Die Ebnefluh von Norden
Mit 2 Bildern ( 38, 39 ).
Von Fred Müller
( Bern, S.A.C. Bern ).
Als Skiberg hat die Ebnefluh längst die verdiente Würdigung gefunden. Über den wenig geneigten und bei normalen Verhältnissen harmlosen Ebnefluhfirn lässt sich der 3960 m hohe Gipfel von der Lötschenhütte in drei Stunden bequem erreichen. Dank der Jungfraubahn ist dieser Berg denn auch zu einem der meist besuchten Skihochgipfel des Berner Oberlandes geworden.
Aber auch im Sommer wird die Ebnefluh auf der Normalroute von der Lötschenhütte verhältnismässig oft bestiegen. Geradezu stiefmütterlich vernachlässigt sind demgegenüber die Aufstiege von Norden. Von dieser Seite sieht der Berg allerdings wesentlich abweisender aus. Äusserst steil fällt seine Nordflanke ins Lauterbrunnental ab. Diese nahezu 1000 m hohe, eisgepanzerte Wand ist vom Mittelland aus gut sichtbar, doch wird ihr Eindruck durch die massige Gestalt der Jungfrau stark beeinträchtigt.
Auf der Ostseite wird die Nordflanke durch den vorwiegend schneeigen Nordgrat und westlich durch den felsigen Nordwest- oder Rote-Fluh-Grat begrenzt. Der Nordgrat führt direkt zum Gipfel; demgegenüber schwingt sich der Rote-Fluh-Grat zu einem markanten Turm im Verbindungsgrat Ebnefluh-Mittaghorn empor. Während die dazwischen liegende, gewaltige Eiswand bereits im Jahre 1895 von C. A. Macdonald mit den Eisspezialisten Christen Jossi und Peter Bernet durchstiegen wurde, erhielten die beiden erwähnten Grate verhältnismässig spät den ersten Besuch. Und doch sind es gerade diese zwei Routen, die als klassisch bezeichnet werden dürfen. Der Rote-Fluh-Grat wurde erstmals im Jahre 1922 von den beiden Alpinisten Dr. O. Hug und Dr. H. Lauper begangen. Für die im Jahre 1924 erfolgte Erstbesteigung des Nordgrates zeichnen Capt. J. P. Farrar und Miss Wills mit den Führern Peter Almer ( Vater und Sohn ) und Fritz Boss. Während der Nordgrat seither noch einige wenige Male als Auf- und auch als Abstiegsroute benützt wurde, ist mir von einer Wiederholung des Rote-Fluh-Grates bis zu unserer Begehung nichts bekannt. Der Nordgrat wird am besten im Frühsommer bei gutem, trittsicherem Schnee begangen. Demgegenüber ist eine Erkletterung des Rote-Fluh-Grates nur zu empfehlen, wenn die Felsen schneefrei und trocken sind.
I. Nordgrat.
Der Rottalhüttenweg ist nicht zu Unrecht als einer der heissesten des ganzen Oberlandes bekannt. Diese Feststellung mussten auch Freund Diehl und ich machen, als wir uns und unsere Säcke am frühen Nachmittag des 23. Juni 1934 bei brennender Sonne von Stechelberg gegen die Rottalhütte hinauf schleppten. Je höher man kommt, um so schöner wird der Blick in das hintere Lauterbrunnental. Nach viereinhalb Stunden gemächlichen Marsches betraten wir die Hütte.
1 Tags darauf stehen wir um 4 Uhr marschbereit vor der Hütte. Im Licht der Laterne stolpern wir über grosse Blöcke auf den hier flachen Rottalgletscher hinab. Nach Querung des Gletschers steigen wir vorerst einen steilen Eishang hinauf. Bald jedoch geht das Eis in schlechten Schnee über. Knietief sinken wir ein. In mühsamer Stampferei schreiten wir durch das Spaltengewirr am Fusse der Wand. Glücklicherweise stimmen unsere Beobachtungen vom Vortage: Lawinen haben die im untern Teil als Aufstiegsroute vorgesehene Rinne, welche sich gegen das untere Ende des Schneegrates hinaufzieht, vom schlechten Schnee befreit. Wohl wäre noch die Variante über das Felsbollwerk offen geblieben; der viele Schnee hätte uns jedoch dort sicher arg zu schaffen gegeben.
Lawinenreste erlauben ein bequemes Überschreiten des Bergschrundes. Nachher steigen wir in der Rinne auf hartem Schnee steil hinauf. Bald halten wir uns etwas rechts und benützen hierauf das nächste Couloir. Im Gegensatz zum mühsamen Anmarsch kommen wir hier ziemlich rasch vorwärts. Nur ganz ausnahmsweise klettern wir über die Randfelsen des Couloirs. An seinem obern Ende macht ein Eishang das Schlagen einiger Stufen nötig, worauf wir den eigentlichen Nordgrat, ein Stück oberhalb der letzten Felsen, betreten. Hier können wir uns endlich setzen. Schon tief unter uns liegt der Rottalkessel. Mächtig schwingt sich jenseits die Südflanke der Jungfrau auf, und gut lässt sich von hier der bekannte Rottalaufstieg überblicken.
Von unserem Rastplatz führt ein schmaler Schneegrat zu weniger geneigten Hängen. Der Grat ist in gutem Zustande. Ungemütlich wird es aber an seinem Ende, wo wir uns durch angeblasenen Pulverschnee hinaufwühlen müssen. Möglichst am Rande dieser gefährlichen Masse steigen wir vorsichtig höher, bis wir längs einem Schrunde nach rechts queren können. Es folgen noch einige steile Hänge, worauf wir um 12 Uhr den Gipfel erreichen. Der ganze Aufstieg kostete uns genau acht Stunden. Bei besseren Verhältnissen lässt er sich sicher in kürzerer Zeit bewältigen.
Lange sitzen wir auf dem eine prächtige Aussicht bietenden Gipfel. Mit Genugtuung betrachten wir frische Fußspuren, die gegen die Lötschenlücke hinabführen. Gott sei Dank! Die bevorstehende Schneestampferei lastete wie ein Alpdrücken auf uns. Leichten Schrittes folgen wir den Spuren. Gross ist unsere Enttäuschung, als sich diese Tritte nach dem obersten Steilhang in eine schnurgerade Skispur verwandeln... In einer Art Schlafwandel schwimmen wir bei fürchterlicher Hitze hinab zur Lötschenhütte und weiter das Lötschental hinaus bis Kippel.
II. Rote-Fluh-Grat.
Am 9. Juli 1942 befinden Diehl, Gerber und ich uns wieder im Aufstieg zur Rottalhütte. Auf der letzten Moräne begegnen wir einen Steinbock. Bis auf 30 Meter lässt er uns herankommen, um dann ohne die geringste Aufregung von dannen zu trotten.
Unheimlich ausgeapert sind dieses Jahr ( 1942 ) die. Nordabstürze des Gletscherhorns und der Ebnefluh. Überall glänzt Blankeis, wo in dieser DIE EBNEFLUH VON NORDEN.
Jahreszeit normalerweise noch Schnee liegen sollte. Die Felsen des Rote-Fluh-Grates scheinen völlig trocken, was auf ideale Verhältnisse schliessen lässt.
Anderntags verlassen wir die Hütte um 4.15 Uhr bei reichlich unsicherem Wetter. Andauerndes Wetterleuchten lässt nichts Gutes erwarten. Auf ungefähr gleichem Wege wie vor acht Jahren queren wir den Rottalgletscher. Jenseits steigen wir schräg aufwärts gegen unseren Grat. Einige gewaltige Schrunde zwingen uns zu Umwegen. Nach eindreiviertel Stunden betreten wir an der ohne weiteres gegebenen Einstiegsstelle den Grat. Ein heftiger Westwind pfeift uns kalt um die Ohren. Anfänglich ist der Grat nicht sehr steil und bietet keine Schwierigkeiten. Durch gemeinsames Gehen kommen wir rasch höher. Weiter oben stossen wir vorerst auf einige kleinere Steilstufen, bis sich der Grat ungefähr in der Mitte gewaltig aufschwingt. Die gute Schichtung macht aber auch hier mit wenigen Ausnahmen ein Sichern überflüssig. Wie erwartet, treffen wir überall die besten Verhältnisse. Das Wetter wendet sich auch zum Guten. Allerdings wissen wir aus der Beschreibung der Erstbegeher, dass das schwierigste Stück erst knapp vor dem Ausstieg kommt In mittelschwerer Kletterei nähern wir uns dieser Stelle. Schon befinden wir uns nur noch wenige Seillängen unter dem markanten Turm, der während des ganzen Aufstieges richtungsbestimmend ist. Ein Rückblick lässt uns die Steilheit des Grates erst so recht gewahr werden. Jetzt heisst es, auf einem schmalen, brüchigen Band nach links auf eine kleine Seitenrippe zu queren. Nach einer kurzen senkrechten Stufe legt sich die Wand etwas zurück. Über kleingriffige Felsen schaffen wir uns empor. Grosse Vorsicht erheischt hier das ziemlich brüchige Gestein. Im übrigen bietet diese Stelle bei trockenem Fels keine besonderen Schwierigkeiten. Bei vereisten und verschneiten Felsen, wie sie offenbar die Partie Hug-Lauper antraf, muss dieses Stück allerdings unangenehm und heikel sein.
Leicht quert man hierauf zum Sattel oberhalb des markanten Turmes. Von hier führt ein Geröllband schräg rechts abwärts zu einem Couloir, durch welches man ohne Schwierigkeiten die letzten Felsen wenige Meter unter dem schneebelegten Verbindungsgrat Ebnefluh-Mittaghorn gewinnt. Hier befinden wir uns erstmals in der Sonne. Es ist wenige Minuten nach 11. Ohne die geringste Eile liess sich der Aufstieg in knapp sieben Stunden bewältigen.
Auf das Erreichen des Gipfels verzichten wir, ist seine Besteigung mit anschliessender Überschreitung des Gletscherhorns doch für den nächsten Tag geplant.
In der Nacht herrschte ein Schneesturm. In mühsamer Stampferei gelangten wir anderntags von der Lötschenhütte noch auf den Gipfel der Ebnefluh. Nebel und Sturm trieben uns jedoch auf unseren Aufstiegsspuren zurück, und schöne Pläne mussten unerfüllt zur Seite gelegt werden.