Die Haute Route - damals
Kurt Wolf, Dresden
Es ist reichlich 30 Jahre her.
Von den Aussichtsbergen um Zermatt hatte der imposante Stock des Grand Combin, dem gewaltigen Mont-Blanc-Massiv vorgelagert, immer einen starken Eindruck auf mich gemacht. Auch wollten meine Bergkameraden und ich gern die Bergwelt des westlichen Wallis kennenlernen. Wiederholt wurde uns gesagt, dass dieses ursprüngliche Stück Alpenwelt nicht in dem Masse überlaufen sei wie das Gebiet um Zermatt und Saas Fee, dass dort die Siedlungen ursprünglicher seien, die Clubhütten zünftiger und weniger überfüllt. So fassten wir den Entschluss, 1939 die Haute Route vom Grossen Sankt Bernhard nach Zermatt auf das Programm zu setzen. Unsere Seilschaft bestand aus Karl, den wir zum leitenden Mann erkoren, Hanns und mir.
Als Einlauftour wurde die Besteigung der Haute Cime der Dents du Midi von Champéry aus gewählt. Sie wurde ein Fiasko. Der Bergwind wuchs zum Sturm, der immer stärker wütete und uns umzuwerfen drohte. Dann zog ein Unwetter auf, so dass wir uns etwa 150 Meter unter dem Gipfel sehr unwillig, wie man sich denken kann, zum Rückzug entschlossen. Auf der schönen Susanfe-hütte hielten wir nur eine ganz kurze Rast und stiegen eilends ab. Bald brach ein heftiges Gewitter los, und als wir in Champéry ankamen, waren wir vollkommen durchnässt. Es muss ein erheiternder Anblick gewesen sein, wie wir in der Reservewäsche am Ofen des kleinen, gemütlichen Hotels sassen, während alles, was wir auf dem Leibe gehabt hatten, zum Trocknen an der Leine hing.
Doch konnte dieser Misserfolg unseren Auftrieb nicht beeinträchtigen. Über Martigny begaben wir uns nach Orsières, um am nächsten Tag mit dem Postauto nach Bourg-St-Pierre weiterzufahren. Gern hätte ich im Bahnhofbuffet übernachtet; aber unser Manager Karl erklärte ziemlich geringschätzig, das sei für Haute-Route-Leute bei weitem nicht zünftig genug. Also gingen wir in einem einfachen Gasthaus vor Anker. Hier wurden wir herzlich willkommen geheissen und bestellten ein Abendessen. Das hätten wir nicht tun sollen. Die tüchtige Wirtin entfaltete einen Ehrgeiz zu zeigen, dass ihr Gasthaus es sehr wohl mit einem international geführten Hotel aufnehmen könne. Sie holte ihr bestes Geschirr hervor, ging Fleisch einkaufen und wandte viel Zeit und Mühe daran, uns ein umfangreiches Menü aufzutafeln, das eines bergsteigenden Lords würdig gewesen wäre. Wir liessen uns nichts anmerken, aber unser Kamerad Karl musste allerhand Spott dafür einstecken, dass er uns zu « einem so einfachen Nachtmahl verholfen hatte, wie es sich für zünftige, nicht verwöhnte Bergsteiger gehört »...
Von Bourg-St-Pierre ( 1635 m ), wo wir unseren Proviant vervollständigten, machten wir uns auf den Weg zur Cabane Valsorey. Wir lernten eine ganz neue Art von Vegetation kennen. Hatten uns bisher in der Regel Legföhren auf Hüttenanstiegen begleitet, so waren es im Val de Valsorey niedrige, silbergrün leuchtende Weiden, welche die Talhänge säumten. Der Aufstieg zur Hütte war ein ziemlicher « Schinder »; aber unvergesslich blieb uns der grossartige Anblick des Mont Vélan ( 3765 m ). Auf der Valsoreyhütte ( 3037 m ), wo uns österreichische Bergfreunde begrüssten, hatte ich am Abend ein köstliches Erlebnis, das ich nie vergessen werde: Der Combin steckte in Wolken; nur für kurze Zeit öffnete sich der Wolkenvorhang, und in überirdischer Höhe leuchtete die Spitze eines Combingipfels, von der untergehenden Sonne rosa angehaucht. Ein unbeschreiblich erhabenes Bild, das bald wieder verschwand.
Am nächsten Morgen baten uns die Österreicher, die vor uns aufbrachen, des Steinschlages wegen mindestens eine Stunde Abstand zu halten. Diese Zeit hat uns in der Folge leider gefehlt. Schliesslich machten wir uns an den Aufstieg, zunächst über den spaltenlosen Glacier du Meitin zum Plateau de Couloir und dann über die Arête du Meitin zum Combin de Valsorey ( 4184 m ). Hier machten wir eine längere Rast, um die Aussicht zu geniessen, und dann querten wir durch eine Gletschermulde zum höchsten Gipfel, dem Combin de Grafeneire, hinüber. Da wir es durchaus nicht eilig hatten, beschlossen wir, auf einem Plateau unterhalb des Gipfels zu biwakieren. Ein Biwak in über 4000 Metern Höhe war für uns ein romantisches, wenn auch kaltes Erlebnis. Wir bewunderten noch den Sonnenuntergang in dieser arktischen Landschaft und krochen dann in den Schlafsack. Geschlummert haben wir nicht allzuviel, denn die Nachbarschaft war recht eng. Doch auch diese Nacht verging, und am Morgen hatten wir genügend zu tun, um uns « aufzutauen ». Wir beeilten uns, auf den völlig vergletscherten Gipfel des Combin de Grafeneire ( 4317 m ) zu kommen. Unsere Mühe wurde durch eine klare, weitreichende Fernsicht belohnt. Im Osten lag die Gipfelflur von der Mischabelgruppe bis zum Monte Rosa vor unseren Augen ausgebreitet, mit dem wuchtigen Weisshorn und seinen Nachbargipfeln davor; im Westen grüsste das gewaltige Mont-Blanc-Massiv herüber; der Mont Vélan mit seinem prächtigen Gletscher schien ganz nahe. Wer zählt die Gipfel, nennt die Namen...
Nach ausgiebiger Schau machten wir uns an den Abstieg zur Valsoreyhütte. Anfangs war das sehr einfach, eine genussvolle Gletscherwanderung. Dann kamen wir an die Felsen. Doch wählte Karl - der Teufel muss ihn geritten haben - einen « anderen interessanten Abstieg » als den Grat unseres Aufstieges. Er führte durch eine steile Rinne, die ganz mit hartem Eis ausgekleidet war. Jetzt konnten wir uns im Stufenhacken bewähren; das war mühsam und kostete viel Zeit, sehr viel Zeit. Vielleicht hätte uns ein Schweizer Bergführer schneller vorwärts gebracht, aber wir waren ja stolze Führerlose. Eine Partie, die den Col du Meitin überquerte, rief uns an und fragte, ob wir Hilfe brauchten, was wir natürlich ablehnten. Wir liessen die Hütte grüssen! Wenn ihr es wissen wollt: Als wir unsere imposante Stufenreihe zu Ende gebracht hatten, wurde es Nacht. Wir standen auf dem Plateau de Couloir, und ich schlug vor, den Mondaufgang abzuwarten und auf dem spaltenlosen Firn zur Hütte abzusteigen, die wir schon sehen konnten. Aber ich, ohnehin der jüngste, wurde glatt überstimmt. « Wozu haben wir denn den Biwaksack - und ausserdem sparen wir obendrein noch die Übernachtungsgebühr. » Dieser Logik war nichts entgegenzuhalten. Erst hielten wir mal eine ausgiebige Abendmahlzeit, wozu uns leider etwas Trinkbares fehlte. Meine Freunde bezogen nun den Zeltsack; mich aber störte der penetrante Eigengeruch des erst kürzlich imprägnierten Sackes, und ich zog vor, eine Nacht lang die imposante Mont-Blanc- Gruppe im hellen Mondenschein zu bewundern. Das war ein ganz einmaliges Erleben; von Zeit zu Zeit drückte ich mich in eine Nische im Fels; sonst « promenierte » ich auf einem ziemlich ebenen Band. Am liebsten wäre ich zwar noch zur Hütte abgestiegen, deren Licht bis vor 23 Uhr traulich heraufleuchtete. Aber getreu unserem Grundsatz, uns am Berg nicht zu trennen, hielt ich standhaft aus. Die Kälte war erträglich. In den ersten Morgenstunden zogen Nebelschwaden die Grate herauf. Manchmal hatte ich die Einbildung, Menschen wären da im Aufstieg - aber das waren wohl die Folgen der Ermüdung, die diese Fata Morgana hervorriefen. Auch litt ich ziemlich unter Durst. Dennoch zählt diese zauberhafte Mondscheinnacht mit dem Anblick des ausgeleuchteten Mont-Blanc-Massivs zu meinen unvergesslichen alpinen Erlebnissen. Bei Sonnenaufgang weckte ich meine Kameraden, und bald zogen wir wohlgemut hinunter zur Hütte. Ehe wir sie erreichten, würgte es mich entsetzlich, obwohl ich mich nicht erbrach: Durst! In der Cabane wurde uns ein gastlicher Empfang zuteil. Die zum Abstieg gerüsteten Österreicher spendeten uns Weissbrot und Butter, und der Hüttenwart braute eine delikate Schokolade. Welch leckerer Schmaus! Dann bezogen wir eilig die Matratzenlager, um den zu kurz gekommenen Schlaf nachzuholen. Es mag gegen Mittag gewesen sein, als wir aufwachten. Was taten wir? Um den Tag auszunutzen, stiegen wir nach Bourg-St-Pierre hinab, und nach einem opulenten Mahl - natürlich im « Déjeuner de Napoléon » - wieder zur Valsoreyhütte hinauf... Auch eine « Bergtour ».
Der folgende Tag war für den Übergang zur Chanrionhütte vorgesehen. Die Passage des Col de Sonadon fanden wir völlig vereist und das Eis mit haselnussgrossen Graupeln verbacken. Nach Überwindung dieses Hindernisses erlebten wir eine einsame Gletscherwanderung auf dem Glacier du Mont-Durand, wobei wir die gewaltige Felsbastion der Südseite des Combin bestaunen konnten. Es war schönes Wetter, wir trieben mancherlei Gletscherstudien, und den ganzen Tag über be- gegneten wir keinem Menschen. Doch das « dicke Ende » kam noch: Karl hatte zwar diesen Gletscher schon einmal im Winter begangen und galt daher als der berufene Führer, dessen Ortskunde für uns über jeden Zweifel erhaben schien. Aber im Sommer ist der Gletscher eben wohl anders beschaffen als im Winter. Wir hätten ihn vor dem Abbruch in rechter Richtung verlassen und in den Begrenzungsfelsen absteigen müssen. Aber Karl führte uns über die Gletscherzunge talwärts. So hatten wir Gelegenheit, auf abschüssigem Eis hackend oder auf Moränenschutt und -schlämm abfahrend, das Ende des Gletschers zu erreichen. Das war zweifellos originell, ja abenteuerlich, kostete uns aber viel Zeit, und als wir das Ufer der Drance erreichten, erwartete uns wieder eine Überraschung: Das Brücklein, das zum östlichen Ufer führen sollte, war vom Hochwasser mitgerissen worden, und so mussten wir am westlichen Ufer pfadlos entlangstolpern. Weiter oben stiessen wir auf einen Balken, der das Wildwasser überbrückte. Freudig verfolgten wir den Pfad bis zu der verfallenen Alp Chermontane. Dort war der Weg zur Chanrionhütte mit Gras verwachsen - er hörte einfach auf. Zu allem Überfluss fiel noch Nebel ein. Es dämmerte schon. Da beschlossen wir, in der verfallenen Hütte ohne Dach unsere müden Häupter zur Ruhe zu legen. Mit einer Flasche Fendant und Wasser brauten wir ein heisses Getränk und begaben uns zur Ruhe. Es war romantisch, wenn auch etwas kühl.
Als wir morgens noch bei der Toilette waren, begrüssten uns gleich neben dem Gemäuer Edelweiss und Alpenastern - und noch jemand begrüsste uns: ein bergmässig gekleideter Wanderer mit umgehängtem Zeissglas fragte auf italienisch nach unseren Pässen. Dass er zuerst an Hanns geriet, der mit seinen schwarzen Locken und, seit Tagen unrasiert, allerdings einen wenig vertrauenerweckenden Anblick bot, machte die Sache nur noch verdächtiger. Wir bewiesen, dass wir keine Schmuggler waren, wie der eidgenössische Grenzwächter vermutete, sondern ehrbare Mitglieder des SAC, deutscher Nationalität. Es gab ein herzliches Gelächter auf beiden Seiten. « Ja, dort hinten am Mont Gelé treiben öfters Schmuggler ihr Unwesen! » Der Grenzhüter wies uns nun den Weg zur Chanrionhütte, der gleich nach der ehemaligen Alp wieder erkennbar war. In einer halben Stunde hatten wir sie erreicht. Chanrion ( 2463 m ) fanden wir reizend gelegen. Ziemlich lakonisch, wie wir waren, baten wir den Hüttenwart, uns ein paar Tassen Kaffee zu brühen, aber die Antwort war frostig. Auf Deutsche sei der Hüttenwart nicht gut zu sprechen. Das konnten wir ja verstehen. Ein kleiner Aufklärungsvortrag des Inhalts, dass uns das « Tausendjährige Reich » mindestens ebenso unsympathisch sei wie ihm, bewirkte, dass wir zu einem guten Aufguss von Coffea arabica kamen, der unsere Lebensgeister ordentlich auffrischte. Tagsüber machten wir Entdeckungsfahrten in der herrlichen Umgebung der Hütte, und am Abend feierten wir mit allen Hüttengästen. Es war der 1. August, der Schweizer Bundesfeiertag.
Weiter führte unser Weg über die Pigne d' Arolla in das Eringer Tal. Der Glacier de Breney mit seinen Moränen bot uns einen recht steinigen Weg, jedenfalls bis in die Gegend des Serpentine, aber auch grossartige alpine Schaustücke. Und die Aussicht von der Pigne d' Arolla habe ich in bester Erinnerung. Eine prächtige hochalpine Landschaft umgab uns, wohin wir sahen. Beim Abstieg fesselte uns besonders der Mont Collon, und der Glacier d' Arolla ist ein Prachtstück. Zugegeben, die nach Arolla hinabziehende Moräne, auf der ein Pfad angelegt ist, mutet etwas mühselig an, aber dafür ist Arolla ein Ort nach meinem Geschmack, noch nicht so sehr vom Fremdenverkehr überflutet, und wir Bergsteiger fanden uns dort sehr gastfreundlich aufgenommen.
Am nächsten Tag stiegen wir zur Cabane de Bertol ( 3414 m ) auf. Welch aussichtsreicher Weg - und welch gediegene Hütte, wohlgeborgen vor Lawinen, auf einem granitenen Felsenriff erbaut! Ebenso sympathisch der Hüttenwart, immer ein verklärtes Lächeln auf dem Gesicht.
Auf dem Weiterweg stiegen wir zuerst « von der Hütte ab » - sonst ist es oftmals umgekehrt. Der Marsch nach der The Blanche erwies sich als eine tolle Schneewaterei. Bis zu den Knien sank der Führende meistens ein. Aber es war ein grosses Erlebnis: immer hatten wir die Zmuttseite des Matterhorns vor uns. Bald sahen wir nur die Spitze ( wenn wir durch eine Firnmulde mussten ), bald zeigte sich das Horn in voller Grosse. Nie werde ich diesen Anblick vergessen. Über Stockje gelangten wir zur Schönbielhütte ( 2697 m ), in der, wie meistens, reger Betrieb herrschte. Das Matterhorn, die prächtige Dent d' Hérens und die wilde Umrahmung des Tiefmattengletschers hielten uns in ihrem Bann. Leider verschlechterte sich das Wetter, so dass wir auf die Besteigung des Matterhorns über den Schweizer Grat verzichten mussten. Mein Urlaub war ohnehin zu Ende, und wehmütig nahm ich Abschied für lange Zeit. Aber die Eindrücke der Haute Route von der Grossen-Sankt-Bernhard-Strasse bis zum Visper Tal leben unvermindert in Grosse und Farbigkeit in meinen alpinen Erinnerungen.