«Die Lage ist schlimmer als nach dem Erdbeben»
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

«Die Lage ist schlimmer als nach dem Erdbeben» Die Coronapandemie löste in Nepal eine Krise aus

Als im Mai die Infektionszahlen in Nepal sprungartig anstiegen, bedeutete das für mehrere Expeditionen das Aus. Doch das eigentliche Problem ist die katastrophale gesundheitliche und soziale Versorgung der Bevölkerung. Ein Interview mit Billi Bierling, der Leiterin der Himalayan Database.

Billi Bierling, warum wurde Nepal von der zweiten Welle der Coronapandemie so hart getroffen?

Nepal kam in der ersten Welle relativ gut weg und hatte wenig Todesopfer zu beklagen. Ich erklärte mir das auch mit der Altersstruktur: Die Menschen werden dort kaum älter als 65, die Risikogruppe der älteren Menschen ist deshalb nicht so gross. Als sich dann in Indien eine Mutation ausbreitete, von der auch Jüngere stark betroffen sind, stoppten die Golfstaaten die Flüge aus Indien. Viele Inderinnen und Inder, die in den Golfstaaten arbeiten, wichen über Nepal aus, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. So kam das Virus nach Nepal, und die nepalesische Regierung reagierte zu langsam. Die angeordnete Quarantäne fand nur theoretisch statt. Im Nu war das Gesundheitssystem am Limit, die Spitäler konnten keine Patienten mehr aufnehmen, denn es gab nicht genug Sauerstoff für die Erkrankten.

Die Schweizerin Sophie Lavaud war nach Nepal gereist, um mit dem Dhaulagiri ihren zwölften Achttausender zu besteigen. Auch sie infizierte sich und musste ihre Expedition abbrechen. Wie wichtig ist das Bergsteigen angesichts einer potenziell tödlichen Pandemie?

In meinen Augen hätte die Regierung früher eingreifen müssen. Doch in der ersten Maiwoche flog die Tourismusdirektorin mit dem Helikopter ins Everest-Basislager und erklärte, dass die Regierung die Saison nicht abbrechen werde. Dahinter steckten vermutlich finanzielle Gründe: Man wollte verhindern, dass die Genehmigungen ins nächste Jahr verlängert werden müssen. Am Everest nimmt die Regierung für das Permit pro Person 11 000 Dollar ein, bei rekordhohen 410 Bewilligungen in diesem Frühjahr sind das rund viereinhalb Millionen Dollar. Ausserdem hängen die Arbeitsplätze der Sherpas von den Expeditionen ab.

Auch die Expeditionsleiter hätten entscheiden können, ihre Besteigungen abzubrechen.

Ich weiss bislang nur von zwei Anbietern und ein paar Einzelpersonen, die ihre Expeditionen wegen Covid-19 beendet haben. Aber ich verurteile niemanden – ich weiss selbst nicht, wie ich mich gefühlt hätte, wäre ich kurz vor einem Gipfelversuch gestanden. Was vielen Höhenbergsteigerinnen und -bergsteigern aber nicht bewusst war: Bei einem Notfall, einer Erfrierung oder einer Höhenkrankheit wäre in Kathmandu im Gegensatz zu früher keine medizinische Versorgung zu bekommen gewesen. Und schnell heimfliegen ging auch nicht: Ab dem 5. Mai waren wochenlang alle internationalen Flüge ausgesetzt.

Kritik wurde vor allem auch daran geübt, dass die Expeditionen Flaschensauerstoff für ihre Teilnehmer lagerten, während den Spitälern der Sauerstoff zum Beatmen ausging.

Im Basislager lagen sicherlich 3000 bis 4000 Sauerstoffflaschen bereit. Aber da geht es eher um die Symbolik: An den Achttausendern werden kleine Sauerstoffzylinder verwendet, die bei einer medizinischen Behandlung viel zu schnell leer sind. Ich fand es eher befremdlich, dass man in den sozialen Medien verfolgen konnte, wie im Basislager Partys gefeiert wurden, ohne Masken, ohne Abstand. Selbst wenn der Abbruch der Expeditionen keine Leben gerettet hätte – es fühlte sich trotzdem komisch an, dass andere den Everest bestiegen, während der Rest des Landes mit der Pandemie kämpft. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Bedingungen zu Beginn der Saison so stabil erschienen, dass Optimismus berechtigt war.

Nach Angaben des Sagarmatha-Nationalparks sind die Besucherzahlen im Khumbutal von 60 000 in einem durchschnittlichen Jahr auf 50 im Jahr 2021 eingebrochen.

Die Trekkerinnen und Trekker blieben mehr oder weniger komplett aus. Ich habe im Khumbu einige Individualtrekker getroffen und eine einzige Trekkinggruppe aus Spanien. Der Trekkingtourismus ist aber als Einnahmequelle für die Bevölkerung viel bedeutender als der Expeditionstourismus. Das machte sich auch in Kathmandu bemerkbar: Das Touristenviertel Thamel und die Hotels waren leer. In meinen Augen ist die Lage aus ökonomischen Gründen schlimmer als nach dem Erdbeben 2015. Damals haben viele Leute viel verloren, aber jetzt betrifft es erheblich mehr Menschen. Ganz abgesehen von den zahlreichen Todesopfern: Es gibt in Nepal kein soziales Netz. Wer nicht arbeiten kann, weil er krank ist oder wegen des Lockdowns, hat kein Geld. In Thamel wurden so viele Geschäfte, so viele Restaurants, so viele Trekkingagenturen geschlossen. Sie werden wahrscheinlich auch nicht mehr öffnen.

Das Schweizer Aussendepartement reagierte auf den Hilfsappell der nepalesischen Behörden und flog am 21. Mai Beatmungsgeräte, Test- und Schutzmaterial nach Kathmandu. Was braucht Nepal sonst?

In der gegenwärtigen Lage ist medizinische Unterstützung hochwillkommen. Am wichtigsten wären aber Impfstoffe. Nachdem in Indien die Infektionszahlen so stark gestiegen waren, wurden die Lieferungen ins Nachbarland Nepal eingestellt. Die Covid Alliance for Nepal, eine Gruppe von Einzelpersonen und Organisationen zur Bewältigung der aktuellen Krise, rief daraufhin eine Petition ins Leben. Sie fordert, dass Nepal mit Impfstoffen versorgt wird, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Wir können uns da nur an die eigene Nase fassen: Jedes Land will zuerst seine eigenen Bürgerinnen und Bürger schützen. Nepal braucht aber auch den Tourismus, um wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Leider wird es noch eine Zeit dauern, bis erneut Touristen kommen. Ich befürchte, nach den Erfahrungen im Frühjahr wird die diesjährige Herbstsaison ausfallen.

Billi Bierling

Die Übersetzerin und freie Journalistin Billi Bierling wuchs in Garmisch-Partenkirchen in Bayern auf. Als 30-Jährige reiste sie zum ersten Mal nach Nepal und kehrte fasziniert von diesem Land, seinen Menschen und den hohen Bergen des Himalaya nach England zurück, wo sie inzwischen lebte. Nach regelmässigen Besuchen in Nepal entschloss sie sich 2004, zeitweise nach Kathmandu überzusiedeln, um die Expeditionschronistin Elizabeth Hawley zu unterstützen. 2016 trat sie deren Nachfolge bei der Himalayan Database an.

Schreibtischtäterin ist sie jedoch nicht: Bierling hat sechs Achttausender bestiegen, drei davon ohne künstlichen Sauerstoff. Nepal ist inzwischen zur zweiten Heimat der 54-Jährigen geworden. Normalerweise verbringt sie rund fünf Monate im Jahr dort, um im Frühjahr und im Herbst die an- und abreisenden Expeditionsgruppen zu interviewen. In der übrigen Zeit arbeitet sie als Kommunikationsexpertin für die Humanitäre Hilfe der Schweiz in Bern oder für die Vereinten Nationen. In dieser Tätigkeit hat sie Auslandseinsätze in Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan und in der Ukraine geleistet und nach dem Erdbeben 2015 auch in Nepal. Aufgrund der Coronapandemie war sie letztes Jahr zum ersten Mal seit 2004 kein einziges Mal in Nepal; im März 2021 reiste sie schliesslich wieder hin.

Feedback