Südwestseite des Guardians, auf etwa 4600 m, ein Hochlager. Ich wollte einen neuen Südostweg versuchen. Am 14. Januar, abends, konnten wir das grosse rote Zelt auf einem grossen, runden Moränen-Stein, welcher der einzige mögliche Platz war, mitten im Eis aufstellen. Die ganze Nacht wehte ein furchtbarer Orkan. Gegen 9 Uhr morgens wurde es endlich ziemlich windstill, so dass wir aufbrachen und über den Südgletscher bis zu einer senkrecht aufsteigenden Felsmauer vordrangen. Hier schien ein Weiterkommen unmöglich. Doch fanden wir ein schmales, schräges Band. Ich sagte Jesus Zapata, er solle nun seine Kletter-geschicklichkeit zeigen! Der kolumbianische « arriero » ging sofort den Felsen an und... schnell war er oben! Dann stiegen ich und der Kameramann nach, letzterer liess dabei den Eispickel fallen, welcher zum Gletscher hinunterfiel und zerbrach und so verloren war. Es folgten noch zahlreiche Felspartien und stark durchspaltetes Gletschereis, die vielerlei Anstrengungen erforderten. Aber gegen 14 Uhr standen Zapata und ich auf der Spitze des Guardians. Zapata war auf dem letzten, steilen Eisgrat mir recht gut nachgekommen. Der Maultierführer war unendlich froh, seinen Berg, « den Wächter », den « Guardian » seines Landes ( 5295 m ) als erster Einheimischer bestiegen zu haben. Die ganze Nordkette stand leuchtend vor uns, und zu unseren Füssen lagen eine Menge wunderbare, grüne Seen. Der Himmel war, wie immer, tief blau.

Spät in der Nacht waren wir wieder in unserem Basislager glücklich zurück, bei hellem Vollmondschein. In den nächsten Tagen gingen der Kameramann und der « arriero » Bernardo mit zwei Maultieren nach S. Sebastian zurück, um die verschiedenen Phasen des grossen Indianerfestes aufzunehmen. Ich stieg mit den zwei Brüdern Zapata weiter gegen Nordosten. Ich wollte dem Massiv der Ojeda I-Reina ( 5535 m ) einen Besuch erstatten. Es wurden wiederum gegen 40 Stunden teils schwieriger Fussmarsch, hinein in die tiefen Hochtäler, bis wir endlich ein Hochlager, auf 4750 m, zu erstellen vermochten, wieder neben einem wunderbaren blauen Seelein, am Südfuss des Ojeda I.

Am nächsten Tag, 20. Januar, bestieg ich mit Jesus Zapata den vereisten Westgrat des Ojeda. Es war wiederum ein wunderbarer Tag. Ich konnte von der Höhe Einsicht in die ganze Nordflanke der noch unbestiegenen Picos Orientales nehmen: eine steile, lange, völlig vergletscherte Wand! Sie sollte mein nächstes Ziel sein... im Jahre 1958!

Zweite Expedition in die Sierra Nevada, Januar-Februar 1958.

In seinem Bericht im « Geographical Journal » hat der englische Professor Dr. J. Cunningham, der im Januar 1957 in der Sierra Nevada weilte, die Hoffnung geäussert, dass « jemand den Picos Orientales erforschen und besteigen möchte ». Er selbst habe nur einen leichteren Gipfel von Süden her bestiegen. Dieser Bericht vermochte mich zu einer neuen Expedition anzutreiben. Ich wählte einen ausserordentlich geschickten Führer und alten Freund aus, Giuseppe Pirovano, der eine bekannte Skischule in Cervinia und auf dem Stelviopass führt. Er kam mit einem ausgezeichneten Kletterer, G. C. Canali. Pirovano, der bei uns durch besonders sicheres Gehen im Eis sehr bekannt geworden ist, hat unter anderem die Nordflanke der Disgrazia und Besteigungen im Gebiet des Badile, den Südgrat der Aiguille Noire de Peuterey, in der Berninagruppe, im Berner Oberland und in den Dolomiten ausgeführt.

Wir fuhren am 26. Dezember 1957 vom Flugplatz Malpensa-Milano mit einem Flugzeug der BOAC ab, über Paris—London—New York—Jamaika, und kamen wenige Tage später in der sonnenreichen Stadt Barranquilla an. Von hier erreichten wir wieder mit kleinerem Flugzeug Valle-Dupar. Diesmal aber fuhren wir statt nach Westen ( d.h. nach Pueblo Bello ) nach Osten weiter, zum Dörfchen Atanquez. Dort hatte ich brieflich die Gebrüder Zapata für den 2.Januar 1958 bestellt. Es war aber nicht einfach von Valle-Dupar weiterzukommen, denn infolge von Überschwemmungen war kein lokaler Dienstautobus zu erhalten. Nach vielen Bemühungen und dank der wertvollen Hilfe von Herrn Ramon Valencia des Landwirtschaftsministeriums in Valle-Dupar, gelang es mir, drei Plätze in einem alten Autokarren zu reservieren. Er sollte gegen 2 Uhr nachmittags abfahren. Der Wagen kam aber erst um 5 Uhr, und eine weitere Stunde wurde beim Herumfahren im Städtchen, um Kunden zu werben, verloren. So konnten wir erst um 6 Uhr abends wegfahren. Wir waren wie Sardinen zusammengepfercht, zwischen Gepäck und jungen Mestizenmädchen in festlicher Kleidung, da sie zu einem Tanzabend fuhren. Es war eine holperige und ab und zu in den scharfen Kehren recht gefährliche Fahrt, die wir aber fröhlich ertrugen. Aber nie erschien mir unser Ziel so weit entfernt! Die Strasse oder, besser gesagt, die Wagenspur war eine Folge von überaus steilem Auf und Ab. Verschiedene heftige Giessbäche mussten wir überqueren, und die Autokarre lotterte oft fürchterlich. Oft schrien die schwarzen Mädchen laut auf. In der Mitte eines Baches hielt der Wagen plötzlich an, so dass das Wasser bis über die Rädermitte stieg. Das gab doppeltes Ge-schreiEndlich, gegen 11 Uhr nachts, langten wir in Atanquez ( 770 m ) an.

Am nächsten Morgen kamen die beiden Zapata in unserm Lager pünktlich an, und bald ging es mit fünf Maultieren weiter. Der Weg stieg zwischen wunderbaren Bananen- und Papayen-pflanzungen steil und krumm hinauf. Fragt man die Bauern nach Früchten, so bekommt man als Antwort, dass alles ausverkauft oder noch nicht reif sei!

Wir stiegen mit unseren Tieren während vieler Stunden über unglaublich steile Pfade. Erst gegen Abend stellten wir unser erstes Lager in 1600 m Höhe auf einem vorspringenden Hügel auf. Als ich am nächsten Morgen früh die Nase aus meinem Zelt steckte, stand ein Schritt weit davor ein Indio des Arhuacos-Stammes, aufrecht und unbeweglich und schaute mich neugierig und starr an.

Vier Tage lang marschierten wir dann durch das Donachui-Tal im östlichen Teil der Sierra Nevada. Die Temperatur wurde allmählich besser. In der Taltiefe gedeihen Zuckerrohr, Bananen, Aguacate; aber auch Milliarden von Fliegen und Mücken, andere Insekten und ganz kleine Viecher, die man nicht sieht, aber an ihren juckenden Stichen sehr empfindet. In allen Zuckerpflanzungen ist diese Lebewelt zu treffen. In Donachui wurde uns flüssige Panela, die aus Zucker hergestellt wird, angeboten. Panela wird dann getrocknet und von Indios wie Koka als Stärkungsmittel gebraucht.

Spät abends waren wir in Zagzoumi, einem Weiler mit armseligen Hütten. Es war hier aber während der ganzen Nacht ein grosses Fest zu Ehren der Indios Arhuacos. Gegen Mitternacht wurden von wahrscheinlich Betrunkenen Steine gegen unsere Hütte geworfen. Am Morgen war auch unser Jesus Zapata noch betrunken. Ein Indio, namens Arcandro, anerbot sich, uns zu begleiten, was ich annahm, damit er später unseren jungen Zapata und die Maultiere zurückbegleiten konnte.

Gegen Mittag kamen wir im dichten Nebel an einen Bach, mitten im obern Tal. Das war der einzige Schlechtwettertag während der zwei Monate unseres Aufenthaltes in der Sierra. Wir waren eben dabei, etwas zu essen, als eine weisse Erscheinung aus dem dichten Nebel heraustrat: es war ein junger Arhuaco in seiner weissen Tracht, einer langen Kutte bis zu den Füssen, an den Hüften mit einem schwarzen Gürtel fest zusammengebunden.

« Soy ciego » ( ich bin blind ), rief er aus. Wir gaben ihm etwas zu essen, und ich frug ihn, wo wir seien.

« Concuruaca! » antwortete er.

Ich schaute in meiner Kartenskizze nach und fand diesen Namen aufgezeichnet. So fand ich unsern Standort ziemlich genau und konnte berechnen, dass wir in einem Tage den höchsten Sattel des Donachui-Tales erreichen konnten.

Nachdem wir den Westufern der schönen Seen von Domariba und Escuritaba gefolgt waren, kamen wir endlich am 11. Januar 1958 zum Naboba-See, etwa 4200 m hoch, am Nordfuss des Guardians. Seine vereiste Nordflanke wirkt von diesem See aus recht eindrucksvoll und majestätisch. Diese Wand gleicht der Nordwand der Grivola in unseren Alpen, nur ist der Guardian etwa 1300 m höher. Wir stiegen noch mit den Maultieren etwa eine halbe Stunde weiter, verabschiedeten uns dann vom jungen José Zapata und dem Indio Arcandro. José sollte mit neuen Lebensmitteln am 18. Januar wieder heraufkommen. An diesem Abend stellten wir noch Lager V auf 4600 m auf, am selben Platz, wo ich im Jahre zuvor gelagert hatte.

Ohne Zeit zu verlieren, griffen wir am 12. Januar einen unbenannten Eisgipfel an, südwestlich der Reina, und bestiegen ihn durch seine Nordflanke. Mein Freund Pirovano liebt die vertikalen Eiswände und hatte für solche Wege von zu Hause eine Menge Nägel und Kletterwerkzeug mitgenommen. Den folgenden Morgen stellten wir, nach Überschreitung des grossen Gletschers zwischen Ojeda I und Reina, Lager VI an der oberen Mündung des Guatapuri-Tales auf, ca. 4700 m hoch. Gerade uns gegenüber erhoben sich die bekannten « Picos Orientales »!

Hinter uns standen die Nevaditos, eine weitere lange Kette von unbestiegenen, vergletscherten Bergen, 5100-5500 m hoch. Ganz eindrucksvoll war die überaus weite Nordflanke der Picos Orientales, kilometerlange, äusserst vertikale Eiswände.

Ich versuchte in diesem Lager ein neues Zubehör: einen Ofen mit Propangasdosen. Dieser funktionierte gut und schnell in dieser Höhe, doch standen die Siedezeiten über den angegebenen Werten. Wir mussten uns Wasser aus einer Höhle im nebenstehenden Gletscher beschaffen.

Am nächsten Tage, H. Januar, bestiegen wir, vorerst über steilen Gletscher und dann längs schmalem Felsgrat, den Ojeda II ( 5390 m ). Er steht dem Nevaditos nahe, aber völlig getrennt als freier Berg und gleicht dem Ojeda I in der Struktur und Form. Viele « akrobatische Manöver » waren nötig, um diesen Gipfel zu erreichen. Wir nannten diese Spitze Pico Italia. Von ihm aus sahen wir wieder das Karibische Meer. Meine Freunde waren ob der wunderbaren Sicht ganz entzückt! Mittags, 12 Uhr 15, errichteten wir auf der Spitze des Ojeda einen Steinmann. Von seiner Spitze aus sieht man das ganze Massiv der Nevaditos und erkennt im besondern die Reina mit ihrer Höhe von 5535 m als die höchste Erhebung.

Wir stiegen zum Lager ab, ruhten uns aus - und schon am 16. Januar bestiegen wir die Reina durch die bisher nicht begangene, stark vergletscherte Nordostflanke und über den Nordgrat.

Der zweite Teil unserer Expedition führte uns in die nordöstliche Zone der Sierra Nevada, d.h. in die zwei unerforschten Bergketten der Nevaditos und der Picos Orientales. Der Zugang zu diesen zwei Ketten ist nicht leicht, um so mehr, als in diesem Gebiet keine Träger zu finden sind. Ich wusste dies und war mir von Anfang an darüber klar, dass wir den grössten Teil des Gepäcks für mehrere Tage selber tragen müssten. Ausserdem ist diese Zone « el verdadero desierto de piedras », eine richtige Steinwüste, fast ohne Wasser, weil die verschiedenen kleinen Seen im allgemeinen nicht in greifbarer Nähe von guten Lagern liegen, und es ist weit und breit kein Holz zu finden.

Die Indios Arhuacos sind faul und träg. Ein feines Beispiel dafür war unser Arcandro, der nie beim Tragen oder sonstwie half. Ich hatte aber zwei ganz tüchtige Gefährten mit, Pirovano und Canali, denen ich ein schweres, aber an Genugtuung reiches Expeditionsleben, schönstes Wetter während zweier Monate und interessante Besteigungen versprochen hatte. Und alles traf dann so zu, dass meine Freunde am Ende der Expedition vollständig zufrieden waren. Ich durfte meinerseits mit ihrem Vertrauen und ihrer Arbeit zufrieden sein.

Die zwei einzigen Träger der Gegend sind die Gebrüder Zapata, welche mir vom Hauptpriester in S. Sebastian de Rabágo empfohlen wurden. Jesus Zapata wurde dieses Jahr aber krank und musste vorzeitig nach S. Sebastian zurück. So blieb uns nur der junge Bruder José, der aber kein Kletterer ist, dafür aber gute Dienste im Tragen leistete. Jesus erlitt nach seinem Rausch in Za-groumi eine schwere Erkältung. In diesem tropischen Land der Sierra Nevada sind die Tage sehr heiss, die langen Nächte aber ungemein kalt, besonders in grossen Höhen. Ich mass in meinem Zelt, über 4500 m, bis 50° Strahlungswärme und oft als minimale Temperatur — 15° bis — 18°.

Am 18. Januar kam José Zapata pünktlich zu unserem Basislager, am Südfusse des Ojeda I, aus S. Sebastian mit Lebensmitteln zurück. Der kranke Bruder Jesus ging nach S. Sebastian hinunter, und es blieb José mit uns. Am 19. Januar stiegen wir wieder zum Lager VI an der oberen Mündung des Guatapuri-Tales auf, und am nächsten Tag bestiegen wir den Ojeda N.I über den langen, bisher unerstiegenen und schwerbegehbaren Südostgrat.

Am 20. Januar kehrten wir ins schmale Guatapuri-Tal zurück und hinauf zum südlichen Hochplateau der Nevaditos, wo wir innert zweier Tage zwei weitere Lager ( VII und VIII ) aufstellten. Meine Freunde trugen dabei Gepäck von 35-40 kg! Auch José war schwer beladen. Der 22. Januar wurde für uns zu einem unvergesslichen Tag: in langer und mühsamer Überschreitung betraten wir alle vier übrigen Nevaditos, ein Gratweg von nahezu drei Kilometern Länge. Zwischen den verschiedenen Eisgipfeln muss man tiefe Einschnitte, einige davon fast vertikal abfallend, überwinden. Schwere und andauernde Eispickelarbeit ist notwendig. Mit meinen überaus tüchtigen Gefährten konnte ich alles ausführen. Pirovano war immer der erste Mann in der Seilschaft. Ein starker Wind wehte regelmässig, aber die Sicht war ungemein klar. Nicht selten war das Karibische Meer gut sichtbar, und des öfteren standen wir auf der Eisgratschneide, 5000 m über dem Meeresspiegel.

Am 23. Januar bestiegen wir den Nevadito, der dem Ojeda II am nächsten steht. Von unserem Lager ( VIII ) aus schien er vorerst der weniger schwer besteigbare Gipfel zu sein. In der Tat fanden wir aber einige Übergänge vom 4. und 5. Grad und mehr, unter anderem eine Felsmauer von etwa 8 m Höhe, welche in der Mitte von einem vertikalen Riss durchschnitten war, in den man gerade noch die Finger hineinzwängen konnte, um sie zu überwinden. Den dritten Nevadito, der ebenfalls schwer zu ersteigen ist, nannten wir Pic Briga, Brigspitze, im Erinnern an die Stadt des Oberwallis, in der ich so viele schöne Tage bei meinen Freunden verleben durfte.

Das Eis ist hier in der Sierra Nevada infolge des andauernden Windes und der langen kalten Nächte ungemein hart, wie Glas. Der Fels ist runzeliger Granit, wie z.B. beim Südgrat der Aiguille Noire am Mont Blanc, aber rosafarbig. Beim Sonnenuntergang zeigen sich so die schönsten Farben. Die lange im Zenit stehende Sonne schmilzt aus den Schneelagen eine Unmenge senk- recht stehende Lamellen aus, welche das Gehen sehr erschweren. Der Sonnenbrand auf den Lippen ist gross, und die Augen werden durch das stete, pralle Licht stark hergenommen, trotz dunkelsten und geschlossenen Brillen. Nase und Kehle werden stark ausgetrocknet. Wir verwendeten zur Linderung Menthol für die Nasenlöcher und Fruchtsäfte für die Kehle.

Nach den Besteigungen der Nevaditos gingen wir an den dritten Teil unserer Expedition in der Zone der Picos Orientales. Diese ganz östlichen Gipfel sind die kühnsten und schwerstersteigbaren in der ganzen Sierra Nevada. Es war übrigens mehr als natürlich, dass hier auch ( wie bei jeder Bergkette der Welt ) nach den ersten Erforschungen und Besteigungen die schwersten und am weitesten entfernten Gipfel unbestiegen blieben. Es wurde dieser Kette auch der Name Picos Taironas gegeben, weil ein alter Indiosstamm dieses Namens dessen Täler bewohnte. Geographisch liegen diese Massive aber am östlichsten, so dass man sie mit Picos Orientales bezeichnen soll. Gewaltige Eisgräte mit Gwächten und vertikalen Eiswänden sind für diese Picos charakteristisch.

Es war nun Ende Januar 1958. Aus den Nevaditos zurück blieben wir einige Tage in der Umgebung des Naboba-Sees ( etwa 4200 m ), um auszuruhen und auf die Maultiere, welche aus dem Tal kommen sollten, zu warten. Diese sollten uns und das ganze Gepäck auf die hohen Ebenen bringen, die sich am Fuss der östlichen Gipfel ausbreiten. Der Naboba-See hat eine kleine Insel, fast in der Mitte. Mein Freund Canali wollte dort eine Fahne aufrichten. Das Wasser war aber im allgemeinen sehr kalt; an jenem Tag, 31. Januar, mass ich um die Mittagsstunde noch immer 8°, also zum Schwimmen auch für einen starken jungen Mann noch zu kalt. So fuhr er mittels einer Gummimatratze bis nahe an die Insel heran, kippte dann plötzlich um und fiel ins Wasser! Glücklicherweise ergab es nur ein kaltes Bad ohne Folgen!

Die Maultiere kamen wieder mit einigen Tagen Verspätung, so dass inzwischen die andern Maultiere, die mit zwei Beinen, meine beiden Freunde, wiederum grosse Lasten zu tragen hatten, 35-40 kg! Wir errichteten ein weiteres Lager auf 4400 m, zu Füssen der ersten Picos, nahe an der Ostseite der Reina, mussten aber einige grosse, schwarze Stiere, die dort oben weilten, zuerst in die Flucht jagen. Es ist sonderbar, wie diese Tiere in dieses Gebiet kommen, um dem besseren Gras nachzugehen.

Am 3. Februar begann unser Kampf, um diese Picos Orientales zu besteigen. Wir verliessen die Zelte frühmorgens und konnten während des ganzen Tages drei Gipfel besteigen von 5200 bis 5400 m Höhe, nachdem erhebliche Schwierigkeiten im Eis und Fels überwunden waren. Mehrere Kondore segelten über unsern Köpfen. Nach mehrmaligem Abseilen kamen wir dann wieder auf gutem Boden auf den langen Schutthalden an. In der Enge eines Kamins brach unsere Thermosflasche. Die Reste aber nahmen wir mit und waren um diese, im Hochplateau zurück, recht froh, als wir bei einem kleinen Seelein Rast hielten und mit ihnen Wasser schöpfen und trinken konnten. Dabei mussten wir darauf achten, keine in der Flasche zurückgebliebene Glassplitter zu verschlucken.

Am nächsten Tage bestiegen wir den schwersten Pico, ganz nahe der Reina, über seinen vereisten Nordwestgrat. Als ich auf halber Höhe desselben war, konnte ich durch eine kleine Eishöhle tausend Meter tief auf den Gletscher hinabsehen. Es war ein fast erschreckender Tiefblick! Schwer war das Einschlagen von Eisnägeln im dünnen Felseis, aber Pirovano arbeitete mit grösster Geschicklichkeit, und so konnten wir die Seile sicher in die Karabiner einführen und aufsteigen. In der grossen senkrechten Eiswand vor dem Gipfel glich unser Führer einer Mücke auf einer Glasscheibe. Auf dem Gipfel hissten wir die Fahnen von Kolumbien und Italien und liessen unter dem errichteten Steinmann unsere Visitenkarten zurück.

Das Hinuntersteigen war noch schlimmer als das Hinaufsteigen. Wir mussten viel mehr aufpassen. Ich griff mehrere Male mit den Händen zu dünne und ausbrechende Eisschichten an. Aber am Abend war Pirovano im Zelt ganz glücklich ob dem Gelingen und spielte mit seiner Mundharmonika fröhliche Weisen.

Der 7. Februar war wiederum für uns ein unvergesslicher Tag. In elf Stunden fortwährender wunderbarer und fast akrobatischer Kletterei erstiegen wir alle anderen noch unbestiegenen acht Picos, eine Überschreitung besonderer Art. Oft war ich im Zweifel, ob wir wieder aus der grossen Folge der Abstürze und überaus schweren Übergänge herauskommen könnten! Gegen halb 6 Uhr abends erreichten wir den letzten Gipfel. Da haben wir uns, Pirovano und ich, umarmt! Das Wetter blieb immer prachtvoll. Ein letztes Abseilen über eine dunkle, überhängende Wand brachte uns schon im Abendwerden wieder auf ebenen Boden.

In den nächsten Tagen versuchte ich die Überquerung der ganzen Sierra durch die Chundua, d.h. die « Totberge », wie die Indios sie nennen. Von Majouaca, zwei elenden Hütten auf 3200 m Höhe, stiegen wir mit vier Maultieren und zwei Pferden in die einsamen Hochtäler. Kein Weg war zu sehen, nur Felsen und wieder Felsen. Ich wusste aber, dass oben ein Sattel einen möglichen Durchgang erlaubt. Jeden Augenblick schien es aber, als ob ein Weitergehen unmöglich werde. Doch stiegen wir langsam mit grösster Mühe und Vorsicht immer weiter hinauf. Immer wieder mussten wir den Tieren helfen, damit sie weiterkamen. Ein Pferd mussten wir aber in etwa 4350 m Höhe, da es nicht mehr weiterkonnte, zurücklassen. Nach dem höchsten Sattel stiegen wir schliesslich in einem wüstengleichen Tal ab, um dann einen zweiten, hohen Sattel zu übersteigen. Unglaublich öde war dieses einsamste der Täler! Nur Steine und Felsen! Von da begann endlich ein langer, wieder mühsamer und oft gefährlicher Abstieg in einem dritten Tal, in welchem ich die Quelle des Rio Cataca endlich auffinden konnte: ein ganz enges Bachbett zwischen grünen Steinen! Es war dies die erste Überquerung der Sierra Nevada von Nordosten nach Südwesten.

So wurde meine zweite Sierra-Nevada-Expedition durch das Auffinden des Quellgebietes des Rio Cataca gekrönt, nach dem Auffinden der Quellen der Rios Donachui und Guatapuri. Der Donachui entspringt dem Naboba-See, und dieser ist seinerseits von einem Wasserfall, welcher von drei oberen Seen herunterkommt, genährt Diese drei obersten Seen liegen vor grossen Gletschern zwischen Ojeda I und Reina. Der Naboba-See ist ungefähr auf gleicher Höhe wie die benachbarten Marno- und Mamito-Seen.

Wir haben auch wissenschaftliches Material der Sierra Nevada nach Europa mitgebracht.

( Deutsche Bearbeitung M. Oe. )

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