Die Bergsteigerin Maria
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Die Bergsteigerin Maria

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Ernst Jenny.

In einem hochgelegenen Dörflein auf einer Bergscholle des Jura lebte sie wie eine einsame Spartanerin und führte das kleine Postwesen. Vor den drei blanken Fenstern ihrer Wohnung glühten vom Juni bis in den Herbst hinein die schönsten Geranien und neben der niederen Haustüre liessen zwei mächtige Fuchsien ihre rotweissen Röcklein leuchten.

Maria Degen war gross und gut gewachsen. Haltung und Bewegung verrieten etwas Edles. Ihr kühles und strenges Gesicht wirkte verschlossen und abweisend, wurde aber gemildert durch ein erstaunlich reiches Haar, für dessen Pflege sie jeden Morgen wohl eine gute Stunde brauchte. Peter überraschte sie einmal, als sie soeben die Flechtenkrone gelöst hatte und nun die braune Flut bis auf die Knöchel hinunterwellte. In Marias blasse Wangen fuhr das rote Blut, und ihre gescheiten Braunaugen blitzten ihn zornig an. Peter kannte sie nicht mehr, denn ein solches Temperament hatte er in der zehn Jahre älteren Jugendfreundin nicht vermutet.

« PeterWenn du nicht sofort verschwindest, wirst du was erleben! » drohte sie, erhob den Kamm und tat einen heftigen Schritt auf ihn zu.

« Ich habe schon was erlebt », lachte er, legte einen Brief auf den kleinen Schaltersims und ging.

Peter Marcher war der Sohn des Gemeindepräsidenten auf dem Tannhof und studierte mit Leidenschaft Geologie. Er hatte jetzt Sommerferien und lief mit Hammer und Rucksack ganze Tage im Jura herum, nicht selten von Maria begleitet. Die wohlhabenden Eltern waren gar stolz auf ihren Einzigen, besonders der gewaltige Vater, der freilich in seinem Sohne lieber einen künftigen Advokaten und Nationalrat als einen Naturforscher gesehen hätte, während die stillen Wünsche der sanften Mutter nach einem grossen Kanzelredner zielten.

Als Peter nach der Überraschung Marias langsam dem Hofe zuschritt, ging ihm ein Stück Jugend durch den Sinn:

Marias Mutter, die er nur als schöne Greisin in der Erinnerung trug, war seine Gotte gewesen, und er hatte oft bei ihr geweilt, sogar geschlafen. Im geräumigen Hause der Gotte, da war ihm alles erlaubt, und er erlaubte sich damals viel. Am liebsten von ihren vier Kindern hatte er die Maria, obschon diese ihn am wenigsten verwöhnte und sogar streng behandelte. Sie förderte seinen jungen Mut bei jeder Gelegenheit und spottete über jede Beule, die er dabei empfing. Miteinander liefen sie über die starken Spann-bäume des grossen Scheunenstuhls, sprangen auf den Heustock hinunter, stiegen auf die höchsten Leitern, wenn das Obst reif war, rangen miteinander im dörrenden Emdgras, wobei sie ihm manchen Sieg gönnte und nur einmal zornig auffuhr, als er ihre neue Sonntagsbluse zerriss.

Dieses schöne Verhältnis wurde jäh unterbrochen, als eine entfernte Verwandte von Neuchâtel für etliche Sommerwochen im Gottehaus auf Be- such kam. Das war ein bildschönes Fräulein, immerhin etwas klein und rundlich, nicht so gross und kraftvoll wie Maria. Sie hatte die gewinnendsten blauen Augen, ein ewiges Lächeln um den sanften Mund und sang mit einer so vollen Stimme zur Gitarre, dass jung Peter ihr nicht genug zuhören konnte. Dabei vergass er Maria vollständig, die war gar nicht mehr da. Er pflückte für das Welschlein, das so drollig deutsch sprach, jeden Tag Blumen an den Wiesenrainen und fühlte sich im siebenten Himmel, wenn sie ihn dafür auf den Schoss nahm und küsste und ihren Schatz nannte.

Allein diese Herrlichkeit nahm ein rasches Ende. Eines Sonntags erschien ein junger Maler im Gottehaus. Ein freundlicher Mann mit prächtigem, schwarzem Vollbart, ein riesiger roter Schlips blühte darunter hervor und gar verwegen sass ein gelber Panamahut auf dem Lockenkopfe, was Peter ein wenig lächerlich vorkam.

An eben diesem Sonntage hüpfte der Kleine mit einem blauen Salbei-strauss daher, um ihn seiner holden Freundin zu bringen. Aber wie erstarrt blieb er im Hausgang stehen, denn was musste er sehen! In einer Türnische hielten sich Suzanne, so hiess sie, und der Maler zärtlich umschlungen.

« Pfui! » schrie Peterlein, rannte vor das Haus, schmiss die Blumen zu Boden und stampfte zornig darauf herum.

« So ist es recht, so muss es sein. Komm, Peter, wir steigen über den Geissrain auf den Hochwang! » tönte eine Stimme von oben herab. Es war Maria, die Geranien tränkte.

« Das geht dich gar nichts an! » brüllte er und lief heim.

Monatelang erschien er nicht mehr im Gottehaus und führte ein mürrisches Leben. Bis Maria eines Abends in die Stube trat, um dem Vater die verspätete Steuer zu bringen. Ihre klugen Augen prüften den Abtrünnigen und schienen zu sagen: So muss es sein! Er fühlte etwas wie Scham dabei. Inzwischen quittierte der Vater am Pulte, erhob sich dann ungewöhnlich rasch, dass der Stuhl umfiel, hüstelte ganz fremd und brummte: « Der Staat dankt. » Maria sah den grossen Gewalthaber gar nicht an, nahm den Zettel, strich mit der freien Hand rasch über Peters Haar und ging. Von da an verkehrte er wieder täglich mit ihr und tat nur noch wilder.

Bald darauf sagte sein Vater bei Tische, die Maria Degen trage den Kopf zu hoch und steif, die bekomme niemals einen Mann, und wenn sie einen kriege, dann müsse Gott dem ohne Unterlass den Daumen halten.

Klein Peter widersprach in seinem Herzen. Denn Maria war letzthin mit ihm auf den Hochwang gestiegen und hatte ihm die gewaltigen Schneeberge gewiesen, die so unbegreiflich fern und hoch am Himmel standen. Sie hatte ihm sogar einen Blumenkranz auf den Kopf gelegt und seine Brust mit Efeu umrankt. Auch hatte sie mit dunkler Stimme erzählt, sein Vetter Gustav, ein flotter Apotheker in Bern, habe dort drüben an der Jungfrau im Gewittersturm den weissen Tod erlitten... Und er hatte gefragt: Warum ist er denn gegangen? Und sie hatte geantwortet: Weil er musste! Vielleicht geht es dir auch einmal so, dass du musst. Nein nein, Maria war nicht hochmütig, das wusste er besser als der Vater, den er ebensosehr fürchtete als liebte.

Das war vor etwa zwölf Jahren geschehen. Heute ahnte Peter, dass Maria seinen mächtigen Vater ein wenig hasste aus irgendeinem dunkeln Grunde oder nur eifersüchtig war auf den Mann, der die kleine Dorfschaft wie ein König regierte, während ihr eigener Vater als Pintenwirt und Bauer trotz allem säuerlichen Ehrgeiz im Hintergrunde blieb und sich langsam zu Tode trank.

Vielleicht ist sie zu männlich veranlagt? dachte er und glaubte den Schlüssel gefunden zu haben.

Item, Maria hat wirklich nicht geheiratet, hat Vater und Mutter verloren. Dann ist ihr elterliches Haus abgebrannt, ihre Brüder sind nach Amerika gegangen, und die Schwester hat in einem Nachbardorf einen braven Mann gefunden. Und nun stand sie allein da und führte die kleine Poststelle mit peinlicher Treue. Als der Verkehr etwas zurückging, kürzte man ihren bescheidenen Lohn, aber sie verzog keine Miene deswegen und lebte nur noch einfacher. Wie sie es trotzdem fertigbrachte, in aller Stille da und dort Gutes zu tun, war allen Lauen und Egoisten ein Rätsel. Und diese Sorte Menschen ist ja die zahlreichste auf Erden.

Nach aussen schien Marias eine Liebe nur den Geranien und Fuchsien zu gehören. Man munkelte, sie führe Gespräche mit ihnen, denn sie wisse von jedem Maienstock etwas zu erzählen über Charakter und Benehmen: den einen nenne sie Faulpelz, den andern Geizhals, den dritten Dummkopf, den vierten Grosshans. Aber in Wirklichkeit meine sie damit gewisse Menschen, die sie nicht leiden und regieren könne. Die andere Liebe waren ihre einsamen sonntäglichen Spaziergänge auf schmalen Bergpfaden, das Verweilen auf hohen Flühen, das Suchen von Heukräutern. Auch das wurde ihr als Schrulle und höchst unweiblich ausgelegt. Und die dritte Liebe schenkte sie den Büchern, die sie bei der schweizerischen Wanderbibliothek entlieh. Besonders gern las sie Werke von kühnen Forschern, die auf unbekannten Meeren und Gebirgen ihr Leben wagten, oder solche, die von schweren Umwälzungen in der Menschengeschichte erzählten. Hiervon wusste nur Peter, freilich ohne den tiefern Gründen dieses eigenartigen Hungers nahe zu kommen.

Peters Eltern sahen den kleinen Verkehr ihres kostbaren Sohnes mit der armen Maria nicht gern und fanden es lächerlich, wenn ihr gelehrter Student mit der simplen und viel älteren Postjungfer fast jeden freien Morgen in den Kalkflühen herumstieg und Maria ihm geologische Handstücke und Versteinerungen heruntertragen half.

« Was versteht dieses eingebildete Weib von den Steinen! Es schmeichelt ihrem Hochmut, das ist alles », brummte der Vater. « Warum geht sie nie zur Kirche? Sie hätte es doch auch nötig wie andere Leute », meinte die Mutter.

Peter wusste es schon längst anders und schwieg, denn dieser ungerechte Ärger war nur Eifersucht. Seine Eltern liebten ihn ja und liessen ihn mit Stolz und freigebig studieren, was in einem Bergdörflein nicht alle Tage geschieht.

Nach einem schönen Sommer und Herbst überfiel eine böse November-grippe das Land und raffte Peters Eltern rasch dahin. Er selbst blieb gesund, bestand im Frühling das Examen und verkaufte das Erbgut, was Maria wie einen plötzlichen Schmerz empfand... In der Folge kehrte er immer seltener im Jura ein und stets nur für wenige Stunden.

Die bewegte Landschaft der Alpen hatte ihn schon einige Zeit übermächtig ergriffen, in ihrer leidenschaftlichen Grösse fühlte er sich wohler als in den Heimatbergen, die nur an wenigen Stellen ihre gedehnte Ruhe preisgeben. Daran war insgeheim auch jener erste Spaziergang auf den Hochwang mit Maria ein wenig schuld, und ihre Worte über seinen verunglückten Vetter — besonders das gewichtige Sätzlein « Weil er musste » — gingen ihm öfters durch den Sinn. Woher mag sie dieses tiefe Verstehen haben? Hat sie Gustav so gut gekannt? Ihn am Ende heimlich geliebt? Oder ruft in ihr ein ungestilltes Verlangen nach einer andern Welt? Ach, man kann Maria nur ahnen, sagte er sich, schade, dass sie nicht mein Bruder istSie war es und noch viel mehr, aber er merkte es nicht.

Jeden Herbst besuchte er Maria. Wenn er unerwartet bei ihr eintrat, gab es allemal eine sonderbare Anfangsstille. Sie betrachteten einander, als ob sie inzwischen gewachsen und anders geworden wären. Dann huschte ein Lächeln über Marias Antlitz, der strenge Mund bekam einen weichen Ausdruck, und die kräftigen Hände strichen sanft über die saubere Schürze: es war wie eine Liebkosung. Doch das dauerte nur Sekunden, und schon war sie wieder die herbe Spartanerin.

« Deinen Geranien und Fuchsien geht es gut », begann er gewöhnlich das Gespräch.

« Und mir auch », fügte sie trocken hinzu.

Alsbald wünschte sie, dass er von seinen Bergfahrten erzähle, und schob ihm ein schönes Feuerzeug hin: « Du musst rauchen, es läuft dir dann besser. Und hier ist ein Glas Wein aus Vaters Keller, das Feuer hat damals nicht allen verzehrt. » Maria war eine unvergleichliche Zuhörerin. Sie fragte nur am Anfang hin und wieder, wenn Peter etwa stockte und mit einiger Mühe den Plan der Begebenheit umriss. Scheinbar wollte sie alles wissen, wie es sich zugetragen und warum so und nicht anders. Auch an der Art, wie er Erlebnisse und Beobachtungen gestaltete, war ihr viel gelegen. In Wirklichkeit aber hörte sie mehr auf die innern Töne von Peters Stimme und zog daraus Deutung und Schluss. Nicht was ihm die Alpenwelt als solche bedeute, belauschte sie, sondern wie er sich zu jenem Geheimnisvollen verhalte, das darüber schwebt und den Menschen zu entrücken vermag. Davon konnte er nichts sagen, blieb er noch weit entfernt. Sie tat nicht dergleichen, dass sie es merke. Er aber spürte: Sie begleitet mich auf Schritt und Tritt, sieht jedes Bild mit allen Farben und Linien, hört alle Stimmen der Natur, fühlt jede seelische Regung in mir und meinen Kameraden, und darüber hinaus weiss sie noch um ein Anderes aus einer rätselhaften Sicherheit, wie sie Traumwandler und Seher haben.

Diese Erkenntnis machte Peter ein wenig verlegen. Einmal unterbrach sie ihn halblaut: « Das ist nicht wahr! » Es verdross ihn, aber es stimmte. Zu der Korrektur nickte sie bloss. Unglaublich feine Ohren hatte Maria und konnte ein zurechtgelegtes Erinnern nicht ertragen, das verletzte und schmerzte sie.

Wenn sich Peter dann erhob, um auf den Zug zu eilen oder über die in Herbstfarben glühenden Jurahöhen ins Aaretal hinüber zu wandern, brach Maria eine Geranienblüte und steckte sie ihm an. Das war die einzige Gebärde des Dankes für den Besuch, Worte gab es nicht, auch keine Einladung, bald wieder zu kommen.

Als er einmal beim Abschiede fragte, ob sie sich nicht einsam fühle, erwiderte sie kalt: « Sag das nie wieder! » « Ich wollte weder dich noch die Geranien kränken. » « Mir kann niemand wehtun, auch Gott nicht », lehnte sie ab. « Du gehst oben deine breite Strasse, ich habe unten meinen schmalen Weg. » Von da an fragte er nie wieder. Und es war gut so. Sphinx bleibt Sphinx, man muss sie in Ruhe lassen.

Beim Besuch übers Jahr fiel Peter auf, dass Maria abmagerte, ein wenig hinkte und die rechte Hand etwas steif trug. Auch setzte sie sich bald auf einen Stuhl, während sie sonst eine halbe Stunde gestanden und geplaudert hatten, ehe sie Platz nahmen.

« Bist du gestürzt, Maria? » « Wer stürzt nicht einmal im Leben I » lachte sie leise, und ihre klugen Augen wurden merkwürdig gross dabei, als sähe sie in einen dunklen Abgrund.

Sie ist krank, sagte er sich erschrocken, unheilbar krank.

« Peter, hast du Zeit und Lust, mit mir auf den Hochwang zu gehen? » fragte sie ganz unvermittelt und hustete ein bisschen. « Ich bin schon so lange nicht mehr oben gewesen, und heut ist der Himmel so klar und schön. Du hast zwar den Zeus ohne ein paar Wolken um die Stirn nicht sonderlich gern, ich weiss es. Aber vielleicht machst du mal eine Ausnahme? Passt es dir, Peter? » So sanft hatte ihre Stimme nie getönt. Was tun? Zögerte er, würde sie nie mehr bitten, und ging er mit, konnte sie schweren Schaden nehmen. Aber sie gingen doch, Maria etwas hastig und mit kurzen Schritten.

Gleich fiel Peter ihre Haltung auf. Das war nicht mehr jene aufrechte Maria vor zwanzig Jahren. Damals hatten ihre Beine den Leib mit spielender Kraft ohne Anhalt bergauf und bergab getragen, dazu hatte sie erzählt oder ihn auf Blumen und Bäume und jedes Getier aufmerksam gemacht, sogar ein Volkslied gesungen, allerdings nicht so schön wie das Welschlein. Jetzt ging sie leicht gebeugt und sagte kaum ein Wort, blieb öfters stehen und atmete rasch.

Im harzduftenden Tannenwald oben liess sich Maria an einer Stelle nieder, in deren Nähe Muscheln und Ammonshörner zu finden waren. Wie oft hatte Peter als Student mit ihr stundenlang hier herumgestöbert, und wie waren sie über jeden Fund aus der fernen Urmeerzeit glücklich gewesen! Wie so gerne hatte sie ihm zugehört, wenn er in den schönen Eifer des Forschers geriet und von gewaltigen Vorgängen auf und in der Erde dozierte, als habe er eine gelehrte Kennerschaft um sich!

Peter bot Maria aus seinem unvermeidlichen Rucksack einen Apfel an. Sie nahm ihn mit der Linken und mit einer so weichen Bewegung des Dankes, dass er nach der roten Fluh gegenüber schauen musste, um seine Rührung zu verbergen.

Sie ass mit einer wahren Andacht und bei jedem Bissen schaute sie Peter liebevoll an. Als sie damit fertig war, scherzte sie leise:

« Heute bist du der Grosse und ich die Kleine. » Er wusste wohl, dass sie die Grossere war, aber das durfte er ihr nicht sagen.

« Magst du wieder gehen, Maria? » — Nach einer weiteren Stunde sassen sie oben auf dem Hochwang. Sie trafen es gut: kein Menschenkind weit und breit. Und eine so wunderbare Septemberluft ringsum, dass die ganze Schweiz in die Nähe rückte und all ihre Formen und Farben in vollster Schönheit wie zu einer Riesenblüte aufgingen.

« Unsere Heimat »...

Und schon begannen die Weltglocken zu läuten. Aus den dunklen Tiefen der Erde klang es herauf, vom hellen Lichtraum klang es herab, und die beiden Menschen schwangen und klangen mit... Oder war es nur Marias Glöcklein?

« Dort drüben stehen deine weissen Berge », sagte sie nach langem Schweigen.

Peter dachte: Sie ist ihnen näher als ich und hat doch auf keinem gestanden. Sie bietet das volle Herz dar, und ihre Augen fangen alle Glorien ein.

« Maria, jetzt will ich dir ein Kränzlein winden, du hast es damals getan. » « Lass es gut sein, Peter. » Langsam hob sie die Arme, atmete tief und begann die Flechtenkrone zu lösen, bis Schulter und Leib und Glieder von dem herrlichen Schmuck umhüllt waren. In ihrem schmalen Gesichte sah er fast nur die gescheiten guten Augen, wie sie über die langen, hier dunkelgrünen dort roten Waldkämme, die hellen Flühe und angebräunten Weidhänge des herbstlichen Jura hin-glitten, dann durch eine düstere Felsenklus in das von zartem Schimmer überhauchte Tiefland niedertauchten und zuletzt zum fast überklaren Hochgebirge aufstiegen.

Diese schöne grosse Gebärde erschütterte ihn, ohne dass er ihren tiefern Sinn voll zu deuten vermochte. Maria wuchs über sich hinaus. Sie war eine ganz andere als damals, wo er sie überrascht hatte. Sie verliess die Schranken des Lebens und weilte in der Offenbarung, in der Entrückung und Empfängnis.

« Peter, mir ist so wohl wie noch nie. Ich spüre mich gar nicht mehr. Hast du es auch so auf deinen weissen Bergen? » Er schwieg und sah zu Boden.

Ihre Augen umfingen ihn mit durchbrechender Zärtlichkeit und Wohlgefallen. Er merkte es nicht.

« Nicht wahr, Peter, so was kann man in keine Worte fassen. Ich verstehe dich nun bald... Du bist nicht wie dein Vater, du willst nicht regieren und König sein. Du suchst das grosse Abenteuer, das alles erlaubt und heiligt. Du suchst und findest, und wirst es immer wieder tun. Du musst! Es ist in dir. » Dieses Wort Marias legte sich wie ein Alb auf Peters Gemüt. Er schämte sich tief vor ihr, die aus ihm einen Übermenschen schuf, der er niemals war und niemals werden konnte. Aber er wusste zuerst nichts anderes zu sagen als: « Auch regieren ist ein Abenteuer. » Und erst nach einer Weile gestand er leise: « Meine Berge sind nicht so hoch wie die deinen. Maria, meine Seele ist zu träge, zu schwach. Die Entrückung ins Grenzenlose will ihr nicht gelingen. Mir sind nur kleine Schwingungen beschieden. » Sie hörte die bittere Beichte nicht. Denn schon legte sie das Haar in dicke Strähnen und begann sie zu flechten. Fast nur mit der linken Hand, die rechte schonte sie so geschickt, dass er es kaum merken konnte. Nur als sie die schwere schöne Krone sich wieder auflegen wollte, glaubte er einen Seufzer zu hören und half ihr ein wenig ungeschickt nach.

Vom Abstieg ist nicht viel zu berichten. Sie brauchten etwas mehr Zeit als hinauf und waren noch schweigsamer, er aus innerem Druck, sie vor Glück und Körperschmerzen.

Vor der Haustüre nahm er Abschied.

« Peter, wann kommst du wieder? » Während zehn Jahren hatte Maria ihn das nie gefragt.

Im nächsten Sommer geschah ein Unglück in den Alpen. Peter und sein Kamerad stürzten nach einem eisigen Biwak im fürchterlichen Schneesturm über einen wilden Gletscherbruch hinab. Der tapfere Freund war tot, und Peter schaffte sich mit halb erfrorenen Fingern und Zehen, allerhand Wunden und kleinen Brüchen in einem langen Tage mühsam zu Tal. Er wusste erst jetzt um das Grauen des Todes.

Maria vernahm durch die Zeitung davon und schrieb: « Komm zu mir, Peter, wenn du kannst. » — Sie musste warten, denn er wollte keine klägliche Figur vor ihr machen.

Das Wiedersehen fiel ihnen nicht leicht. Beide rissen sich aufs äusserste zusammen und betrachteten sich länger als sonst.

Maria sah nicht gut aus. Ihre rechte Hand war steifer und knorrig geworden, auch in den Gelenken des Ellenbogens und der Schulter haperte es, und das linke Bein schleifte. Peter schien, sogar die andern Glieder seien schon angegriffen und die Augen grösser geworden.

« Du bist noch blass », sagte sie und legte ihre Linke behutsam auf den Arm, den er noch in der Schlinge trug.

« So ein Aderlass tut nicht übel », lachte er gezwungen, « man fühlt sich jünger und ein wenig wichtig. » Sie scherzte: « Du hast wohl manchen Brief erhalten und einen ganz be-sondernAber trink jetzt, Peter, und rauch die Pfeife, damit wir in Stimmung kommen. » Ihre innere Kraft ist noch einmal gewachsen, sie denkt nie an sich selbst und überwindet alles. Das wollte er ihr sagen, aber sie hätte es nicht angenommen.

« Magst du davon erzählen, PeterNur ganz wenig, bloss eine einzige Stelle aus allen? » — Das wurde ihm schwer. Zu grosse Neugier war nach dem Unglück über ihn hergefallen. Wenn es nach Blut und Tod riecht, sind erstaunlich viele Menschen darauf erpicht, das Gruseln zu bekommen. Am liebsten möchten sie von einem sichern Balkon aus Zuschauer sein, wie die verdorbenen Frauen und Männer von Rom, wenn Gladiatoren, Märtyrer und Tiere ihr Blut in der Arena verspritzten. Maria stand weit jenseits von alledem, ihr Anteil kam von Herzen. Das wusste er und begann.

« Als ich lange nach dem Sturz am späten Nachmittag über den grossen Gletscher schritt, brach die warme Sonne durch und löste die finstere Kälte. Jenseits des Eisstromes sah ich einen begrasten kleinen Hang unter beschneiten Felsen und beschloss, dorthin zu gehen und auszuruhen. Der Weg zu den Menschen war ja noch weit...

Der Gletscher senkte sich gehörig am Rande, so dass ich wie in ein stilles Tälchen abstieg... Darin lag ein Weiher klaren Schmelzwassers. Ich setzte mich obenher ins Gras zu einigen Blumen, überlegte mir den Weitergang und nickte ein...

Im Schlafe muss ich mich bewegt haben. Ich spürte plötzlich eine heftige Kälte an Bein und Bauch, erwachte und sass im Weiher... Sogleich knorzte ich hinaus und liess mich wieder bei den Blumen nieder, um in der guten Abendsonne zu trocknen... Ich sah auch zu unserm bösen Berg hinüber, der jetzt leuchtete, als könnte er nie anders sein... Dort unter seinen Felsen sass mein toter Kamerad... Ich hatte für ihn eine Art Sitz im Schnee erstellt und ihn darauf gebracht, dass er schön anlehnen konnte, um auszuruhen nach dem Kampfe... Nach einer Stunde erhob ich mich, stieg auf den Gletscher und ging zu Tal...

Maria, du hast mir erlassen, was vorher geschehen ist und nachher geschah. Ich danke dir. » Als eine tiefe Wohltat empfand es Peter, dass sie lange kein Wort sagte und ihn auch nicht ansah. Was sie dachte und fühlte, vernahm er erst später.

Ein etwa zwölfjähriges Mädchen trat in die Stube und berichtete, es habe die Post ausgetragen. Was es jetzt tun solle?

Erschrocken sah Peter auf Maria.

Sie hob den gesenkten Kopf und sagte gelassen: « Der Verkehr hat wieder zugenommen, es sind einige Ferienleute im Dörflein. Das Telephon wird oft gebraucht, und so kann ich es nicht allein schaffen, bis sie wieder fort sind... Denk dir nur, Peter: Man hat am Hochwang eine Skihütte gebaut, und an der Rotfluh gibt es Abseilkurse für junge Kletterer. Jaja, es wird auch im Jura immer lebhafter und unruhiger. Die Bergbauern schimpfen, es lägen halbnackte Stadtleute auf den Weiden herum, grüne Burschen und geschminkte Dämchen, man müsse Stacheldraht spannen, um Gras und Vieh vor Schaden und Übermut zu schützen... Es ist wohl besser, wir gehen nicht mehr auf den Hochwang. » Peter aber dachte: Sie will mich ablenken, sie will nicht, dass ich mich mit ihr beschäftige und sie frage, wie es um das Befinden stehe. Und ich sollte es doch wirklich tun. Das Beste ist, wenn ich sie hier weg und zu mir nehme. Sie hat es wohl um mich verdient. 0b sie auch kommen wird?

Ehe er etwas sagen konnte, erhob sie sich, trat zum Fenster, brach eine Geranienblüte und fragte ruhig:

« Gehst du wieder auf deine weissen Berge? » Da wusste er: Sie hat sofort erraten, was in mir vorgeht, und will nichts davon wissen. Sie lehnt mich nicht ab, aber sie erträgt kein Geschenk.

« Peter, warum schweigst duDu musst wieder auf deine weissen Berge gehen, du musst! Das ist das grosse Abenteuer deines Lebens, dein schönster Reichtum », fuhr sie fort und steckte ihm die Blume an.

Jetzt musste er widersprechen, es ging nicht mehr anders: « Nein, du Gute, nein! Es ist nicht gross. Du hast mir auf dem Hochwang kaum noch zugehört, als du das Haar flochtest. Alles Abenteuer ist nur ein Ersatz, eine Notdurft. Mein Leib braucht es wie eine Medizin. Ich weiss nicht, wie es sonst um mich stünde. Mein Blut » — « Peter I » Es klang wie Drohung und Entsetzen.

Und dann ganz milde: « Du bist noch schwach, hast viel gelitten. Dein Blut ist gesund, ganz gesund, Peter. Glaub es mir!... Und das andere muss die grosse Sehnsucht sein, die viele von uns Menschen brauchen... Geh jetzt, Peter!... Es war nicht recht von mir, dich zu reizen. Das nächste mal wirst du anders reden... Wir wollen dann wieder einmal lachen wie damals auf den Scheunenbalken und Baumleitern... Weisst du noch, wie wir hoch oben einen Vierhenkel rote Herzkirschen miteinander gegessen und dann die Steine um die Wette über die Äste hinaus ins Gras gespuckt haben? Gelt, du weisst es noch?... Du hast den Sieg gehabt und mich aus gepfiffen. » « Nein, Maria, ich habe dich frech in die Wade geklemmt. Du darfst nicht alles an mir beschönen, sonst werde ich hässlich. » « Das kannst du ja gar nicht, Peter, » lächelte sie, « sonst wärest du längst fort oder überhaupt nicht zu mir gekommen. » Und nun begann wahrhaftig eine regelrechte Scherzerei, wobei alle gemeinsamen Erinnerungen aus der Jugendzeit aufblühten und dufteten.

Ein glanzvoller Winter kam. Der junge Professor Peter Marcher hatte sich restlos erholt und fuhr manchen Sonntag auf Ski über die weissen Hänge der Voralpen, meist allein oder nur in kleiner Gesellschaft.

Unerwartet schrieb Maria: « Auch auf dem Hochwang liegt guter Pulverschnee. Du könntest einmal herüberfahren und deine braunen Wangen zeigen. » Die Zeilen waren mit Bleistift mühsam hingekritzelt, wie von einer fremden Hand.

Peter zögerte nicht lang und fuhr hin. Es war herrlich auf dem Hochwang. Marias Haar müsste jetzt noch viel schöner leuchten, fiel ihm ein und plötzlich wusste er: sie lebt nicht mehr lange. Rasch glitt er die Weiden und Wälder hinab den blauen Schatten des Dörfleins zu.

Am Eingang zur Post empfing ihn die Schwester Marias mit verweinten Augen und flüsterte: « Sie stirbt. » Die Alpen — 1939 — Les Alpes.32 Er trat ein und ärgerte sich über das Geräusch seiner schweren Schuhe.

Da lag sie im geblümten Bett und schien schon erloschen zu sein. Ihr Antlitz war wenig verändert, nur die Stirn hatte etwas unglaublich Reifes bekommen und der Mund alles Herbe verloren. Das Haar war aufgetan und floss über Kissen und Decke.

Erschüttert beugte er sich zu ihr nieder, um sie anzureden.

« Peter, ich habe — dich schon gehört. Lieb von dir », flüsterte sie, öffnete die Lider und lächelte. « Wie braun — du bistDu hast — gesundes Blut, Peter. Es wird dich — nie verlassen. Ich kann dir — die Hand nicht reichen. Anna, gib du ihm die — Geranie! » — Sie hat die Blumen vom Gärtner aus der Stadt kommen lassen, die ihren blühen im Winter nicht, sagte er sich und bis auf die Zähne.

« Wann — gehst du — wieder auf — unsre — weissen — Berge, Pe — ter? » — Marias Augen öffneten sich noch mehr, sie sahen das grosse Geheimnis und entrückten...

Er legte die rote Geranie auf ihr braunes Haar.

Nach der Bestattung empfing Peter ein sorgfältig gebundenes Paket, er solle es daheim öffnen. Es enthielt eine sauber und schön geführte Handschrift Marias.

Er las stundenlang und las wieder, oft mit Tränen und grosser Kümmernis.

Maria erzählte darin von all seinen Bergfahrten, die sie von ihm vernommen hatte. Und wiel — Nichts war vergessen: Kein Bild, keine Begebenheit, keine Erkenntnis, mochten sie noch so unbedeutend sein. Sie brauchte fast genau seine Worte. Dazwischen aber schob sie Gefühle, Gedanken und Visionen so geschickt und selbstverständlich, als ob er selbst sie gehabt hätte. Sie machte aus ihm immer wieder jenen grossen Abenteurer, dem alles erlaubt und heilig ist.

Am ergreifendsten dünkte ihn die Erzählung von seinem Erlebnis am Gletscherweiher. Maria hatte sich hier restlos in die innersten Vorgänge seiner gequälten Seele eingefühlt, wie wenn sie ihn unsichtbar begleitet und als schirmender Geist vor Selbstvernichtung bewahrt hätte.

Wie konnte sie das nur fertig gebracht haben? Das war doch viel mehr als blosse Begabung?

Peter wusste es jetzt ganz klar: Maria war der grosse Abenteurer, nicht er. Sie war mit ihm auf die weissen Berge gegangen als seine geheimnisvolle Ergänzung. Er war Blut und Verstand, sie aber die hohe Liebe, die nichts verlangt und sich verbergen kann.

Schmerzvoll schrieb er unter den letzten Satz:

Es gibt Menschen, die nie auf hohen Bergen geweilt haben und dennoch von ihnen mehr gesegnet sind als die Zünftigen. Maria, warum hast du mich verlassen?...

Zwei Jahre darauf stürzte Peter Marcher im Alleingang am Weisshorn zu Tode.

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