Die Gestalt des Berggängers
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Die Gestalt des Berggängers

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Auf ähnliche Weise steht heute die Gestalt des Bergpioniers in unserm Lande unter dem Zeichen der Vergangenheit. Die Zeit der einleuchtenden Erstbesteigungen ist bei uns vorbei. Statt dass er sich auf gesuchte und gekünstelte Varianten versteift, lasse er sich wie der Wissenschafter auf die in andern Erdteilen wartenden Aufgaben ein und reise nach Grönland, in die Polargebiete, in asiatische oder südamerikanische Länder.

Verweilen wir indessen einen Augenblick bei der Eigenart des Pioniers. Von Anfang an ist er für unsere Welt von prägender Bedeutung und für das Abendland charakteristisch gegenüber dem betrachtsamen, kontemplativen Orient. Er ist durch seinen Schwung zur Tat gekennzeichnet; in den Besten dieses Typus entdecken wir Höheres und sehen gleichsam ein Feuer reinen Geistes.

Wir wollen das an einem Beispiel zeigen, nämlich an drei Tagesläufen aus dem Leben des vor dem ersten Weltkrieg wirkenden Bergpioniers W. Young. Im Zuge einer Versuchsfahrt, um einen neuen Führer zu erproben, geht er mit ihm von Zinal auf die Pointe de Zinal, den Mont Durand und hinüber zur Hörnlihütte. Sie sind nun 24 Stunden ohne Nahrung, weil sich der Träger nicht eingefunden hat, steigen währenddessen am zweiten Tag aufs Matterhorn, hinunter nach Zermatt und für ein Biwak zum Triftgletscher. Am dritten Tag folgt auf die Wellenkuppe die Erstbesteigung des Gendarmes am Obergabelhorn und darauf das Horn selber; mit dem fast vollendeten Abstieg über den Arbengrat gibt er sich nicht zufrieden, sie klettern auf den Gipfel zurück und auf dem ungewöhnlichen Weg über den Nordgrat hinab. Die Aufzählung könnte täuschen und zur Meinung führen, Young entwickle in sich nur Kraft und Ausdauer, Leistungsdrang und Ehrgeiz. Seine Gangart ist indessen nicht bloss durch den Willen und den Blick auf eine Bestleistung bestimmt, sondern eine eigentliche Ekstase des Tempos, fast ein Fliegen, ein Glücksrausch, entstanden aus vollkommenem Rhythmus, der, wie er selber schreibt, jeden physischen Drang befriedigt, den ruhelosen Geist besänftigt, das Dichten und Denken und alle Phantasie, deren wir fähig sind, in Harmonie versetzt. Er nennt es eine « Bewegung der Selbstverwirklichung ». So steht also hinter dem anscheinend nur körperlichen Geschehen ein ideeller Antrieb. Vielleicht müsste man Young und seinesgleichen - im Gegensatz zu dem von Simon bei seinen technischen Fähigkeiten behafteten Alpinisten - den wahren Bergsteiger nennen und ihn damit auch vom nachher beschriebenen Berggänger abheben. Bezeichnend ist für ihn auf jeden Fall die Überhöhung des Lebens und die Ekstase des Steigens.

In einer andern Ekstase, derjenigen der Gefahr, gründet ein weiteres typisches Verhalten. Dieser Typus lebt im Wagnis auf, und das Leben scheint ihm erst lebenswert, wenn es in Frage gestellt und die Fühlung mit dem Tod aufgenommen ist. Durchaus anzuerkennen ist daran die Überwindung der egoistischen Bequemlichkeit, die Selbsthingabe; wenn jedoch das Leben so in die Schanze geschlagen wird, mag Missachtung des Lebens überhaupt, muss Verachtung des bürgerlichen Lebens dahinterstecken. Über die Todesverwandtschaft und den Zug zur Aufhebung des Endlichen lässt sich da leicht die Beziehung zum Wesen der Romantik nachweisen. Der Deutsche Leo Maduschka gehört, wenn ich mich recht erinnere, hierher; das betreffende Buch steht mir gerade nicht zur Verfügung, doch hat er sich meines Wissens auch in seinen Studien dem Thema der Romantik hingegeben. Ich möchte ihn eher dem der Gefahr zuneigenden Typus zurechnen als dem des Höhenfluges. Indessen hat eine logische Scheidung wenig Sinn, vielmehr können beide unter den Begriff des heroischen Bergsteigens zusammengefasst werden.

Das sind nun weder niedrige noch zeitgebundene Lebensformen. In der grandiosen Art, wie sie das gemeine Leben von sich weisen, werden sie bleiben und werden die Jugend aller Länder immer wieder mit einem höheren Magnetismus anziehen. Sie sind notwendiges Korrektiv unseres Nütz-lichkeits- und Komfortdenkens, Hefe im Teig unserer Existenz. Die Umwelt kann sich auch nicht gestatten, solche Kräfte zurückzudämmen, sonst kommt es zur Rebellion oder umgekehrt zur Lähmung des Wachstums. Überaus betont, ja allzu hoch gewertet wurde die heroische Lebensform von Faschismus und Nationalsozialismus. Aber deswegen wollen wir ihr nicht gram sein.

Und doch hält sich der Schweizer gern in einiger Entfernung von dieser Form. Sein Realismus und das Haften am Irdischen verbieten ihm die luftige Loslösung. Er ist nicht unfähig des Heroismus im Bergsteigen, aber das ihm mögliche Heldentum ist eher verwurzelt, alltagsverwandt, den Dingen wie Familie oder Beruf, kurz dem Dasein, nahe, während sich der Heroismus anderer Völker vom Irdischen freimacht und ins Reich des Absoluten hinausfliegt. ( Hierher gehört es schliesslich auch, in welchen Verhältnissen sich die Besteiger der schwierigsten Nordwände aus den verschiedenen Nationen rekrutieren. ) Skepsis scheint uns dem erwähnten Leitbild gegenüber richtig zu sein, weil jede solche Ekstase nach dem buchstäblichen Sinn des Wortes ein Aussersichsein und damit etwas Teilweises bedeutet und die Ganzheit ausschliesst. Der Mensch soll jedoch zu sich selber kommen und nicht ausser sich sein. So nehmen wir den alten Begriff des totalen Bergsteigens auf, wie er in der Literatur der letzten hundert Jahre immer wieder aufgetreten ist. Weil wir ein Jubiläum feiern, mag da an Rudolf Theodor Simler, den Gründer von 1863 und ersten Zentralpräsidenten, erinnert werden; der Biograph spricht vom Streben nach Ganzheit als seiner treibenden Kraft.

Wir haben uns dieser Ganzheit gewiss nicht als eines Besitzes zu rühmen; aber wir streben nach ihr, und dazu dient unser Gang in die Berge. Als Berggänger wollen wir die Schöpfung in allen ihren Teilen mit Ehrfurcht betrachten und zu ihren Elementen, wie wir sie in den Bergen rein antreffen, ja sagen.

Wir sagen ja zu unserm Körper, sind uns seiner bewusst und leben mit diesem Körpergefühl Er ist zugleich unser Herr und unser Knecht. Herr bleibt er, weil er das natürliche Mass und die Lei-stungs- und Lebensgrenze angibt; durch ihn hindurch wirken wir. Herrlich ist das Gefühl seiner gesunden Bereitschaft, das uns wie ein Äther durchdringt. Aber gerade in ihr muss er nun unser Knecht werden. Wir spannen ihn an und halten ihn karg; durch Übung vervollkommnen wir ihn im Ertragen und Geben - diese Übung heisst griechisch Askese - und machen ihn damit robust und trotzig.

Der Berggänger sagt ja zu den notwendigen, ersten Dingen, also zu Sonnenlicht, Wärme, Haus, Tisch, Lager, Brot, Wasser, Holz, Stein, Weg. Wie heilsam wird er durch das Erleben dieser Dinge herausgezogen aus dem Machtbereich der heutigen Konsumgesellschaft! Sie gefährdet ihn gerade, indem sie die ersten Dinge und Bedürfnisse überdeckt und ersetzt durch aufgespaltene sekundäre, ja durch raffiniert vervielfachte und von der Wurzel gelöste. Die Einfachheit des Menschenlebens und der Menschenschicksale, wie sie die gültigen Kunstwerke seit dem Alten Testament und den Griechen ausdrücken, wird durch unsere Konsumgewohnheiten zu Verworrenheit und Verwöhnung; die von einer Mitte genährte Robustheit wird zu Anfälligkeit und Zerfahrenheit. Wir können uns den städtischen Lebensformen während der Berufsausübung nicht entziehen, aber wir wollen im elementaren Naturerlebnis unser Wesen gegen das Verwirrende imprägnieren und dort oben die festen Massstäbe ins Auge fassen, von deren Gebrauch in einer noch so komplizierten Zivilisation uns nichts abbringen wird. Im Gang auf die Berge lernen wir, wie das Element der Kälte schneiden und lähmen kann, und erkennen dadurch wieder, was Sonnenwärme ist. Wenn ein Biwak glücklich verläuft, durchdringt uns das Wesen der Nacht; wenn eines ungünstig drohte und die Hütte noch gefunden wird, ist sie uns das Haus, und wir sind offen für die Bedeutung von Dach und Wand. Wie selten sind wir ausserhalb der Berge durch und durch hungrig, lechzen wir nach Wasser! Und was Granit oder Kalk ist, weiss der, der ihn in Kälte und Hitze mit Händen packen und sich an ihm hinaufschieben muss.

Der Berggänger sagt ja zum Gesetz, wie es ihm zum Beispiel in den Gesetzen der elementaren Natur entgegentritt. Dieses Gesetz auferlegt sich uns allen gleich gültig; mit ewig gleichem Gang nähert sich die Nacht, unbekümmert um unsere Lage, und wir können sie nicht wie in der Stadt auf technischem Wege zunichte machen. Das Gewitter muss sich zusammenbrauen, es kann nicht anders als über uns wirken, und zu ihm muss sich nach den Fallgesetzen der Steinschlag gesellen. Der menschliche Körper fällt derselben Schwerkraft zufolge wie der Stein. Darüber zu klagen wird uns abgewöhnt. Dieses Gesetz ist hart und gross. Wir erleben dadurch den Aufgang und den Untergang - den Tod. Das allgemeine Gesetz des Sterbens anzunehmen werden wir gezwungen und zugleich angehalten, es, bei aller Scheu, mit Kraft zurückzudrängen.

Wir sagen ja zum All. Hier wie schon vorher drängt es uns, zu gestehen, dass wir uns darin in gleicher Stellung sehen wie der Seefahrer alter Art, der Jäger, der Hirt und der Nomade. Wie sie fühlen wir uns gebunden an einen sinnvollen Kosmos. So dürfen wir uns religiöse Menschen nennen. Zuletzt geht der Berggänger auf Gott zu. Um gerecht zu sein, werfen wir nochmals einen Blick auf jene Lebensform des ekstatischen Höhendrangs. Ist nicht dort ebenfalls ein Ganzheitsgefühl und ein Jasagen mitenthalten? Es ist nicht zu leugnen. Offenbar handelt es sich um zwei je in sich wertvolle Ausprägungen desselben Dranges nach Ergänzung. Die eine ist mutiger und effektvoller, die andere hat mehr Fülle und Dauer in sich. Die eine, die ekstatische Form, betont vor allem die Bewegung, während es für die zweite, für die hier vertretene Form, bezeichnend ist, dass der Blick vom dynamisch sich bewegenden Kletterer und vom Steiger abgezogen und dem hierin unscheinbaren Gänger zugewandt wird. Ist doch mit dem Gänger stets auch ein Erkenner gemeint! Dazu darf die Bewegung nicht ein Springen sein'sondern muss Ruhe und Besonnenheit an sich tragen; sie wird nicht auf romantische Unendlichkeit, sondern auf die Ordnung aller Kreaturen bedacht sein.

Einen wesentlichen Unterschied, das heisst eine Fähigkeit, die der Berggänger vor den andern Bergsteigern voraus haben kann, möchte ich mit Nachdruck und Wärme nennen. Ich glaube auch, dass sie in Zukunft noch mehr überlegt und gesucht werden sollte. Dabei berufe ich mich auf die Männer, seien sie nun unter den Toten oder unter den Lebenden, die uns praktisch dafür Vorbild sind; in meinem Versuch will ich ja nicht nur Theorie geben, sondern an Daseiendes anknüpfen. Die tauglichsten Vorbilder haben es deutlich gemacht, dass der Berggänger die Fähigkeit des Gespräches beibehält, also nicht von den Mitmenschen wegstrebt, sondern ihnen zugewandt bleibt. Wir dürfen es uns mit einer Entgegnung nicht leicht machen und behaupten, der Bergsteiger sei von Anfang an ein ehrlicherer und für das Gespräch offenerer Partner als irgendeiner. Da stellt sich die Frage, ob die Kameradschaft der meisten nicht kräftig, aber auf einen zu engen Ausschnitt beschränkt sei, ob das Gespräch nicht oft etwas Schützengrabenmässiges an sich habe. Rechtes Gespräch ist etwas vom Schwersten in der Welt. Hier zeigt es sich, dass der heroisch Hinaufstürmende sich um die mitmenschliche Befruchtung bringen kann.

Lassen Sie uns noch einmal eine der in den « Alpen » vorgelegten Kurzbiographien heranziehen. Wenn ich die Zeilen über Friedrich Zschokke ( 1860-1936 ) richtig verstehe, ist auch er ein Zeuge der Art, denn von diesem Sohn der Stadt Aarau, Schüler Mühlbergs und nachmals Zoologieprofessor in Basel, heisst es, in den Bergen sei ihm das Menschenerlebnis, nicht das Bergerlebnis im engem Sinn, die Hauptsache gewesen. Wichtiger ist mir der Engländer Arnold Lunn, Alpinist und Schriftsteller, dessen Buch « Die Schweiz und die Engländer » für das Thema fruchtbarer ist als jedes andere mir bekannte. Er zitiert den Griechen Sokrates, der es abgelehnt habe, aus der Stadt zu gehen, weil uns die Felder und Bäume nichts lehren könnten, wohl aber die Menschen. Man wird verstehen, dass Lunn sich gegen diese Auffassung wendet, man wolle aber jetzt auch begreifen, dass die Meinung des Sokrates doch ihren Wert behält und dass die schwierige oberste Aufgabe des Menschen, das Wahre und Gute zu erkennen, nicht ohne das Gespräch mit den andern angegangen werden kann. Das verleiht dem Berggänger ein Stück von seiner Gelassenheit der Natur gegenüber. Da, wo Lunn im Sichverströmen an ihre unendliche Schönheit die echte Religiosität sieht und wo viele mit ihm die Gebirgsszenerie als die erhabenste gotische Kathedrale sehen, damit zu einer im Grunde mystischen und das Menschliche verlassenden Religion neigen, da macht der Berggänger eine ruhige Einschränkung. Wie Sokrates auf dem Marktplatz der griechischen Stadt, der Polis, diskutierte, so möchte er nun die Polis und den Berg zusammen erfassen, das eine soll ihn nicht vom andern abhalten.

Berggänger sein heisst demgemäss: Durch die Stadt gehen, über die Hügel wandern und durch die Wände des Berges steigen; hinaufgehen und zurückkommen. Die Einfachheit des Berggängers ist nicht Selbstzweck noch Feindschaft gegen die moderne Gesellschaft; sie ist Mittel, damit er die Arme frei hat, beides anzugehen: das Werk in der bürgerlichen Gemeinschaft und die Ergänzung oder Wiederherstellung des Kosmos in den Bergen.

Noch einmal sei es gesagt: So in die Berge gehen ist wenig, da ist kein Triumph drin, überhaupt keine auf bewahrenswerten einzelnen Taten - es ist viel, denn es verlangt den vielseitig Geeigneten, den Überallgänger, einen der das Ganze erwandert. Seine Stärke soll es sein, zu erfahren, nicht Siege an sich zu reissen - wo es schliesslich doch keine Siege gibt, nur ein Horchen und Lernen...

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