Die Hirsche in S-charl
Mit 3 Bildern ( 127—129Von Eugen Wenzel
( Zürich ) In vielen Gegenden unseres Landes können wir ganze Tage damit verbringen, durch Wälder zu pirschen, ohne einem einzigen Wild zu begegnen. Oft ist damit zwar weniger bewiesen, dass dort keine Tiere vorhanden sind, als vielmehr unser Unvermögen, unbemerkt an sie heranzukommen. In den Wäldern Graubündens, fernab vom lauten Getriebe der Menschen, ist es manchmal gar nicht schwer, freilebende Tiere zu beobachten; ja oft genug werden sie den Touristen mit grossen Teleskopen von Hotelterrassen aus gezeigt. Unter kundiger Führung altbewährter Jäger und Wildhüter wird man gelegentlich sehr nah an die Weidgründe ganzer Rudel von Gemsen, prächtiger Kolonien von Steinböcken und kleiner Herden von Hirschen geleitet — und hat seine Freude daran.
Doch sag, bist du auch schon allein ausgezogen? Hast du dich je schleichend durch die Wälder geschlagen und bist du nach mühseligem Pirschen und stundenlangem Warten einmal einem Edelwild gegenüber gestanden, Aug in Aug, und mit dem glücklichen Empfinden etwas Grosses zu erlebenWenn dies nicht der Fall ist und du Lust dazu hast, dann packe deinen Rucksack und wandere nach S-charl. Dort wirst du zu diesem Erlebnis kommen!
Die Hirsche von S-charl sind natürlich zugleich auch die Hirsche des Nationalparks; denn wenn es uns gewöhnlichen Menschen auch versagt ist, ihnen im behüteten Heiligtum des Parks nachzuspüren, so ist es umgekehrt den Hirschen nicht verwehrt, die Grenzen ihres Reservats zu überschreiten. Das tun sie zum Leidwesen der in der Nähe des Nationalparks wohnenden Bevölkerung mit Vorliebe dann, wenn das saftige Grün der Wiesen und Felder sie in den Talboden lockt! Doch davon wollen wir nicht sprechen.
In strengen Wintern liegen die guten Weidgründe der Val Mingèr und anderer Täler im Nationalpark unter einer tiefen Schneedecke, während an den steilen Abhängen des Mot Madlains im S-charltal leichter ans kärgliche Futter zu kommen ist. Überdies apern die Südhänge viel früher aus, und das ist unzweifelhaft auch der Grund, dass man dort im Spätwinter so vielen Hirschen begegnet. Zu allen Zeiten des Tages sieht man sie am Waldrand auftauchen, vereinzelte Tiere, in Gesellschaft oder in Rudeln von über 20 Stück vereinigt. Das ist ein herrlicher Anblick! Von den spärlichen Lauten, welche aus dem Dorf zu ihnen dringen, scheinen sie nur wenig Notiz zu nehmen. Selbst wenn man sich in der Nähe der Häuser oder auf der Talstrasse bewegt, lassen sich die Tiere weiter nicht stören und sind alle stark beschäftigt, ihre Äsung unter dem Schnee hervor zu scharren. Nähert man sich ihnen, so recken sie die Hälse, machen langsam kehrt und streben wiegenden Ganges dem Walde zu.
Manchmal, wenn frisch gefallener Pulverschnee das Anpirschen erleichterte, folgten wir ihren Spuren. Bisweilen waren es halbmetertiefe Gräben, DIE HIRSCHE VON S-CHARL welche sich die schweren Hirschkühe, immer eine hinter der andern gehend, gepflügt hatten. Nur zu bald hat der Skifahrer im Wirrwar des Legföhren-unterholzes ausgespielt und muss dann zu Fuss durchzukommen versuchen. Lautloses Anschleichen ist fast unmöglich, und hat man den Wind im Rücken, ist alle Mühe umsonst. Das Einzige, was wir gelegentlich zu Gesicht bekamen, das waren die auf- und abwiegenden Spiegel der zwischen den Bergföhren verschwindenden Hirschtiere. Man muss sich nicht entmutigen lassen, und dann und wann gelingt es trotz allen Schwierigkeiten, bis auf 50 Meter und etwa auch näher an sie heranzukommen.
Um Hirsche einmal aus der Nähe beobachten und photographieren zu können, baute ich mir mitten in ihrem Weidplatz eine Schneeburg. Unter dem schützenden Dach einer Lärche türmte ich Schneeklötze aufeinander, tarnte sie möglichst natürlich mit dürren Ästen und versah jede Seite mit einem « Schussloch ». Nach dem Mittagessen verkroch ich mich in mein Versteck, brachte den Photoapparat in Stellung und begann, mich in Geduld zu üben. Die Stunden flossen langsam dahin, und die Kälte vermochte trotz der vielen Hüllen, in welche ich mich vorsorglich eingepackt hatte, bis an die Knochen zu dringen. Die Hirsche aber kamen nicht. So gut mein Bau auch gebaut und getarnt war, irgend etwas musste ihren Verdacht erregt haben. Selbstverständlich liess ich mich nicht entmutigen. Tags darauf verbrachte ich den Nachmittag wieder in meiner Höhle. Gegen Abend näherten sich ein paar Tiere bis auf 50 Meter, doch zum Photographieren kam es nicht. Ganz durchfroren und mit steifen Gliedern kehrte ich enttäuscht in die warme Stube zu Frau Barth zurück.
Ein andermal, als ich von S-charl aus eine Gruppe von Hirschen am Waldrand entdeckt hatte, versuchte ich ihnen im offenen Gelände beizukommen. Bis auf etwa dreissig Meter gelang es mir, in Deckung anzuschleichen. Von dort aus musste ich übers freie Feld. Das hat seinen besondern Reiz. Langsam, auf allen Vieren im Schnee kriechend, gelangte ich etwa auf zwanzig Schritte an ein äsendes Spiesserli heran. Plötzlich hob es den Kopf und hatte mich bemerkt. Ich war im Augenblick zu einem Stein erstarrt und tatsächlich liess sich das Tier täuschen und nahm die Nahrungssuche wieder auf. Alsbald richtete ich mich auf und stellte den Apparat ein. In der nächsten Sekunde war der Kopf wieder hoch, und nun konnte ich abdrücken. Das zweite Bild allerdings zeigte nur noch das Hinterteil des fliehenden Tieres!
Während unserer Ferien in S-charl gab es täglich irgendein Erlebnis mit Hirschen. Im Legföhrengewirr der Val del Poch oder in dem gerade über dem Dorf ansetzenden God da Tablasot pirschten wir uns manchmal sehr nahe an ihre Lagerplätze heran und konnten erfreuliche Beobachtungen machen. Am frühen Morgen, wenn wir durch die Val Sesvenna anstiegen, entdeckten wir fast jedesmal ein paar Hirsche im Föhrendickicht, und bei unserer Rückkehr am Spätnachmittag konnten wir sie zu Dutzenden am Sonnenhang nach Futter scharren sehen. Solange wir in Bewegung blieben, liessen sie sich nicht stören, nur wenn wir anhielten und Fernglas oder Photoapparat zückten, zogen sie sich langsam in den Lärchenwald zurück.
Dass sich das scheue Edelwild in strengen Wintern, vom Hunger getrieben, bis zu den menschlichen Wohnstätten heran wagt, ist allgemein bekannt. Frau Barth hatte uns schon vor den Ferien mitgeteilt, die Hirsche kämen diesen Winter des Nachts bis vor die Häuser. Frische Spuren und Losung, welche wir am Morgen vorfanden, bestätigten diese erfreuliche Tatsache, und selbstverständlich entwarfen wir sofort einen Plan, um dies phographisch festzuhalten. Nona Barth kam auf den Gedanken, einen Wusch Heu vor die Haustüre zu legen. Beim Einnachten wurde die Kamera eingestellt und ein Blitzlicht bereitgemacht. Plaudernd sassen wir bei Petroleumlicht in der heimeligen Gaststube mit Frau Barth zusammen und warteten ungeduldig auf das Erscheinen der Hirsche. Unvermittelt waren sie da. Vier Meter vor den beleuchteten Fenstern beschnupperten sie das Heu und begannen es aufzunehmen. Behutsam öffneten wir die Türe, und nun standen wir uns auf wenige Schritte gegenüber. Merkwürdigerweise zogen die Tiere nicht ab, obschon sie uns unter der offenen Haustür bemerkt hatten. Jetzt war der Augenblick der Aufnahme gekommen. Aber gerade jetzt durchzuckte mich der Gedanke, dass das aufflammende Blitzlicht die Hirsche fürchterlich erschrecken und sie für immer verscheuchen müsse, dass es hingegen vielleicht möglich sei, die Tiere auch am Tag hierher zu locken. So schlossen wir die Türe und überliessen ihnen das Heu, ohne sie dabei photographiert zu haben.
Am nächsten Tag bauten wir uns wieder eine Schneeburg. Diesmal auf dem Dorfplatz. Von der Seite, wo wir das Heu auszulegen gedachten, sah das fertige Werk wie ein mässig ansteigender Hügel aus. Das kleine Guckloch, hinter welchem in einer in der Schneewand eingebauten Kiste der Photoapparat aufzustellen war, glich einer Schießscharte wie bei einem Bunker und war kaum zu sehen. Über Nacht wurde wieder Heu gestreut, um die Hirsche an den Platz zu gewöhnen. Dies gelang uns überraschend gut, denn als wir am darauf folgenden Nachmittag nichts ahnend am Zvieri sassen, kamen zwei Tiere die Dorfstrasse herauf spaziert. Wir liessen sie ungestört am Heu und waren sicher, sie am nächsten Tag auf den Film zu bannen.
Schon am Frühnachmittag begab ich mich auf meinen Posten hinter der Schneemauer, legte die Apparate schussbereit ins Ausguckloch und wartete. Nach anderthalb Stunden kamen sie daher. Eine Hirschkuh mit ihrem Jungen. Das Junge immer ein paar Schritte voraus, das Muttertier, mit hochgestellten Lauschern nach allen Seiten sichernd, hinterher. Immer wieder machte die vorsichtige Alte kehrt, war mit ein paar federnden Sätzen am Dorfausgang, wo sie sichernd nach allen Seiten spähte, um dann scheinbar beruhigt wieder zum Jungen zurückzukommen. Allmählich rückten sie vor, und das Kleine war bereits an das begehrte Heu herangekommen. Ein abermaliges Zurück-eilen der Mutter hielt es aber vorerst noch von der Nahrungsaufnahme ab. Bockstill wartete es auf ihre Rückkehr, um sich nun endlich an das schmackhafte Heu heranzumachen.
Die Hirschkuh ihrerseits war inzwischen erneut ein paar Schritte zurückgegangen, hatte wieder nach allen Seiten gesichert und kam erst jetzt, zögernd Lauf auf Lauf setzend, zum Jungen heran. Während all dieser Zeit konnte ich meine Aufnahmen machen. Zwar hatte ein leichtes Schneerieseln ein- gesetzt, doch es war genügend Licht, um brauchbare Momentbilder machen zu können. Allerdings, jedesmal wenn der Verschluss am Apparat knackte, richtete sich der Kopf der unglaublich hellhörigen Hirschkuh blitzschnell auf. Eine Zeitlang setzte sie dann sogar mit Kauen aus und spähte haargenau auf mein kleines Ausguckloch. Unvermutet schnellten dann beide Köpfe hoch, und ohne ein sichtbares Verständigungszeichen sprangen sie um, und waren in wenigen Sekunden dem Blickfeld entschwunden.
Bei all den ergötzlichen Begebenheiten mit Hirschen hatten wir jene Tiere, unter welchen man sich schlechthin überhaupt Hirsche vorzustellen pflegt, die Geweih tragenden Stiere nämlich, nur selten zu Gesicht bekommen. Um diese Jahreszeit halten sich die männlichen Tiere dem Rudel fern. Dann und wann sahen wir einen oder zwei solcher Einsiedler aus dem Wald treten und Äsung suchen. Selten liessen sie uns näher als hundert Meter an sich heran. Durch Zufall überraschten wir eines Vormittags einen lagernden Hirsch im Hochwald. In schwungvollen Sätzen, den Kopf mit dem ausladenden Geweih zurücklegend und das Geäst auseinander treibend, jagte er an uns vorbei und überliess uns unserem Staunen. Staunen war es über seine durch den tiefen Schnee kaum behinderte elegante Flucht und Staunen auch über die mächtigen Löcher, welche sein schwerer Körper im Schnee hinterlassen hatte.
Der Wunsch, so einen Hirschstier zu photographieren, wurde indessen von Tag zu Tag brennender. Zeigte sich einer am Waldrand, so wurde sofort Alarm geschlagen. Für was, sagte ich mir dann etwa, hast du in deinen Jugendjahren Karl May gelesen und von Old Shatterhand und Winnetou, dem Häuptling der Apachen, die Kunst des Anschleichens gelernt, wenn es dir jetzt nicht gelingen sollte, an diesen Hirsch heranzukommen? Aber oh weh, so schlau ich es auch anrichtete, die mit unglaublich scharfen Sinnen gewapp-neten Tiere waren meistens verschwunden, bis ich in Stellung war.
Nach zahlreichen vergeblichen Pirschen und verschiedenen Fehlschlägen gelang es uns am Ende der Ferien, einen geweihtragenden Hirsch zu photographieren. Nona Barth, die unsere Bestrebungen allzeit unterstützte, brach eines Nachmittags mit der alarmierenden Meldung in unsere Siesta: « Er isch da! » Apparat und Teleobjektiv in den Rucksack verstauen und die Ski anschnallen war eins. In weitem Bogen zog ich zuerst talauswärts und schwenkte erst weit ausserhalb des Dorfes der rechten Talseite zu. In Deckung stieg ich gegen den Waldrand an und musste zu meinem nicht geringen Schrecken feststellen, dass ich ein paar dort lagernde Tiere aufgejagt hatte. Wenn diese abziehenden Hirsche an meinem Stier vorbei fliehen sollten, wäre seine Aufmerksamkeit erregt und alle Mühe umsonst gewesen. Glücklicherweise steuerten sie auf direkterem Weg in den Wald hinauf. So kam ich unbemerkt bis auf einen Steinwurf an den unter einem Baum stehenden Hirsch heran. In einer Mulde machte ich fieberhaft den Apparat bereit. In grenzenloser Bestürzung musste ich die Feststellung machen, dass beim hastigen Aufbruch die Bajonettfassung des 36-cm-Teleobjektivs zu Hause geblieben war. Nun musste ich mit dem 18er auskommen.
Vorsichtig schob ich mich durch den brüchigen Harschschnee vorwärts. Das Geräusch der einbrechenden Kruste brachte mir jedesmal den Atem zum Stocken. Der Wind war mir günstig. Und doch war der Stier plötzlich hochgefahren und hatte mich im gleichen Augenblick gesichtet. Da ich nicht schussbereit war, schien alles verloren. Ich wandte die gleiche Taktik wie früher an und verwandelte mich in « Granit ». Unentwegt starrten wir uns gegenseitig an, und es hiess mit keiner Wimper zu zucken. Unter ungeheurer Nervenanspannung gelang es mir, mehrere Minuten kein Glied zu rühren. Tatsächlich beruhigte sich das Tier so weit, um sich ruhig von mir abzuwenden. Glücklicherweise traute ich der Sache nicht, denn in der nächsten Sekunde fuhr der Kopf wieder hoch, und nochmals wurde ich genau geprüft. Erst jetzt schien der Hirsch von meiner Unwichtigkeit überzeugt zu sein und senkte sein mächtiges Haupt. Länger hätte ich in der gekrümmten Haltung nicht mehr ausgehalten. Ich schnellte nun meinerseits empor, riss den Apparat in Stellung, und schon war der kapitale Stier aufbrüllend unter der Lärche hervorgestürzt. Doch ich war bereit und konnte viermal hintereinander abdrücken. An diesem Abend kehrte ich sehr glücklich und zufrieden nach S-charl zurück. Die Beobachtung der Hirsche von S-charl hat uns manche Ferienstunde gekostet, aber die Zeit, welche wir dafür aufwandten, scheint uns ebenso nützlich verbracht, als wenn wir Gipfel erobert hätten. Es schadet auch dem Bergsteiger und Skifahrer nicht, wenn er zwischen seinen Hochtouren gelegentlich einen Tag einschaltet, den er einzig der Tierbeobachtung widmet. Sicher dürfen wir uns glücklich schätzen, dass unsere Berge und Wälder noch von freilebendem Wild bevölkert sind und uns dadurch nicht nur als begehrte Ausflugsziele erscheinen, sondern auch lebendiges Naturerlebnis vermitteln.