Die liebste Nascherei der alpinen Dorfjugend
Die Menschen haben schon früher gerne genascht. Bloss waren Süssigkeiten für viele Familien zu teuer. Man bediente sich deshalb der Natur. Arvennüsschen rösten und knacken war ein beliebter Zeitvertreib an langen Winterabenden.
Karl Kasthofer, Forstmeister und Berner Regierungsrat, sorgte sich im 19. Jahrhundert um den Fortbestand der Arve. Verjüngungsversuche würden immer wieder daran scheitern, dass die Dorfjugend die gesäten Samen des Nadelbaums aus der Erde klaube und verspeise, notierte er während einer seiner Reisen durch die Alpen. Die kleinen, kalorienreichen Kerne waren in Zeiten, in denen sich Bergfamilien noch kaum Schokolade leisten konnten, eine beliebte Nascherei; insbesondere in den langen Wintermonaten, da sie sich gut aufbewahren liessen.
An Herbstsonntagen liefen Bewohnerinnen und Bewohner aus den Bündner, Walliser und Berner Bergtälern oft in Scharen in die Wälder, um Arvenzapfen zu sammeln. Entweder hoben sie die Zapfen direkt vom Boden auf, oder sie schlugen sie mit einem langen Stock von den Ästen herab. Mutige kletterten sogar auf einer Leiter in die Baumwipfel hoch. Überliefert ist, dass dabei auch hin und wieder jemand herunterfiel und sich ein Bein brach.
Im Feuer geröstet
Weil die Zapfen nach der Ernte noch harzig waren, wickelte man sie für mehrere Wochen in Heu. Dadurch löste sich nicht nur das Harz, sondern die Samen nahmen auch die Würze von Alpenkräutern an. Manche Familien lagerten die Zapfen zum Nachreifen in ihren Speichern oder Kellern. So öffneten sich die Zapfenschuppen, und die Nüsse fielen fast von allein heraus. An Sonntagnachmittagen oder Winterabenden warf man sie zum Rösten ins Feuer und knackte zum Zeitvertreib eine Nuss nach der anderen mit den Zähnen auf und verspeiste die Sämchen.
Das oft zitierte Gerücht, dass die Engadiner Nusstorte ursprünglich mit Arvensamen statt Baumnüssen gebacken wurde, scheint übrigens dem Reich der Märchen entsprungen zu sein: Weder alte Rezeptbücher noch historische Mitschriften geben einen Hinweis darauf. Und auch die Tüfteleien eines in Lavin heimischen Bäckers, der eine Arvennusstorte nachbacken wollte, deuten nicht auf diese ursprüngliche Verwendung hin: «Die Nüsse sind zu weich und verlieren in der Karamellmasse ihren Biss», erklärt der Bäcker Arthur Thoma. Auch der harzige Geschmack passe nicht so richtig zum Mürbeteig der Nusstorte. Inspiriert von seinen Versuchen, kreierte er stattdessen eine neue Leckerei: Haferkekse mit Arvensamen. Das Rezept soll aber Familiengeheimnis bleiben.