Die neuen «erfahrenen Bergwanderer» Eine wiederentdeckte Spielart des Alpinismus
Alpinwandern: Ein neuer Begriff macht Schule. Gleichzeitig verliert die damit umschriebene Tätigkeit ihr lange verstaubtes Image: Immer mehr Anhänger, darunter auffallend viele junge Berggänger, erfreuen sich am Kraxeln über Schrofen und am Begehen steiler Grasflanken.
Beim Pass oberhalb von Tissiniva in den Freiburger Voralpen verlassen wir den Wanderweg und steuern auf die Grasflanke zu, die sich allmählich aufrichtet und von Felsen durchsetzt ist. Vor uns sind schon zwei Einheimische unterwegs. Wir steigen Richtung Gipfel, mal gemeinsam, dann wieder jeder für sich. Zwar würden uns einzelne Steinmännchen und blasse Markierungen eine mögliche Route anzeigen, lieber suchen wir uns aber einen eigenen Weg. Weiter oben versperrt kompakter Fels den Zugang zum Gipfel, mit wenigen Kletterzügen im 1. Grad ist er aber rasch überwunden. Auf dem Gipfelgrat begrüsst uns die Sonne, und bald darauf stehen wir zuoberst auf der Dent de Brenleire. Der SAC-Clubführer der Préalpes fribourgeoises aus dem Jahr 1991 bezeichnet unseren Aufstieg über den Nordwestgrat als « le plus bel itinéraire » am Berg. Und bewertet ihn nach der damals üblichen Skala mit PE ( « Piéton ex-perimenté » ), auf Deutsch EB ( « erfahrener Bergwanderer » ). Auf meiner Karte notiere ich: T5.
Vom Gipfel gehts auf einer schwach ausgetretenen Spur über den Südwestgrat zum Col d' Entre Roches hinunter. Das Gelände ist ähnlich: abschüssig, viel Gras, dazwischen kurze Kraxelpassagen. Auch hier spricht der Clubführer von PE, auch hier notiere ich T5. Unsere Tour führt nun zur Dent de Folliéran. Es geht also wieder in die Höhe, auf vergleichbarem Gelände, nur eine Spur luftiger, steiler und schwieriger, bis zum zweiten Gipfel des Tages. Und von dort über den Südwestgrat runter. Aufstieg wie Abstieg scheinen mir um T6– zu sein, während der Clubführer sie mit F ( « facile » ), also L ( « leicht » ), der niedrigsten Stufe der Hochtourenskala, taxiert.
Alpinwandern – eine neue Bezeichnung
Selbstverständlich sprengt eine Besteigung der Dent de Brenleire und seines Zwillingsbergs Dent de Folliéran den Rahmen dessen, was man gemeinhin unter Wandern versteht. Doch die beiden Aufstiege sind auch bei bestem Willen keine Hochtouren. Was macht man denn, wenn man auf solchen Routen unterwegs ist: Wandern? Klettern? Bergsteigen?
Die einzelnen Felspassagen könnten dazu verleiten, die Tätigkeit als Klettern zu verstehen. Aber Klettern ist in aller Regel mit Seilsicherung verbunden, verläuft mehrheitlich über Fels und begnügt sich selten mit Maximalschwierig-keiten im 2. Grad.
Also Bergsteigen? Das wäre schon ein bisschen treffender. Da die Bezeichnung Bergtour allerdings oft mit Hochtour gleichgesetzt wird, wie dies auch die Hochtourenskala tut, wären Missverständnisse vorprogrammiert: Die abschüssige, heikle, durch Absturzgelände führende Route auf die Dent de Folliéran kann einfach nicht als « L », leichte Bergtour, bezeichnet und damit mit einer Wandern im anspruchsvollen Gelände wie hier am Vanil Noir wird immer beliebter. Foto: Mar co Volken völlig unausgesetzten Normalroute auf Gipfel wie jene von Les Diablerets, Wildstrubel oder Rheinwaldhorn gleichgesetzt werden.
Am ehesten handelt es sich um eine Form fortgeschrittenen Wanderns, bei der ab und zu die Hände zum Einsatz kommen. Die 2001 vom SAC lancierte Wanderskala ( ALPEN 4/2002 ) wählte für den Schwierigkeitsbereich ab T4 die Bezeichnung « Alpinwandern », die sich seither ziemlich gut etablieren konnte. Der Begriff unterstreicht den alpinen oder alpinistischen Charakter einer Tour, erinnert aber auch daran, dass man es auf derartigen Unternehmungen trotz eingestreuten technischen Schwierigkeiten die meiste Zeit mit Gehgelände zu tun hat.
Alpinwandern – eine wieder entdeckte Tätigkeit
Ganz offensichtlich erlebt das Alpinwan-derterrain, diese einstige Domäne der Wildheuer, Jäger, Strahler, Hirten, Schmuggler und « altmodischen » Berggänger, eine erstaunliche Renaissance, nicht zuletzt bei den jüngeren Generationen. Aber was fasziniert an dieser Mischung aus steilen Grashalden, Schrofen und leichten Kletterstellen, die Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, Orientierungssinn und Gespür für die Route verlangt?
Mit vielen herkömmlichen Wanderungen gemein hat das Alpinwandern die Möglichkeit, dem Rummel der Viertausender und der Klettergärten zu entkommen. Es erfordert auch keine teure, kompliziert zu handhabende Ausrüstung. Ähnlich wie das normale Wandern kann Alpinwandern im Alleingang praktiziert werden, und das Gelände ermöglicht oft eine spielerische Freiheit bei der Routenwahl, die in technisch schwierigerem Gelände selten gegeben ist.
Mit dem Klettern verwandt sind die Freude am Überwinden von Graten und Flanken, die auf den ersten Blick kein Durchkommen ermöglichen, sowie der Spass an der eigenen körperlichen Geschicklichkeit. Eher dem klassischen Bergsteigen mittlerer Schwierigkeitsgrade entlehnt ist dagegen das Engagement, also die Ernsthaftigkeit und mentale Beanspruchung einer Tour, sowie der Kitzel der gähnenden Leere unter den Schuhsohlen; und die Herausforderung der richtigen Routenfindung. Bei selten begangenen und möglicherweise nirgends beschriebenen Routen gesellt sich noch ein bisschen Erstbegehergefühl hinzu.
Auch in steilem Grasgelände kann der Pickel nützlich sein. Auf jeden Fall benötigt man auf den abgebildeten Passagen an der Dent de Brenleire sehr gute Trittsicherheit. Die Schwierigkeit ist T5.
Alpinwandern – nur für erfahrene Berggänger
T5 und T6 bezeichnen das schwierigste Gehgelände. Da es sich sehr oft um Schrofengelände, steile Wiesen- und Geröllhänge oder brüchige Grate handelt, ist eine Selbstsicherung selten möglich. In ganz steilem Gras können manchmal Pickel oder Steigeisen eingesetzt werden. Ein Fehltritt hat aber häufig sehr ernste Konsequenzen. Al-pinwandernde, die in diesen Schwierigkeitsgraden unterwegs sein wollen, müssen daher über Schwindelfreiheit, eine ausgeprägte Trittsicherheit, einen guten Orientierungssinn und ein Gespür für die richtige Routenwahl verfügen. In Steinschlag gefährdetem Gelände empfiehlt sich das Tragen eines Helmes.
Ob Dent de Folliéran oder Grand Muveran, Bortelhorn oder Gross Lohner, Schächentaler Windgällen oder Bös Fulen, Piz Linard oder Corona di Redòrta: Die Zahl klassischer, begehrter Gipfel im Alpinwanderbereich ist lang. Und sie werden heute tendenziell auch wieder öfter besucht als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Es gibt aber auch Alpinwanderer, die sich nicht mit solchen Normalrouten begnügen, sondern « exotischere » Ziele bevorzugen, ohne jegliche Routeninformation Grate und Flanken ausprobieren oder gar konsequent Neuland suchen. Und Neuland gibt es in diesem Bereich noch viel.
Alpinwandern – ein touristischer Trend
Ein Spezialfall des Alpinwanderns sind die weiss-blau-weiss markierten Pfade, sogenannte Alpinwanderwege. Die erste Route, die mit dieser Farbkombination gekennzeichnet wurde, war die Verbindung der Bergeller SAC-Hütten im Jahr 1991. Bald folgten weitere ähnliche Markierungen – darunter die Via Alta della Verzasca, die vielleicht erste grosse Neuerschliessung im Bereich des schwierigen Wanderns und heute ein bis über die Landesgrenze hinaus bekannter « Extremwanderklassiker ».
Um von diesem Trend zu profitieren, markieren und installieren Bergbahn-betreiber, Verkehrsvereine und Hüttenwarte immer mehr derartige Routen und helfen so, das Interesse fürs Alpinwandern zu fördern. Üppige Markierungen und Absicherungen mindern aber gleichzeitig die Unversehrtheit einer Tour und das für sie notwendige Engagement, zwei der wesentlichen Motivationen vieler Alpinwanderer. Deshalb sind bei der ( Neu-)Erschliessung von Routen Augenmass und Zurückhaltung besonders wichtig.
Naturnahes, abenteuerliches Alpinwandergelände wird der Schweiz aber nicht so schnell ausgehen. Wer Tourentipps sucht, kann sich im Internet umschauen, etwa bei www.hikr.org, der diesbezüglich umfassendsten Website der Schweiz. Oder die einschlägige Literatur zurate ziehen, die SAC-Alpinwan-derführer und die « traditionellen », umfassenden Clubführer, vorzugsweise aus einem nicht allzu hochalpinen Gebiet. Da wird man steiles Gras und anspruchsvolle Schrofen für ein ganzes Leben finden. a Marco Volken, Zürich Eine Motivation für das Alpinwandern ist das Überwinden von Graten wie hier an der Dent de Brenleire, die eine gewisse körperliche Geschicklichkeit verlangen.