© Valott
Die Badewannen Eine Kurzgeschichte von Roland Lombard
Mit einem Augenzwinkern erzählt der Westschweizer Autor, unter welchen Umständen er sein erstes Hanfseil geschenkt bekommen hat.
Meine ersten Erfolge im Klettern konnte ich schon in jungen Jahren verzeichnen. Einmal gelang es mir, ganz hinauf auf das Küchenbuffet zu klettern, wo meine Grossmutter ihre Konfitüregläser lagerte. Und prompt blieb ich dort zwischen dem Möbel und der Zimmerdecke stecken. Mein Jammern rief umgehend die ganze Familie herbei. Die Stimmung war aufgeladen, und man stellte mir eine Tracht Prügel in Aussicht. Egal wie laut ich «Kinderquäler!» schrie, der Ton wurde immer energischer. Endlich bekam ich ein Bein frei und fiel meinem Vater in die Arme. Dabei kam auch ein Glas mit, und die Marmelade verteilte sich im ganzen Zimmer. Dem Vater rutschte die Hand öfter aus, als uns lieb war. Die Details erspare ich Ihnen.
Einige Jahre später las ich sehr interessiert in einem Jugendheft, wie man beim Abseilen ein Seil um den Körper legen konnte. Ich wühlte in den Schätzen, die meine Vorfahren hinterlassen hatten, und fand ein Seil, das mir tauglich schien, diese Technik zu erproben. Das gelbliche Tau lag im Estrich herum. Länge und Durchmesser konnten sich sehen lassen. Ich nahm es und machte mich auf – natürlich nicht ohne zuvor zu prüfen, ob diese Wäscheleine nicht beim ersten zünftigen Zug reissen würde.
Der Salève1 war mit dem Fahrrad gut erreichbar. Ich musste dort nur noch eine passende Stelle für mein Vorhaben finden. Zuerst entschied ich mich für einen abgelegenen Platz, um mich nicht vor anderen lächerlich zu machen. Aber nachdem ich die Möglichkeit eines tödlichen Unfalls erwogen hatte, empfand ich es als wünschenswert, dass mein Körper innerhalb nützlicher Frist aufgefunden werden würde. So schien mir ein gut sichtbarer Felspfeiler die bessere Wahl – um meiner Familie unnötiges Leid zu ersparen. Eine Art Felssporn über dem Sentier du Pas de l’Echelle, etwas abseits der Massen, bot mir die Gelegenheit, mich nach der auswendig gelernten Theorie anzuseilen und zu testen, ob der Knoten hielt. Und so konnte ich feststellen, dass die richtige Methode des Anseilens durchaus ihren Zweck erfüllte.
Beflügelt von der gewonnenen Erkenntnis, gelang es mir an einem anderen Tag, meine Schwester zu überreden, mich zu begleiten. Eine kurze Einführung und einige Versuche auf den Felsblöcken verliefen wunschgemäss. Es sah aus wie in einem Werbefilm, und der Aufstieg erfolgte ohne Zwischenfälle. Dann jedoch entschied ich mich für den Abstieg über den Sentier des Etiolets. Eine kühne Route, eine Kombination aus leichtem Klettern und Wandern. Das Drama begann an einer Stelle, die man «Les Baignoires» nennt, zu Deutsch «die Badewannen»: einem Mantel aus Kalkgestein mit grossen Vertiefungen, an denen man sich problemlos halten kann. Nicht sehr steil, aber steil genug, um sich beim Abseilen nicht abstrampeln zu müssen.
Ich legte also als Erster los und kam auf Anhieb bis zum Flachstück. Mutig folgte mir meine Schwester. Aber auf ihren letzten Metern riss das Seil, es folgten ein abrupter Sturz und viel Glück bei der Landung. Badewannen? Für uns war das eher eine kalte Dusche! Keine Verletzungen, aber flatternde Nerven! Da waren wir also. Wir sassen fest, hoch über den Dächern von Genf. Schlotteranfälle und Höhenangst machten sich bemerkbar. Glücklicherweise fand sich in meinem Rucksack neben den Resten unseres Picknicks eine kleine Flasche Schnick2 aus dem väterlichen Vorrat. Ein Schluck aus der Pulle, und schon wurden wir zuversichtlicher.
«Nur die Ruhe!»
«Sollen wir beten?»
«Das ist nicht der Moment, um Aufmerksamkeit zu erregen! Noch einen Schluck?»
Die Emotionen legten sich, und es dämmerte uns, dass das nicht die Eiger-Nordwand war, also entschieden wir uns für den Ausweg nach oben. Zügig nahmen wir die leichte Kletterei in Angriff, als …
«Wir Idioten! Warum machen wir nicht einfach einen Knoten ins Seil?»
Gründlich studierten wir die gerissene Kordel und versuchten, die zerfledderten Enden wieder fest miteinander zu verknoten, Faser um Faser. Eine Sisyphusarbeit, die stundenlang dauerte und von der unsere Finger ganz klamm wurden. Das Ergebnis war alles andere als zufriedenstellend. Eine gefühlte Ewigkeit später wurde uns klar, dass ein einfacher Sackstich auch reichte. Wieder einen Schluck Schnick, um die Moral zu heben, und ich machte mich ans Abseilen. Doch unser Seil wollte nicht mitspielen. Im untersten Teil der Strecke riss es an einer anderen Stelle. Meine Schwester schrie, denn sie sah ihren Bruder bereits fatal abstürzen. Dank einer reflexhaften Bewegung, die eines griechisch-römischen Ringkämpfers würdig war, konnte ich eine verhängnisvolle Rutschpartie abwenden. Mein Kopf landete in einem Büschel Alpenklee (ein Nieser erbrachte den Beweis für die Qualität der Pollen).
Der Mond stand schon hoch am Himmel, als wir unsere Velos einstelltenund die Tür zu unserem Haus öffneten. Der Empfang war entsprechend. «Solche Sorgen haben wir uns gemacht! Wie kann man bloss so dumm sein! Und diesen Trottel füttern wir durch!»
Nach dieser Episode und dank der Fürsprache meiner Schwester spendierten mir meine Eltern mein erstes Kletterseil. Ein echtes. 60 Meter Hanf mit neun Millimetern Durchmesser. Ein ruppiger Gefährte, der sich in jedem Karabiner verdrehte und tausend- und abertausendmal entwirrt und aufgerollt wurde.
Heute ist es über 60-jährig, taugt aber immer noch. Ich verwende es, wenn ich in meinem Garten einen Baum schneide oder entferne und an den Ästen ziehen muss. Gestern war ich mit einer grossen Buche beschäftigt, als es plötzlich riss und mich in einen Weissdornbusch warf.