Die Alpen im Bild
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Die Alpen im Bild Vom Unort zum Hotel Europa

Die Meinungen über die Berge wandeln sich stetig: Ort des Grauens, Heiligtum, Tourismusdestination. Die Veränderungen in der Wahrnehmung spiegeln sich in der bildlichen Darstellung der Alpen.

Fest und unverrückbar erstreckt sich der Alpenbogen quer durch Europa. Veränderlich und den Konjunkturen der Zeit unterworfen waren dagegen die Meinungen, die im Verlauf der Zeit über die Alpen verbreitet wurden. Als sie zum ersten Mal ins Bewusstsein traten, wurden sie als Ort des Grauens und Schreckens wahrgenommen. Niemand suchte sie grundlos auf. Lange Zeit verharrten sie in einer halbmythischen Urzeit.

Eine Änderung trat erst ein, als um das Jahr 1700 englische Geistliche anfingen, sich näher mit dem Thema zu befassen. Sie verglichen die biblischen Überlieferungen mit den geologischen Befunden. Der bedeutende Schweizer Naturhistoriker Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733) folgte ihnen. Trotz seinen Bedenken gegenüber der fehlenden «regularitet» der Gipfel, mass er dem Hochgebirge eine Nützlichkeit bei. Einen Schritt Richtung Idealisierung der Alpen tat der Dichter und Universalgelehrte Albrecht von Haller (1708–1777) mit seinem Lehrgedicht «Die Alpen». Mit einem Mal waren die Alpen prächtig und erhaben.

 

Wandel der Einstellung zur Natur

Möglich geworden war diese neue Betrachtungsweise, weil sich im europäischen Geistesleben eine tief greifende Wandlung in der Einstellung zur Natur vollzogen hatte. Von nun an wurde die Alpenwelt wegen ihrer vielen Reize aufgesucht, und mehr als eine Reise fand ihren Niederschlag in einem Buch. Die dänische Dichterin Friederike Brun war überwältigt, konnte kaum atmen «und wagte keinen Blick zu verwenden, damit das Zauberbild nicht plötzlich wie eine Seifenblase vor mir zerplatzte! Denn dass das alles wirklich sei, und morgen und übermorgen, und Monate und Jahre lang so bliebe – bei jedem Abendrot wieder in solcher Pracht lächelte, schien mir unbegreiflich. Ich genoss es, als käme es nie wieder.»

Wie ihr erging es unzähligen Besuchern. 50 Jahre lang dauer­te die Jubelstimmung. Die Schweiz wurde das erste Reiseland Europas. Um 1800 trat ein weiterer Wechsel ein. Der deutsche Philosoph Hegel kehrte aus dem Haslital zurück und war erleichtert, als er über den Vierwaldstättersee fuhr, mit den Alpen hinter und der Aussicht auf eine sanft ausgebreitete Hügellandschaft vor sich. Die Alpen hatten ihn nur «das Müssen der Natur» gelehrt. Heinrich Zschokke vertrat mit seinem Werk Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte (1836) die Übergangszeit, bis um 1850 die urbane Schweiz die Alpeneuphorie definitiv ablöste.

 

Frühphase der Alpenaufrüstung

Aber sofort setzte ein neuer Zeitabschnitt ein, ein neuer Boom. Englische Touristen kommen in die Schweiz (Whymper, Tyndall), erklettern die bisher unersteiglichen Gipfel und führen den Skisport ein. Hotelpaläste werden gebaut für ein zahlungskräftiges Publikum, zum Beispiel auf der Rigi, wo Gustave Flaubert sich tödlich langweilt, Mark Twain den Sonnenaufgang verschläft und Alphonse Daudet sich in seinem Roman Tartarin dans les alpes über die Frühphase der Alpenaufrüstung mokiert. Bergbahnen machen Naturerlebnisse breiter zugänglich und lösen eine neue Gipfelstürmerei aus: Die Alpen werden touristisch erschlossen.

Erschlossen? Sagen wir eher: implementiert, industrialisiert, möbliert. Der Widerstand dagegen setzt auf der Stelle ein. Ein Beispiel für viele: Der Sozialtheologe Leonhard Ragaz erhebt in seinem Werk Die neue Schweiz (1917) den Vorwurf, dass «das Heiligtum unserer Alpen» in das «Hotel Europas» verwandelt wird.

Der gleiche Vorwurf ertönt mit Maurice Chappaz’ Kritik an den «Zuhältern des ewigen Schnees» heute erneut, angereichert um die Diskussion über Zweitwohnungen und die Pauschalbesteuerung reicher Ausländer. Und während eine durch Krise und Wetterkapriolen nervös gewordene Fremdenindustrie die Alpen ihren Erwartungen und Bedürfnissen unterwirft, wehren sich Organisationen wie die Commission Internationale pour la Protection des Alpes (Cipra) dagegen, dass die Alpen in einen «Mount Disney» verwandelt werden. In der aktuellen Alpendiskussion heissen die Stichworte Schutz, Mässigung, sanfter Tourismus. Das hatte es zuvor noch nie gegeben.

 

Vom Fürchterlichen zum Erhabenen

Der Wandel in der Wahrnehmung der Alpen spiegelt sich in den visuellen Darstellungen, die durch die Zeiten hindurch eine laufende Veränderung erfahren haben. Als Teil der Landschaftsmalerei bilden sie lange Zeit kein klar umrissenes Thema, weshalb die Künstler zunächst auch der Bergdarstellung ratlos gegenüberstehen. Umso üppiger wuchern fraktale Formen und fantastische Figurationen. Im besten Fall bilden Landschaften und Berge einen oft im Bildhintergrund verschwindenden Schauplatz für Heilige, Eremiten und religiöse Motive.

Erst mit dem «Fischzug Petri» von Konrad Witz lässt sich 1444 eine frühe relativ realistische Landschaftswiedergabe des Genfersees mit Môle, Petit Salève und der Kette des Mont Blanc am Horizont erkennen. Die gleiche Aussicht hat später Ferdinand Hodler unzählige Male wiedergegeben.

 

Aus eigener Anschauung

Lange Zeit wurde alles Wissen aus Büchern, zum Beispiel der Bibel, gewonnen. Ein grosser Fortschritt war es daher, als Konrad Gessner 1555 den Pilatus bestieg und Johann Jacob Scheuchzer zwischen 1701 und 1711 mehrere Exkursionen in die Alpen unternahm, weil beide sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf eigene Beobachtungen stützen wollten. Im gleichen Geist begab sich auch der Maler Caspar Wolf in den 1770er-Jahren zum Malen in das Lauterbrunnental. Aufgrund von Entwürfen vor Ort führte er im Winter im Ate­lier seine Werke aus und kehrte im darauffolgenden Jahr noch einmal an denselben Ort zurück, um sie auf ihre Genauigkeit zu prüfen. Von diesem Augenblick an konnte von einer eigenständigen Landschaftsmalerei «nach der Natur» gesprochen werden. Zehn kolorierte Umrissstiche nach Caspar Wolf veröffentlichte der Verleger Abraham Wagner 1776/77 im Portfolio Merkwürdige Prospekte aus den Schweizer-Gebürgen.

Begleitet wurde Wolf vom Berner Pfarrer und Naturforscher Jacob Samuel Wyttenbach, der einen erklärenden Reisebericht dazu verfasste. Auf dessen von Balthasar Anton Dunker gestochenem Frontispiz ist der Maler, der Staubbach und rechts unten Wyttenbach selbst zu sehen, der sich erläutern lässt, wie die Höhe des Wasserfalls mit Seilen gemessen wurde.

 

Chiffren für Transzendenz

Die Alpen rufen Gefühle der Schönheit und gleichzeitig des Schauers hervor. Dieser widersprüchliche Eindruck wird in der Theorie und Literatur mit dem Begriff «Erhabenheit» bezeichnet und in der Malerei unter anderem durch den Blick in lichte Höhen und fürchterliche Abgründe sowie den Grössenvergleich von überragender Natur mit der Winzigkeit der menschlichen Gestalten ausgedrückt. Bei Wolf kommt die Neigung zu auffallenden, ungewöhnlichen Landschaftsformationen hinzu.

Zugleich werden die höchsten Berggipfel als Chiffren für Transzendenz herangezogen, für eine Vision der Welt, die über die materiellen Gegebenheiten hinaussieht. In der Romantik erhält diese Auffassung einen künstlerischen Ausdruck, zum Beispiel im ikonengleichen Watzmann (1824) von Caspar David Friedrich oder in Werken von Joseph Anton Koch mit dem Haslital bei Meiringen oder dem Schmadribachfall, in denen klassizistische und idealisierende mit fantastischen, fast surrealistischen Stilelementen zusammenstossen. Die Vertreter der Genfer Schule mit Alexandre Calame, François Diday und anderen verfolgen gleiche Ziele und rufen bewusst Wechselbäder der Gefühle hervor.

Während die romantische Malerei ihre Blütezeit erlebt, verkaufen die sogenannten Kleinmeister (Johann Ludwig Aberli, Gabriel Lory père und fils neben anderen) ihre kleinformatigen idyllischen, pittoresken, von allem Alpenpathos befreiten Schweizer Veduten an reiche Reisende als Erinnerungsstücke. Es war der Anfang der Souvenirindustrie.

 

Die Alpen als Vorlage für visuelle Konzepte

Der englische Maler William Turner (1775–1851) bereiste die Schweiz mehrmals. Seine Gemälde von Städten und Bergen sind wahre Farborgien. Ein entscheidender Richtungswechsel in der Wiedergabe der alpinen Bergwelt lässt sich hier feststellen. Es geht nicht mehr um deren topografische Darstellung, sondern um die Umsetzung eines gegebenen Motivs in eine persönliche künstlerische Sprache. Das Gleiche gilt später für Ferdinand Hodler, der unter anderem die Dents du Midi mit dem Genfersee oder den Niesen mit dem Thunersee im Vordergrund als Vorwand verwendet für künstlerische Kompositionen und für ein visuelles Konzept, das er Parallelismus nennt. Bei Samuel Birmann und nach ihm eindrücklich auch etwa bei Ernst Ludwig Kirchner (Amselfluh, 1922) lässt sich erkennen, wie die Bergwelt zu einer Vorlage wird, um Seelenzustände der inneren Unruhe in eine bildhafte Form zu gestalten.

 

Fotografie in Kunst und Werbung

Mit dem französischen Fotografen Auguste-Rosalie Bisson, der 1861 und 1862 den Mont Blanc besteigt und als Pionier die Hochgebirgsfotografie als eigene Gattung begründet, wird die junge Kunst der Fotografie zu einem neuen Medium der Alpenwiedergabe.

Seit ungefähr der gleichen Zeit verbreiten auch Ansichtspostkarten (heute eher MMS-Postcards) das Bild der Alpen weitherum. Viel besuchte Aussichtspunkte und bedeutende Örtlichkeiten, die schon in den Reiseführern von Karl Baedeker eine zentrale Bedeutung einnahmen, erhalten den Vorrang. Auch die Werbung bedient sich der Alpen für den Support der Warenpromotion und -zirkulation, und in den Tourismusprospekten mit eingezeichneten Skipisten, Tourenvorschlägen, Bergbahnen und Angaben über die Infrastruktur wird ein der Gegenwart angemessenes Bild der Dienstleistungsalpen vermittelt.

 

Die zugerichteten Alpen

Heute treten wir in das virtuelle Zeitalter ein. Auf dem Inkjet-Print «Bergstation 2» (2008) aus der Serie «Vue des Alpes» der Basler Künstler Monika Studer und Christoph van den Berg sieht man Gipfel, Felsabhänge, eine Seilbahnsta­tion, Schneefelder, Wolken, aber nichts davon entspricht einem natürlich existierenden Vorbild. Alles Sichtbare ist computergeneriert. Das Landschaftsbild kann mit Versatzstücken willkürlich arrangiert werden. Die Ironie dabei ist, dass diese Künstlichkeit den Umstand konterkariert, in welchem Mass die Landschaft heute nach den Anforderungen der Tourismusindustrie zurechtgestückt wird, mit Pisten, Liften und Sesselbahnen, Beschneiungsanlagen, Wasserreservoirs, Bier- und Bratwurstständen im Gelände. Was im Kunstbereich ein Stilprinzip ist, stellt sich in der Praxis als Dekomposition der Natur heraus.

So, wie sich die bildliche Wiedergabe der Alpen ändert, so sind auch die Alpen selbst einer permanenten Transformation ausgeliefert. Sie werden zu dem gemacht, was der Genfer Ethnologe Bernard Crettaz einmal «théâtre des montagnes» genannt hat. Alpentheater. Theateralpen. Ein Trauerspiel.

Aurel Schmidt

Aurel Schmidt und Rolf A.Stähli, Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte, Verlag Huber, Zürich 2011

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