«Die schönste Zeit meines Lebens» Gschichte us de Chischte
Die Wiesen unterhalb des Selbsanftes färben sich braun. Die Farbe des Limmernsees wird dunkler. Die balzenden Schneehühner sind in Aufregung, und ihr Federkleid verfärbt sich langsam weiss. Die Mäuse bunkern ihr Futter. Der Steinadler schraubt sich seltener in die Höhe. Der Herbst zieht ein. Meine Mutter und ich sitzen neben dem Gipfelkreuz des Muttenbergs, unseres Hausbergs auf knapp 3000 Metern über Meer, und lassen uns von der Abendsonne verwöhnen. Gäste sind heute Abend keine da. Es ist windstill auf dem Gipfel. Die grosse Ausnahme. Ich erkläre meiner Mutter das Panorama. Die Sicht reicht heute von den Vogesen über den Piz Bernina bis nach Italien. «Atemberaubend schön», sinniert meine Mutter. Ich nicke. Sie hilft mir während zweier Wochen aus. Im zarten Alter von 74 Jahren. Bei den schweren Töpfen braucht sie öfters Hilfe. Und nach dem Abendessen schicke ich sie schon mal ins Bett. Die langen Tage zehren an ihren Reserven. Ab und an stupse ich sie gegen das Schienbein, wenn ihre ausschweifenden Erzählungen über meine Jugendjahre nicht enden wollen. «Public Relations», entgegnet sie zwinkernd. Die Gäste lachen. Ich schmunzle. Nach Sonnenuntergang steigen wir den steilen Trampelpfad Richtung Hütte hinab. Die vorgängige Angst meiner Mutter löst sich in Euphorie auf. Sie surft auf dem losen, feinen Schiefer hinab. Und dann liegen sie da. Die Steingeissen. Sie haben sich entspannt auf der Terrasse einquartiert. Sie erheben sich, würdigen uns keines Blicks und ziehen mit ihren hübschen Hinterteilen auf den steilen Bändern davon. Ich lege etwas Holz nach, und wir genehmigen uns ein Glas Sangiovese. Meine Mama guckt mich lange an: «Danke, Maurice, das ist die schönste Zeit meines Lebens.»