Die Jungfrau von Nordosten
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Die Jungfrau von Nordosten

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Die Jungfrau von Nordosten

von Hans Lauper.

Kurz nach 2 Uhr waren wir marschbereit, ergriffen die Pickel und die Laternen und traten hinaus vor die Guggihütte. Dunkle Wolken trieben am Himmel. Eine Weile ragten die Berge finster und drohend empor, dann wurde der Mond frei, und die Eisabbrüche des Kühlauenengletschers schimmerten hell und weiss. In einer Wolkenlichtung flackerten ein paar Sterne.Von neuem verhüllten die Wolken den Mond, und wie ein Mantel legte sich das Dunkel wieder über die Berge.

Noch waren die Glieder steif, und zögernd und ungelenk querten wir hinter der Hütte hinüber zum schluchtartigen Riss. Eng aufgeschlossen turnten wir hinab, ängstlich darauf bedacht, keine Steine zu lösen. Die Flüche und Verwünschungen vom richtigen Wege abgekommener Bergsteiger müssen in dieser Schlucht herumgeistern, dachte ich, als wir endlich und auch nicht ohne Irrgänge das grosse Schuttband erreichten, auf welchem eine deutliche Pfadspur den Weg weist. Da jetzt der Mond taghell leuchtete und die Laterne überflüssig machte, steckten wir das brennende Kerzenstümpchen in eine Nische zwischen zwei Felsblöcke, wo es noch lange einsam in der finstern Kluft flackerte. « Das ist für die armen Seelen », sagte Joseph Knubel, als er das Seil in Schlaufen aufnahm. Dann folgten wir Zürcher und Graven nach, die schon im Begriffe waren, zum Guggigletscher hinabzusteigen. Die letzten Felsen, die uns vom Gletscher trennten, waren feucht und schlüpfrig, und die Tritte und Griffe sind klein und spärlich. Wir alle waren froh, als wir vereint auf dem Gletscher standen, und nahmen auch unserseits mit ein paar kräftigen Verwünschungen von diesem Wegstück Abschied.

Der Schnee auf dem Gletscher trug schlecht, und wir brachen oft durch. Die Hitze der vergangenen Tage hatte allerhand Veränderungen im Eisbruch hervorgerufen. Von der guten Spur, in der wir noch vor zehn Tagen fast mühelos emporgestiegen, war heute nichts mehr zu sehen, und da und dort hatten sich Schrunde geöffnet. Ihre schwarzen Klüfte und die drohenden Eistürme über uns sahen im Wechsel von Mondlicht und Wolkenschatten oft geradezu unheimlich aus. Aber unentwegt bahnte Graven uns einen Weg zur Höhe. Bald trennten uns nur noch einige riesige Spalten von der ebenen Firnfläche am Fusse des Schneehorns. Noch ein paar kühne Sprünge von einem Eisblock zum andern, noch eine letzte verdächtig schwache Schneebrücke, und wir hatten den Gletscherboden erreicht und konnten nun ohne weitere Hindernisse gegen die Schneehornfelsen ansteigen. Der Bergschrund an ihrem Fusse war ebenfalls rasch überwunden. Knubel begann sogleich über die ersten Felsen zu klettern. Wenn man erst richtig Fuss gefasst hat, so sind diese Felsen gutgriffig und fest. In flottem Tempo stiegen wir immer links haltend hinan. Schon war die steile Schneekehle erreicht, die zum Sattel zwischen dem Schneehorn und dem Ostgrat der Jungfrau hinaufführt. Ein paar Stufen noch, dann schwangen wir uns über die Firnkante und standen auf dem flachen Sattel.

« Das ging flink, diesmal », lachte Knubel, als wir die Säcke abwarfen und uns zur Rast niederliessen. « Ja, und seht, jetzt bat auch der Wind gedreht, jetzt werden wir doch noch einen schönen. Tag bekommen. " Und wirklich, jetzt wehte ein kühler Wind von Norden, der in kurzer Zeit den ganzen Himmel blank fegte.Spitz und schlank stand der Eiger gegen den fahlen Himmel, breit und wuchtig der Mönch. Eine graue Wolke hing noch an seinem Gipfel, und eben jetzt färbte die aufgehende Sonne ihre Ränder goldig. Über das obere Mönchjoch flutete das Sonnenlicht wie durch ein offenes Tor. Tief unter uns lag der düstere Kessel des Guggi, und vor uns ragten in makellosem Weiss die feingeschwungenen Grate der Silberhörner in den blauen Himmel. Eine jähe Wand stieg die Flanke zur Linken auf, gekrönt von den wilden Türmen des Ostgrates. Und da drüben zur Rechten standen Vorberge grau und grün, dort weit draussen leuchtete die Fläch« Thunersees.

Es war nicht das erstemal, dass ich im Schneehornsattel stand, aber von neuem entzückte mich die Schönheit dieses Bildes, dessen grosser Reiz in der Einsamkeit und Weltentrücktheit diesen Landschaft liegt.

Jetzt erschienen auch mein Freund und Graven, die sich beide für den Aufstieg über die Schneehornfelsen etwas mehr Zeit gegönt hatten. Nach einer halbstündigen Rast schnallten wir die Steigeisen an, verliessen kurz nach 6 Uhr die klassische Guggiroute und wandten uns in südöstlicher Richtung gegen Punkt 3788 des Jungfrauostgrates.

Über den beinharten Firn gelangten wir rasch zum Bergschrund. Er war leichter zu überwinden, als wir geglaubt hatte. Ein paar Schritte über lose Felsen brachten uns auf eine kleine Schulter. Steil und hoch schwang sich die Flanke auf, aber der Schnee, der eben im Begriffe war, sich in Eis zu verwandeln, bot dem steigeisenbewehrten Fuss doch genügend Halt. Mehr aus Rücksicht auf die « Herren » als aus Notwendigkeit schürfte Joseph von Zeit zu Zeit ein paar Stufen « Heute brauchen wir wohl keine acht Stunden wie Fischer mit seinen Führern vor mehr als zwanzig Jahren. » « Nein, sicher nicht, und die Felsen am Grat sehen auch nicht so schlimm aus » Im Zickzack stiegen wir rasch an. Nach einer Stunde schon lag der grössere Teil des Hanges hinter uns, und begannen unter Felsen des Gratturmes P. 3788 nach rechts hin zu queren, gegen eine kleine Scharte im Ostgrat. Das war recht heikel aber nicht sehr schwierig, und eine Stunde 40 Mi- nuten nach Verlassen des Schneehorns sassen wir frohlockend in der Gratscharte und legten die Steigeisen ab. Wir waren alle in Stimmung und brachten nicht die Ruhe zu einer längern Rast auf. Wie ein riesiges Bollwerk schwang sich der nächste Gratturm vor uns auf, eine rassige Kletterei versprechend. Da gab es kein Halten, schon schwang Joseph seinen Sack über die Schultern, steckte den Pickel in die Seilschlaufe und griff den Fels. Bald über die Kante, dann wieder ein wenig unterhalb in der Nordflanke queren aber immer in anregender mittelschwerer Kletterei arbeiteten wir uns in die Höhe.

Die zahlreichen Grattürme waren jeweilen in ihrem untern Teil recht steil und die Felsen arm an Griffen, die Gratkante schmal und die Abstürze beiderseits erschreckend steil und hoch. Das war ein luftiges, frohes Wandern.

Schon betraten wir den mittleren Gratturm, ein eigentlicher Gipfel ( zirka 3900 m hoch ), von welchem der Grat nach Südwesten abbiegt. Ein langer Firngrat, dessen Wächten teilweise weit über die Abstürze hinausragten, trennte uns vom nächsten Felsturm. Wir verlängerten das Seil, und während ich sicherte, stieg Joseph äusserst vorsichtig aber rasch hinüber. Als eine Wächte ihn zwang, auf die Südflanke hinüber zu wechseln, folgte ich am straff gespannten Seil nach.

Mein Freund war mit Graven etwas zurückgeblieben, weil er verschiedene Aufnahmen gemacht hatte. Jetzt rief er uns zu und forderte uns auf, einen Halt zu machen. Nur ungern gehorchte ich. Das Gefühl der Verantwortung und die Aussicht auf ernste Arbeit beeinflussen oft in den frühen Morgenstunden einer Besteigung die Stimmung. Aber längst konnte kein Zweifel mehr sein, dass unser Plan gelingen musste. Joseph war in glänzender Laune: « King, comrade and boy », nannte ihn einer meiner englischen Freunde. Wahrlich, wie ein König durch sein Reich führte er heute über den Ostgrat; wie ein Kamerad war er dabei für mich besorgt, und wie ein Junge lachte er, wenn wir wieder flink und sicher einen der vielen Zacken überwunden hatten. Auch ich hatte keinen schlechten Tag, und da auch die Verhältnisse am Berg günstig waren, arbeiteten wir beide in vollkommener Harmonie. DieFreude an derfort-während wechselnden Bewegung, der Rhythmus, in welchem wir uns bewegten, verschafften mir einen herrlichen Genuss. Ja, sie bewirkten ein freudiges Gefühl, das mich zwar vollständig erfüllte, solange diese Kletterei andauerte, das mich aber nicht im entferntesten berauschte, sondern vielmehr alle Fähigkeiten steigerte und alle meine Sinne anregte. So leicht und beschwingt schien mir der Gang über den Grat, dass ich fast sagen möchte, wir seien geflogen, wüsste ich nicht, dass Freunde in Wengen uns durch das Fernrohr verfolgt hatten und deshalb meine Behauptung widerlegen könnten. Auch Knubel muss Ähnliches gefühlt haben, denn auch er hielt nur ungern an.

In der Südflanke des nächsten Turmes fanden wir ein schmales Band, das sich als Rastplatz vortrefflich eignete und wo wir auf unsere Freunde warteten. Wir waren erstaunt, als die Uhr uns zeigte, dass wir schon anderthalb Stunden über den Ostgrat geklettert waren. Während wir eine Viertelstunde rasteten, bildeten sich auf einmal Wolkenstriemen am Himmel, und am Gipfel der Jungfrau stiegen unversehens Nebel auf.

Die folgenden Zacken erforderten wieder alle Aufmerksamkeit. Der Fels war schlechter als im mittleren Teil des Grates, und die Türme waren oft beängstigend schmal und scharf. Nun kamen wir in eine Scharte, von der ein Schneegrat hinaufführte zum nächsten Turm. Der Schnee war weich und, wo er an die Felsen stiess, recht dünn. Der Übergang vom Schnee zu den Felsen verlangte ein heikles Manöver, auch die nächsten paar Meter waren schwierig, weil gute Griffe fehlten. Die Kletterei war wenn möglich noch ausgesetzter als vorher. Aber da drüben tauchte die Schneespitze der Wengern-Jungfrau ( 4060 m ) auf, bald war sie erreicht, eben als die Nebel zusammenschlugen und der Jungfraugipfel nur mehr als dunkle Wand im wogenden Meer sichtbar war. Etwas mehr als anderthalb Stunden hatten wir vom Rastplatz hieher gebraucht; in einer weitern halben Stunde erreichten wir ein wenig nach Südwesten ausbiegend, über ein Firnfeld und durch eine steile Schneekehle ansteigend, den Gipfelgrat und in einigen Schritten den Gipfel. Weniger als zehn Stunden nach Verlassen der Guggihütte schüttelten wir einander die Hände unter dem Gipfelsignal der Jungfrau.

Es ist kein Sieg über den Berg, sondern eher ein Geschenk des gütigen Schicksals gewesen, wenn uns verhältnismässig leicht und ohne allzu grosse Mühe gelungen ist, was Andreas Fischer und seine Führer wegen schlechter Verhältnisse nicht hatten vollenden können. Aber es ist vielleicht der schönste halbe Tag gewesen während der drei Wochen Bergfahrten im Berner Oberland. Die Verbindung des klassischen Gletscheraufstieges des Guggi mit der Kletterei über den türmereichen Ostgrat der Jungfrau ist eine herrliche Bergfahrt, vielleicht überhaupt der allerschönste Aufstieg zur Jungfrau. Wir waren 1932 überall von ganz vorzüglichen Verhältnissen begünstigt gewesen, wie sie wohl in manchen Jahren gar nie oder nur an wenigen Tagen zu treffen sein mögen. Nach den Zeiten zu schliessen, die Andreas Fischers Partie im Jahre 1909 brauchte 1 ), kann der Aufstieg zum Schneehorn zum P. 3788 im Ostgrat viel mehr Zeit kosten und der Ostgrat überhaupt nicht begehbar sein. Ich glaube zwar, dass der grosse Unterschied zwischen den Zeiten unserer Partie und denen von Andreas Fischer auch zurückzuführen ist auf den Unterschied zwischen unseren zehnzackigen Eckensteineisen und den Steigeisen, die man 1909 noch gebrauchte. Die kurzen Zacken jener Eisen waren von geringem Nutzen auf einem Eishang wie dem zwischen Schneehorn und Jungfrau-Ostgrat, während mit unseren langen und scharfen Zacken sogar steilere Hänge bei schlechteren Verhältnissen begangen werden können.

Unsere Zeiten waren folgende:

Guggihütte—Schneehornsattel 3 Std. 30 Min.

PS. Am 9. August 1933 wurde dieser Aufstieg wiederholt von Bewan Brown A. C. und D. Murdoch unter der Führung meines Freundes Adolf Rubi, Wengen. « Vom Schneehorn zum Gratturm war jeder Meter blankes Eis », schrieb mir Rubi, « aber gut zum Hacken. » Auch Rubi betrachtet diesen Weg als den schönsten Aufstieg zum Jungfraugipfel. Die Zeiten dieser Partie waren folgende ( einschliesslich Rasten ):

Guggihütte—Schneehornsattel2 Std. 15 Min.

Schneehornsattel—Gratturm 3788 m.. 3 » 30 » Gratturm 3788 m—Gratgipfel ca. 3900 m 2 » Gratgipfel 3900 m—Wengern-Jungfrau.. 4 » Wengern-Jungfrau—Jungfraugipfel ...45 »12 Std. 30 Min.

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