Die Jungfrau – erster Schweizer Viertausender Zwei Aarauer und zwei Fiescher als Erste auf dem Gipfel
Am 3. August 2011 jährt sich zum 200. Mal die Erstbesteigung der Jungfrau – eine epochale Tour, die moderne Züge aufwies und als Meilenstein in die Geschichte des Alpinismus einging.
«Als einmal der schwerste Schritt gethan war, ebnete sich das Schneelager, und wir kamen nach wenigen Schritten auf den höchsten Punkt des Jungfraugebirges zu stehen. Es war zwei Uhr Nachmittags vorüber», wie es in ihrem Reisebericht heisst, der 1811 in Johann Zschokkes Miszellen für die Neueste Weltkunde veröffentlicht wurde. Blau wölbt sich der Himmel, kräftig scheint die Sonne, als am 3. August 1811 die Aarauer Industriellensöhne Rudolf und Hieronymus Meyer zusammen mit den Fiescher Gämsjägern Joseph Bortis und Alois Volken die Eiskuppe der Jungfrau (4158 m) erreichen.Nie zuvor hatte ein Mensch in der Schweiz einen Viertausender betreten.
Die Erschliessung der damals noch stark vergletscherten Hochalpen beginnt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich Wissbegierige in grössere Höhen vorwagen. 1778 erklimmen sieben Jäger aus Gressoney aus reiner Neugier das zwischen Monte Rosa und Lyskamm gelegene 4178 Meter hohe Lysjoch. Damit überschreiten sie erstmals im Alpenraum die Marke von 4000 Metern – damals übrigens keine symbolische Grenze, da man Meereshöhen meist in Pariser Fuss mass, das Lysjoch war damit also 12 863 Fuss hoch. In der Folge werden einige hohe Berge bestiegen: 1786 der Montblanc, 1800 der Grossglockner, 1804 der Ortler. Der zu dieser Zeit höchste erreichte Gipfel der Schweiz ist der Mont Vélan (3727 m), 1779 durch Laurent Joseph Murith erstiegen (s. «Alpen» 6/2008); die helvetischen Viertausender sind dagegen noch allesamt unerforscht. Es entbehrt deshalb nicht der Ironie, dass ausgerechnet die Jungfrau als erster Berg das Adjektiv «jungfräulich» verliert – jene in der frühen Alpinliteratur übliche, etwas unselige Bezeichnung für unbestiegene Gipfel.
Der Weg zur ersten Besteigung eines Viertausenders in der Schweiz ist nicht bloss aus historischer Sicht ein langer – sondern auch ganz konkret. Ende Juli 1811 reisen die Gebrüder Meyer über Brünig und Grimsel nach Naters bei Brig. Die anschliessend eingeschlagene Route lässt sich nicht bis ins letzte Detail rekonstruieren, doch gelangen die beiden Aarauer – vielleicht via Oberaletsch und den Beichpass – ins hintere Lötschental. Dort heuern sie die Älpler Joseph Bortis und Alois Volken an, die ihnen als «wackerste» Führer empfohlen worden sind. Am 1. August steigen die vier, zusammen mit dem Guttanner Kaspar Huber und drei Aarauer Domestiken, über den Langgletscher zur 3164 Meter hohen Lötschenlücke hinauf und betreten die weitläufigen Flächen der Aletschregion. Ihr Ziel ist, «theils den Zusammenhang jener ungeheurn ewigen Eisfelder zu erkennen, theils zu erfahren, ob die bekannten höchsten Berggipfel, welche aus ihnen hervorragen, ersteigbar wären». Zur Ausrüstung gehören « eine neue Leiter, ungefähr zwanzig Schuh lang (ca. 7 Meter), die bequem aus einander genommen werden konnte; und Seile von hundert Schuh Länge (ca. 35 m) ».
Was sie hinter der Lötschenlücke erblicken, ist Neuland: «Nun lag die einförmige Winterwelt des Gletschers vor uns ausgespannt mit seinen blendenden Massen.» Die drei Dienstboten werden wegen Ängstlichkeit zurückgeschickt. «Je weiter wir nun vordrangen über die Eisflächen, je fremder ward alles, was uns umgab. Unter der Menge von Gebirgshörnern, welche aus den Tiefen hervorragten, konnten wir dasjenige der Jungfrau nicht wieder erkennen.» Schliesslich existieren für die nie zuvor besuchte Aletschregion noch gar keine verlässlichen Karten.
Während der Guttanner beim Gepäck zurückbleibt, machen sich die übrigen auf die Suche nach der Jungfrau, die sie nach stundenlanger Erkundung bestimmen. Nach einem Biwak am Rand des Konkordiaplatzes machen sie sich am 2. August an die Besteigung des ersehnten Gipfels, werden aber beim Schlussaufstieg von einer Föhnstaulage und einsetzendem Regen zurückgeworfen. Es folgt ein weiteres Biwak, nun etwas höher, am Kranzbergfirn, dann rücken die vier am 3. August zum zweiten Anlauf aus. Über den Jungfraufirn und den Ostsporn des Rottalhorns gelangen sie bis oberhalb des Rottalsattels, von dem sie durch einen scharfen Firngrat getrennt sind. «Wir befestigten, wo dieser anfing, an einem tief in den Schnee eingestossen Stock das Seil, und setzten uns reitend auf den zugespitzten Schneesattel. So glitten wir, einer nach dem andern glücklich hinab, und kamen an den Fuss des Gipfels, welchem wir uns zwischen nackten Felsklippen, die aus dem Eise hervorstehn, ganz näherten.» Vom Sattel schwingt sich nun ein ausgesetzter Grat zum Gipfel hinauf. «Einzeln half einer dem andern nach. Ein Gämsjäger kroch voran, befestigte in gewisser Höhe das Seil und die übrigen erleichterten sich dadurch das ziemlich steile und schauderhafte Nachklimmen.» Nach einem letzten, «scharf zugespitzten» Eiskamm, den sie wiederum rittlings überwinden, ist der höchste Punkt der Jungfrau endlich erreicht. Eine halbe Stunde verweilen sie auf dem Gipfel und geniessen die Aussicht. « Als Wahrzeichen unsers Hiergewesenseins » befestigen diese ein schwarzes Leinentuch an eine Stange und rammen sie in den Schnee. «Möge sie inzwischen dastehen, und einst, wenn gleich halb verwittert, doch freundlich denjenigen entgegen wehen, die nach uns kommen, diesen vorher seit der Schöpfung nie erstiegenen Eisthurm zu betreten.»
Anders als etwa bei der Erstbesteigung des Montblanc, nehmen die Gebrüder Meyer keine Barometer oder sonstige Messgeräte mit. Ihr Ziel ist kein naturwissenschaftliches (oder wissenschaftlich verbrämtes), sondern eher ein geografisches: Sie wollen das ausgedehnteste Gletschergebiet – und zugleich die grösste noch unerforschte Region – des Alpenraums erkunden. Dadurch trägt ihre Expedition unzweifelhaft moderne Züge – es ist möglicherweise die Geburtsstunde des Bergsteigens als eigenständige Tätigkeit, die keine weiteren Rechtfertigungen braucht als die Suche nach Abenteuer und Naturerlebnis. Das konnte Heinrich Zschokke, Herausgeber der «Miszellen für die Neueste Weltkunde», in denen der Bericht der Gebrüder Meyer 1811 erschien, kaum erahnen. Und doch schrieb er im Vorwort zum Expeditionsbericht visionär: «Schon in dieser Hinsicht wird ihr kühnes Unternehmen Epoche in der Geschichte der Alpenreisen machen.»
Das «kühne Unternehmen» hatte ein Nachspiel: Die Besteigung der Jungfrau 1811 wurde vor allem von den Berner Oberländern angezweifelt, nicht zuletzt, weil die Gipfelfahne vom Tal aus nicht sichtbar war. Um die Zweifel auszuräumen, begeben sich die Gebrüder Meyer mit zwei Söhnen im folgenden Sommer erneut ins Aletschgebiet. Am 3. September 1812 erreicht Gottlieb Meyer, Sohn des Johann Rudolf junior, wiederum mit Joseph Bortis und Alois Volker den Gipfel der Jungfrau. Dabei wählen sie einen neuen Weg, welcher der heutigen Normalroute entspricht. Im Rahmen der Expedition erkunden die Meyers und ihre Führer weitere Teile der Aletschregion und überschreiten unbekannte Pässe. Als würde diese prächtige Bilanz nicht genügen, klettern die Führer Joseph Bortis, Alois Volker und der Oberhasler Arnold Abbühl am 16. August erstmals auf den höchsten Gipfel der Berner Alpen: das Finsteraarhorn (4274 m). Es ist, nach der Jungfrau, der zweite Viertausender in der alpinistischen Geschichte der Schweiz.
Auf die Jungfrau heute
Der einfachste Zugang führt vom Jungfraujoch über den Rottalsattel. Alle anderen Routen sind lang und schwierig, zum Teil sogar sehr schwierig.
Normalroute
Eckdaten: 700 Hm, 4–5 Std. von der Mönchsjochhütte, 3½–4½ Std. vom Jungfraujoch. Abstieg zum Jungfraujoch 3–4 Std.
Route: Vom Ausgang des Sphinxstollens nach Süden über den Jungfraufirn zu den Felsen bei P. 3506. Aufsteigen bis unter den grossen Felsaufschwung, weiter zu einem Haken. Dann auf einem Felsband nach links bis zum Hang, der auf den Rücken des Rottalsporns führt. Variante: Kann bei sehr günstigen Verhältnissen (Achtung Spalten) im Frühsommer noch begehbar sein. Über den Gletscher um den Vorsprung P. 3506 herum und über den steilen Firnhang hinauf zum Sporn. Diese Route wählten die Gebrüder Meyer sehr wahrscheinlich bei ihrer Erstbesteigung. Von hier über den Rottalsporn aufsteigen und unter dem Rottalhorn nach rechts zum Sattel queren (Achtung Wächten und Schneerutsche), dann steil hinauf in den Sattel. 50 Meter oberhalb des Rottalsattels über Firn oder Eis entlang den Sicherungsstangen nach links zu den Felsen traversieren. Hier weiter den Sicherungsstangen entlang bis zum Gipfel. Abstieg wie Aufstieg.
Karte LK 1: 25 000, Blatt 1249 Finsteraarhorn
Literatur Hausmann Karl: Jungfrau Region, Tschingelhorn/Eiger/Fiescherhörner/Finsteraarhorn, SAC Verlag, Bern 2010
Anker Daniel: Jungfrau – Zauberberg der Männer, AS Verlag, Zürich 1996
Meyer Johann Rudolf: Reise auf den Jungfrau-Gletscher und Ersteigung seines Gipfels von Joh. Rudolf Meyer und Hieronymus Meyer aus Aarau im Augustmonat 1811 unternommen, Aarau, 1811