«Die Bartgeier stehen für die letzten Wildnisgebiete der Alpen»
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«Die Bartgeier stehen für die letzten Wildnisgebiete der Alpen» Die Rückkehr des grössten Greifvogels Europas

Die Wiederansiedlung des Bartgeiers in den Alpen ist eine Erfolgsgeschichte. Der Beweis dafür ist der wild schlüpfende Nachwuchs. Jetzt gilt es, den Lebensraum zu bewahren. Zu Besuch bei einem Jungvogel im Horst.

Zügig marschieren wir die Alpstrasse hoch und lassen die Alphütte rasch hinter uns. Es ist ein schöner Morgen im Juni, die Luft ist noch frisch, und irgendwo rauscht ein Bach. Weit und breit sind keine anderen Menschen zu sehen. Bald wird es flacher, und an einem lichten Arvenwald hält David Jenny kurz inne. Noch bevor er seinen Feldstecher gezückt hat, sagt er: «Da ruft ein Wendehals. Auf dieser Höhe ist das aussergewöhnlich, den muss ich melden.» Der Schnee ist erst vor ein paar Tagen geschmolzen, aber bereits blühen die ersten Blumen: Soldanellen, Krokusse und Alpenanemonen.

Doch wir sind nicht wegen des Wendehalses und auch nicht wegen der schönen Alpenblumen hier: Im Ofenpassgebiet brüten Bartgeier. Näher soll das Gebiet nicht beschrieben werden, um die brütenden Vögel vor neugierigen Besuchern zu schützen. Wir queren einen kleinen Bach mit glasklarem Wasser, der über eine Ebene mäandriert, und blicken zu einem Felsriegel. Und dort, im Übergang vom Geröll zum Fels, fliegt ein Bartgeier auf und setzt sich ganz in der Nähe auf ein lustiges Felstürmchen. Wo der Bartgeier aufgeflogen ist, befindet sich der Horst, gut versteckt unter einem Felsvorsprung. Von blossem Auge ist er für Laien nicht zu sehen. Aber David Jenny, der die Bartgeier als Regionalkoordinator für die Stiftung Pro Bartgeier und die Vogelwarte Sempach nun seit 22 Jahren begleitet, muss nicht suchen. Mit ein paar flinken Handgriffen hat er das Fernrohr aufgestellt und auf das weit entfernte Nest gerichtet. Auf dem Horst, einer Anhäufung aus Ästen, ausgepolstert mit Steinbockwolle, sitzt der Jungvogel. Er ist dunkel, fast schwarz, und beinahe schon so gross wie ein ausgewachsenes Tier. «Mitte Januar haben sie angefangen zu brüten, Mitte März ist er geschlüpft», sagt David Jenny. Er macht für das Bartgeiermonitoring die Brutkontrollen im Kanton Graubünden und notiert alles fein säuberlich in einem Notizbuch. Im Kanton Graubünden brüteten diesen Sommer zwölf Bartgeierpaare.

Mama Rätia und Papa Ingenius

«Das Ofenpassgebiet hat eine historische Bedeutung: Hier oben hat nach 120 Jahren erstmals wieder ein Bartgeier in der Schweiz gebrütet», sagt David Jenny. Der Bartgeier wurde in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet. «Bekanntlich gab es 1886 in Vrin einen letzten Brutnachweis.» 1913 wurde der wohl letzte Bartgeier in den Alpen in Italien erlegt (siehe Seite 49). 1986 startete das Wiederansiedlungsprojekt, elf Jahre später brüteten die ersten Bartgeier in Frankreich und ein Jahr danach auch in Italien.

Bis zur ersten Schweizer Brut musste David Jenny sich bis 2007 gedulden. «Der erste Horst lag hier im Ofenpassgebiet nur 130 Meter von der Grenze zu Italien entfernt.» Beim brütenden Paar handelte es sich um Rätia und Livigno. Mit rund 90 Tieren ist die Zahl der Bartgeier in der Schweiz noch überschaubar, und die meisten tragen Namen. Rätia wurde im Jahr 2000 im Südtirol ausgewildert, Livigno ist ein wild geborenes Männchen gleichen Jahrgangs aus Italien. 2013 trennten sich ihre Wege. Livigno tat sich mit einem anderen Weibchen zusammen, und Rätia verpaarte sich neu mit Ingenius, der 2010 im Kanton St. Gallen ausgewildert worden war. Bemerkenswert findet David Jenny, dass diese beiden Paare nun sehr nahe beieinander brüten: «Sie kennen sich alle bestens, die Expartner begegnen sich auch heute noch täglich.» Partnerwechsel kommen immer wieder vor, manchmal bleiben zwei Tiere aber auch lebenslang zusammen. Im grenznahen Italien würden zwei Vögel schon seit 20 Jahren ein Paar bilden. Sie hätten 16 Junge zusammen grossgezogen. «Es gibt alle Varianten, wie bei uns Menschen», sagt David Jenny.

Durch das Fernrohr beobachtet der Biologe nun den Altvogel, um herauszufinden, ob es sich um Rätia oder um Ingenius handelt. «Er ist stark rot eingefärbt», sagt er. Ein Hinweis darauf, dass der Bartgeier vor Kurzem an einer eisenoxidhaltigen Quelle gebadet hat. «Das machen ausnahmslos alle, ungefähr alle eineinhalb Monate», sagt David Jenny. Aber warum sich die Bartgeier die Federn rot färben, weiss auch er nicht. «Zuerst habe ich mir deswegen fast das Hirn zermartert. Aber eigentlich ist es ganz schön – so etwas Zentrales, und wir tappen völlig im Dunkeln, warum sie es tun.»

Wenn der schlaue Kolkrabe kommt

Dem Jungen im Horst, das wir durchs Fernrohr abwechslungsweise beobachten, scheint es gut zu gehen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn immer wieder mal misslingen Bruten auch. An einem anderen Ort im Graubünden etwa endete der Brutversuch in diesem Frühling, nachdem ein Teil des Horsts abgestürzt war. Auch Rätia und Ingenius hatten im letzten Jahr keinen Erfolg. «Die Brut scheiterte wegen Kolkraben», sagt David Jenny. Vermutlich hätten die Kolkraben sie so lange geärgert, bis einer der Bartgeier einen der Unruhestifter verfolgt habe. Diesen Moment habe ein anderer Rabe genutzt, um ins Bartgeiernest zu fliegen. «Kolkraben sind sehr schlau», sagt er. Wegen der Kolkraben wurde dieser Horst aber überhaupt erst entdeckt. Zuvor hatte David Jenny ihn lange gesucht, denn er hatte das Paar in einem anderen Talabschnitt beim Kopulieren beobachtet. «Aber hier hatte ich nicht gesucht.» Es ist ein neuer Horst und kein offensichtlicher Brutplatz. Oft übernehmen Bartgeier nämlich auch Horste von Steinadlern.

In den nächsten zwei bis vier Wochen wird der Jungvogel ausfliegen. «Er ist bald reif», sagt David Jenny. «Gegen Abend hüpft er jeweils im Horst auf und ab und trainiert seine Flügel.» Als der Altvogel wieder zu ihm in den Horst fliegt, fängt das Junge an zu betteln: Es öffnet und schliesst den Schnabel, als würde es etwas kauen. «Vermutlich hat es am frühen Morgen schon etwas bekommen», sagt der Biologe. An Nahrung mangle es den Bartgeiern nicht, dafür sorgten die grossen Steinwildkolonien und auch andere Wildtiere. Bartgeier ernähren sich nämlich zum grossen Teil von Knochen, die sie dank ihrer sehr starken Magensäure gut verdauen können. Diese Nahrungsnische macht ihnen hierzulande niemand streitig.

Elf junge Bartgeier in der Schweiz

In diesem Sommer sind in der Schweiz elf Jungtiere ausgeflogen, und im ganzen Alpenraum waren 38 Bruten erfolgreich. Insgesamt sind damit seit der Wiederansiedlung im ganzen Alpenraum 271 Bartgeier wild geschlüpft. In der Schweiz waren es bisher 82 Tiere. Bartgeierpaare haben in der Schweiz bis jetzt in den Kantonen Graubünden und Wallis erfolgreich gebrütet. Knapp drei Viertel der Bartgeier sind im Kanton Graubünden wild geschlüpft.

 

Die Gründe dafür, warum manche Bruten nicht klappen, sind unterschiedlich. «Oftmals ist es schwierig, die genauen Ursachen zu bestimmen», sagt Daniel Hegglin, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Bartgeier. Neben ungünstigen Wetterbedingungen in den ersten Lebenstagen der Junggeier könnten auch Kolkraben oder Adler das Brutgeschäft stören. «Besonders problematisch sind aber Störungen durch den Menschen», sagt er. Wildtierfotografen, die keine Rücksicht nähmen, Basejumper oder Hängegleiter, aber auch Kletterrouten oder Helikopterflüge im Horstbereich könnten zum Abbruch der Brut führen und damit zum Absterben des Embryos oder des Kükens.

 

Bis 2018 wurden im Rahmen des Wiederansiedlungsprojektes in der Schweiz insgesamt 47 Bartgeier ausgewildert. Die letzten zwei Jungtiere, Finja und Fredueli, wurden 2018 in Melchsee-Frutt ausgewildert. Ihnen geht es laut der Stiftung Pro Bartgeier bestens. Da die beiden Vögel mit Sendern ausgestattet sind, kann die Stiftung ihre Streifflüge durch den Alpenraum verfolgen.

Kein Bartgeiertourismus

Die Wiederansiedlung des Bartgeiers ist eine Erfolgsgeschichte. «Das ist der Beweis», sagt David Jenny in Richtung Horst. Den Alpenbartgeier gibt es allerdings nicht mehr, der ist unwiderruflich ausgestorben. Aber die genetische Mischung aus Bartgeiern aus dem Kaukasus und den Pyrenäen, wo es noch autochthone Populationen gibt, sei dem Alpenbartgeier äusserlich so ähnlich, dass man keinen Unterschied sehe. Mittlerweile ist die Population in der Schweiz schon so gross, dass hier nur noch Bartgeier von der Stiftung Pro Bartgeier ausgewildert werden, die die noch schmale genetische Basis verbessern. Heuer gab es keine geeigneten Tiere, weshalb auf eine Auswilderung in der Innerschweiz verzichtet wurde.

Die Öffentlichkeitsarbeit sei zu Beginn des Projekts sehr wichtig gewesen, heute gelte der Bartgeier als Sympathieträger. Für das Überleben des grössten Schweizer Brutvogels seien die Voraussetzungen im Ofenpassgebiet optimal: Lebensraum, Nahrung und Akzeptanz seien vorhanden, und der Grund für die frühere Ausrottung, die direkte Verfolgung, sei praktisch kein Thema mehr, obwohl seltenerweise noch illegale Abschüsse vorkommen würden. Das Gebiet im und um den Nationalpark sei heute dichter besiedelt als alle anderen bekannten Bartgeiergebiete in Mitteleuropa. «Dennoch braucht der Bartgeier Schutz, der Bestand bleibt klein und verletzlich», sagt David Jenny.

Wir gehen weiter, um den Horst noch von einer Anhöhe aus zu beobachten. Der Himmel ist zartblau, verziert mit ein paar Zirruswolken. In den Mulden und an den höher gelegenen Hängen liegt noch Schnee. «Es ist eine der abgeschiedensten Gegenden», sagt David Jenny. Das Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Italien sei kaum besiedelt und wenig erschlossen. «Deshalb sind die Bartgeier hier», sagt er. «Sie stehen für die letzten Wildnisgebiete der Alpen. Dazu sollte man Sorge tragen. Eine Region nicht zu erschliessen, sollte auch einen Wert haben.» Die Bedeutung der letzten Wildnisgebiete sei nicht hoch genug einzuschätzen. Er bedauere es darum, dass in der Schweiz kein weiterer Nationalpark zustande gekommen sei.

Die Störung während der Brutzeit sei eine der grössten Gefahren für die kleine Bartgeierpopulation in der Schweiz. «Ich wehre mich deshalb gegen den aufkommenden Bartgeiertourismus», sagt David Jenny. Die Nachfrage wäre vorhanden, aber er sagt: «Es muss nicht immer um uns gehen, dem Menschen geht es hier ja gut.» Und wenn es dem Bartgeier auch gut gehen solle, dann sei es wichtig, ihn in Ruhe zu lassen.

Harmonische Beziehung zwischen Jung und Alt

Von unserem neuen Standort aus haben wir einen perfekten Blick auf den Horst. Der Altvogel sitzt bei seinem Jungen im Nest. «Ein harmonisches Bild – das ist ein gutes Zeichen», sagt David Jenny. Plötzlich fliegt das Elterntier weg und segelt knapp über dem Boden davon. Jetzt kreist der Bartgeier am Himmel, und die Zeichnung des Gefieders ist deutlich zu sehen. «Es ist Rätia», sagt David Jenny bestimmt. Plötzlich taucht ein weiterer Bartgeier am Himmel auf, ein Jungvogel vom letzten Jahr. Beide fliegen davon. Doch nach einem grossen Bogen kehrt Rätia zum Brutfels zurück. Wir packen unsere Sachen zusammen und machen uns auf den Rückweg. «Wir wollen sie auf keinen Fall stören», sagt David Jenny. Als wir ein letztes Mal zum Horst zurückblicken, sitzt die Bartgeiermutter wieder beim Jungen im Nest.

Autor / Autorin

Anita Bachmann

Steckbrief des Bartgeiers (Gypaetus barbatus)

Gewicht: 5 bis 7 kg

Länge: 1 bis 1,15 m

Flügelspannweite: 2,6 bis 2,9 m

Geschlechtsmerkmale: keine äusserlichen Unterschiede

Lebensraum: Gebirge

Nahrung: Knochen verendeter Tiere und Aas

Paarungszeit: November und Dezember

Eiablage: Dezember bis Februar

Brutdauer: 53 bis 55 Tage

Erster Flug: 110 bis 130 Tage nach dem Schlupf

Geschlechtsreife: im Alter von 5 bis 7 Jahren

Erste erfolgreiche Brut: durchschnittlich mit 8 bis 9 Jahren

Fortpflanzungsrate: 1 Jungtier alle 1 bis 2 Jahre

Lebenserwartung: in Zoos bis zu 50 Jahre

Die Namen der Bartgeier

Auch wild geschlüpfte Bartgeier erhalten Namen, vorausgesetzt, es übernimmt jemand die Patenschaft. Diese kostet 2500 Franken. Götti oder Gotte von einem Bartgeier können Organisationen, Firmen oder Privatpersonen werden. Sie dürfen dann einen Namen für den Junggeier aussuchen. Alle Infos unter www.bartgeier.ch.

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