Die Rückkehr des Wolfs in die Schweiz: weniger erschreckend als störend
Der Wolf ist in den meisten europäischen Ländern ganz oder teilweise geschützt, seine Bestände in unserm Kontinent nehmen zu; seine Rückkehr in die Schweiz lässt sich voraussehen. Wer könnte das übrigens ignorieren, wird doch in letzter Zeit so häufig vom Wolf gesprochen. Um « das Tier » im Val Ferret haben sich Leidenschaften entzündet und sind Fragen aufgetreten; im September hat in Neuchätel ein viertägiges Symposium von europäischen und nordamerikanischen Spezialisten stattgefunden.
Die Rückkehr des Wolfs erfordert natürlich Feldforschung: Man muss soviel wie möglich über die Gewohnheiten dieses Tieres und seine Démo-graphie lernen, versuchen, seine zukünftigen Wanderungen vorauszusagen und die möglichen Lebensräume abzuschätzen. Eine sehr viel wichtigere Arbeit wird aber in den menschlichen Köpfen und Gemütern zu leisten sein.
Die Wichtigkeit der Information Der Luchs wurde in den siebziger Jahren in aller Stille wieder in die Schweiz zurückgebracht. Dieses verschwiegene Vorgehen hat die Rückkehr des Tieres nicht erleichtert; da es jedoch wenig in Erscheinung tritt, haben die Auseinandersetzungen allmählich aufgehört. Als sich herausstellte, dass der Bär bald - und auf natürliche Weise - zu uns zurückkehren könnte, hat man in der Folge vorsichtshalber sehr frühzeitig informiert. Ebenso verhält es sich mit dem Wolf, dem dritten unserer « historiFriedrich von Tschudi ( 1820-1866 ): Das Thierleben der Alpenwelt. Naturansichten und Thierzelchnungen aus dem schweizerischen Gebirge, Leipzig 1853 ( mehrfach wieder aufgelegt ) diesen nur eine Wolfs- und eine Fuchsart, immerhin noch mehr als genug.»1 Und über den Wolf heisst es bei ihm: « Widerlich und unangenehm in seinen Manieren, gierig, boshaft, verschlagen, mißtrauisch, gehässig in seinem Naturell, [...] Doch verscheucht er durch seinen Gestank und sein tölpisches Wesen oft alles Gethier und lungert beinmager, elend und verkommen viele Nächte lang durch die menschenleeren Felsenödungen. [...] immer hungrig und gierig, schleicht er mit seinen schiefen, funkelnden Augen, die kurzen, spitzen Ohren stets aufgerichtet, den fuchsar-tigen Kopf lauernd nach allen Seiten hinwendend [...] von Berg zu Berg, von Wald zu Wald. » Also gar kein Verständnis für den Wolf. Er war vielleicht das am heftigsten abgelehnte Geschöpf der Welt. « In der Reihe der thierischen Individualitäten nimmt er eine sehr tiefe Stufe ein; selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. Mit dem reißendsten wetteifert er an Heißhunger, der selbst dem schlechtesten Aase gierig nachstellt, an Tücke, Perfidie, während er dabei keine Spur vom Edel-muth des Löwen, von der frischen D Den Wolf in freier Natur zu beobachten ist schwierig. Früher beruhten unsere Kenntnisse vor allem auf Begegnungen mit der toten « Bestie » und den Folgen ihrer Beutezüge.
Die Schweiz hat auch für den freilebenden Wolf Raum, aber das hat, wie jede Wiederherstellung eines einstigen Besitzes, seinen Preis.
Fauna und Flora a a Tapferkeit des Eisbären, vom Humor des Landbären, von der Anhänglichkeit des Hundes hat. Tölpischer als der Fuchs, dabei aber tückisch und höchst mißtrauisch, ist er tollkühn ohne Schlauheit, in seinem ganzen Wesen ohne alle Schönheit und wohl überhaupt eine der häßlichsten Thier-naturen. » Über die Verwandtschaft zwischen Wolf und Hund hatte Tschudi seine eigene Ansicht: « Mit dem Hunde hat er nur körperliche Aehnlichkeit; man kann nicht sagen, er sei der wilde Hund, der Hund im Urzustände; er ist vielmehr der durch und durch verdorbene Hund, das Zerrbild des Hundes, das alle Übeln Seiten der Hundenatur an sich trägt, aber Nichts von den guten, so daß er hierin, da die Natur sonst nicht so häufig in Zerrbildern zeichnet, eine wirklich interessante Erscheinung bildet.»2 Ein weitgehend künstlich erzeugter schlechter Ruf Man hat sich also lange Zeit darin gefallen, die Grausamkeit und Feigheit des Wolfs zu verurteilen, statt seine grosse Scheu gegenüber dem Menschen anzuerkennen. Tatsächlich sprechen die Chroniken meist nur von einer etwas beunruhigenden Nähe, gelegentlich von einigen unangenehmen Begegnungen, bei denen der Mensch aber mit dem Schrecken davongekommen war. Die Bewohner südeuropäischer Länder, in denen der Wolf heute noch lebt, berichten auch nichts anderes!3 In der Schweiz hat es nur sehr wenige tragische Zwischenfälle gegeben, die aber unendlich oft weiterberichtet wurden: von Zeit zu Zeit ein Angriff auf einen jungen Schäfer oder - wie 1672 im Kanton Neuenburg - die Verfolgung eines tollwütigen Wolfs, der vierundzwanzig Personen attackierte. Aber im Endergebnis haben die Wölfe ganz bestimmt weniger Menschen getötet als Wespen oder Pferde! Tschudi schreibt von den letzten Wölfen: « Menschen hat er im letzten Jahrhundert in der Schweiz kaum angegriffen; er flieht sie vielmehr und ist sehr feig, wenn ihn nicht der bittere Hunger halb rasend macht oder schwere Verwundung zur Nothwehr reizt. » 2 Das Werk von Tschudi erschien einige Jahre vor der 1859 veröffentlichten Theorie von Charles Darwin über Artbildung und Artum-wandlung.
3 Das gilt sowohl für Italien ( 400 Wölfe ) als auch für die Iberische Halbinsel ( zwischen 1500 und 2000 Wölfe ) oder Rumänien ( 2500 Wölfe ).
Kurze Begegnung mit einem alten und einem jungen Wolf in den Abruzzen ( Italien ) derts geschrieben ist, legt nahe, dass man die Angst vor dem Wolf stärker vorspiegelte als wirklich empfand. Dass man diese Angst auch ausnutzte, um Macht zu gewinnen, Ansehen -und Prämien! So wurde über das Torfmoor von Ponts-de-Martel berichtet: « Dieses Moor, das während des Sommers das kleine Tal zu verschandeln scheint, bietet im Winter den Bewohnern der benachbarten Dörfer eine sehr schöne Abwechslung. Sobald es vom Schnee bedeckt ist, beeilen sie sich, auf die Wölfe, die sich dort sammeln, Jagd zu machen, und verfehlen nicht, mehrere zu töten. » Die Fortsetzung klingt wie eine Lobrede auf äusserste Wohlanständigkeit: « Der Mut, mit dem sich [diese Leute] den mit einem derartigen Unternehmen untrennbar verbundenen Gefahren und Anstrengungen aussetzen, beweist, dass eine solche noble Seelenhaltung nicht unvereinbar ist mit den friedlichen Tätigkeiten, die ihre alltägliche Beschäftigung sind. » Die grosse Rehabilitierung Wenn der Wolf auch in einigen Ländern weiterhin im Visier bleibt, so ist er doch heute in Europa recht Und etwas weiter: « Wir kennen kaum ein Beispiel, daß er, selbst angeschossen, auf den Jäger gegangen wäre, wie der Bär häufig thut; es scheint vielmehr, dass ihn nur der rasendste Hunger zum Angriff auf Menschen treibe, und daß er weit feiger als der Luchs und selbst als die wilde Katze sei. » Hunger war für den Wolf tatsächlich ein Grund, aus dem Wald zu kommen. Es muss gesagt sein, dass die Menschen an der bedrängenden Nachbarschaft der Wölfe durchaus nicht unschuldig waren, nicht allein, weil ihr weit verstreutes Vieh dem Wolf leichte Beute bot, sondern auch, weil durch ihr Verhalten das pflanzenfressende Wild nach und nach aus den Ländereien verschwunden war. Und - das ist noch schrecklicher - hatten sie nicht oft die Wolfsrudel durch die auf den Schlachtfeldern gebliebenen Toten angelockt? Viele Naturforscher haben von den Wölfen gesprochen, die den Armeen folgten und sich von den im Kampf gefallenen Unglücklichen nährten ( man vermutete, die Wölfe würden so Geschmack am menschlichen Fleisch finden und später Frauen, Kinder und Greise anfallen ).
Der leichte Ton, in dem eine Neuenburger Chronik des 18 Jahrhun- Ein Wolfsrudel im Frühling im Parco Nazionale d' Abruzzo ( Italien ): Abgesehen von einigen Tieren, die weitgehend geschützt. Die Populationen wachsen und breiten sich aus: von Russland ( dort leben vielleicht 100 000 Wölfe ) in Richtung auf Skandinavien ( ungefähr 100 Tiere ), von Polen ( 500 Individuen ) auf Deutschland zu ( die wenigen dort gezählten Wölfe sind die ersten seit den fünfziger Jahren ).
In der Schweiz kommen drei Grenzen in Frage: Der Wolf könnte, über das Tessin, von Italien ( 100 Wölfe im Jahr 1971, heute 400 ) einwandern. Die Tiere könnten auch von Frankreich her über den Grand-Saint-Ber-nard kommen. Italienische Wölfe haben sich tatsächlich bereits 1992 im Parc national du Mercantour ( Dép. Alpes-Maritimes und Alpes-de-Haute-Provence ) angesiedelt ( zur Zeit etwa zehn Tiere ). Der Wolf könnte aber auch aus Kroatien ( rund zwanzig Tiere ) über Slowenien ( etwa zehn ) oder auch Italien in Graubünden eindringen.
Hat das Val Ferret einen ersten Besuch erlebt? Das letzte bekannte Auftauchen des Tieres in der Schweiz geht auf das Jahr 1947 zurück, als ein Wolf in Eischoll ( Wallis ) nach monatelanger Jagd von einem Wilderer erlegt wurde.4 Schliesslich könnte man sich auch eine Wanderung des Wolfs zum Jura, dessen südlichste Spitze durchaus nicht zu weit vom Mercantour entfernt ist, vorstellen. In den dreissiger Jahren ist der Wolf im französischen Teil des Jura aufgetreten.
Dem Wolf wieder Raum geben Jede Wiedereinbürgerung einer Wildtierart setzt einen Lebensraum voraus. Der italienische Biologe Luigi Boitani, der die Verbreitung des Wolfs von den Abruzzen her vorausgesehen und verfolgt hat, konnte sich aufgrund von Faktoren wie Dichte der menschlichen Besiedlung, Dichte des Strassennetzes ( ist nur bei hoher Bevölkerungsdichte entscheidend ) und auch Nahrungsangebot eine Vorstellung bilden. Zunächst die natürlichen Ernährungsgrundlagen: Der Wolf ist in der Lage, die Bestände an wildlebenden Paarhufern zu nutzen. Seine Vorliebe gilt den grossen Cerviden, Elch und Hirsch, er kann sich aber auch mit Rehen oder kleinem Wild zufrieden geben, wenn es an grossen Beutetieren fehlt. Manchmal zeigen Wölfe lokale Eigenheiten: Es gibt Beispiele, dass Wildschweine erbeutet wurden, Tiere, denen der Wolf sonst aus dem Weg geht. Aber auch unsere Abfalldepots ( legal oder illegal ) sind bei den Wölfen beliebt und auch - wer könnte das übersehen - unser Vieh in jenen Regionen, in denen seine Zahl die der Wildtiere bei weitem übersteigt.
In den Abruzzen haben die Wölfe in jenen Gebieten überlebt, in denen die Bevölkerungsdichte und die Nutzung des Landes durch den Menschen mit den Verhältnissen im Wallis, im Tessin und in Graubünden vergleichbar ist. Das Zusammenleben mit dem Raubtier ist ein Problem, das vor allem die Tierhalter betrifft, die eine sehr viel stärkere Überwachung ihrer Herden organisieren müssen. Sie nehmen dabei besondere Hütehunde zu Hilfe und treiben ihre Tiere jeden Abend zusammen. Luigi Boitani 4 Wenn man das aus der Gefangenschaft stammende Tier, das 1990 auf Solothurner Boden erlegt wurde, nicht berücksichtigt.
sich abseits halten, bleibt das Rudel ziemlich zusammen.
betont jedoch, dass die Verhältnisse sehr verschieden sein können. Was in einem Land, in einer Region möglich ist, funktioniert nicht zwangsweise auch andernorts. So haben sich im Mercantour, in dem sich Wölfe wieder angesiedelt haben, die Besitzer grosser Herden schnell den neuen Verhältnissen angepasst. In den Schweizer Alpen, wo 67 000 Schafe, die 2000 Züchtern gehören, in einem Gelände mit verhältnismässig kleinräumigem Relief bei minimaler Überwachung übersömmern, scheinen die Umstellungen auf den ersten Blick schwieriger und folglich kostspieliger. Die Zahlung einer Entschädigung ist zwar vorgesehen, aber die praktische Durchführung wird Probleme bieten. Es wird nicht leicht sein, zwischen den Opfern von Wölfen und von wildernden Hunden zu unterscheiden. Und ausserdem setzt man die Tiere, die man aufzieht, nicht leichten Herzens der Gefahr aus. Natürlich ist nichts unmöglich, aber es wird Anstrengungen und Geld kosten. Die einigen Dutzende Wölfe, die - als Paare oder kleine Gruppen - auf helvetischem Gebiet eine Lebensmöglichkeit finden können, werden kaum Mühe haben, in den Alpentälern ihren Weg zu finden. In den Labyrinthen der Buchhal-tungen könnte das Problem grosser werden. Es wird interessant sein, die weitere Entwicklung zu verfolgen.
Jean-Luc Renck, La Chaux-de-Fonds ( ü