Die Achttausender
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Die Achttausender

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von G. O. Dyhrenfurih

Mit 1 Bild ( 10St.. Gallen, Sektion Uto ) Im Frühjahr 1944 ging eine Notiz durch die Tagespresse, ein « Neuntausender » sei entdeckt worden. Ein Korrespondent der « News Chronicle » bei einem amerikanischen Fliegerstützpunkt in Westchina meldete, ein Pilot, der über die Wolkendecke emporstieg und eine Höhe von 9300 m über Meeresniveau erreichte, habe plötzlich bemerkt, dass er neben sich einen Berghang hatte, dessen Gipfel noch einige hundert Meter über der Flughöhe des Apparates lag. Nach Angabe des Piloten soll sein Höhenmesser einwandfrei funktioniert haben. Das würde also heissen, dass es im chinesisch-tibetischen Grenzgebiet ein Bergmassiv von rund 9500 m Höhe gäbe, etwa 600 m höher als Mount Everest ( Chomo Lungma ) ( 8882 m ). Es klingt etwas abenteuerlich, und gegenüber Sensationsmeldungen der angelsächsischen « Schnellpresse » ist bekanntlich eine gewisse Vorsicht geboten. Immerhin wird damit wieder einmal eine wissenschaftlich wie bergsteigerisch sehr bedeutungsvolle Frage angeschnitten, die schon früher viel Aufsehen erregte.

Als ich auf meiner Himalaya-Expedition 1930 in Indien war, erschien eines Tages eine ganz ähnliche Meldung in den Zeitungen: Ein australischer Missionar, J. H. Edgar, habe im chinesisch-tibetischen Grenzgebiet einen vergletscherten Riesenberg beobachtet und sogar skizziert. Dieses gewaltige Massiv, zunächst « Gangka » genannt, sei etwa 30 000 Fuss9144 m ) hoch, überrage also noch den Mount Everest. Das war natürlich für uns eine höchst aufregende Neuigkeit, um so mehr als Mount Everest ja bekanntlich für jeden Nichtbriten gesperrt ist1. Glücklicherweise brauchte man nicht sehr lange zu warten, bis von diesem geheimnisvollen Hochgebirge genauere Kunde kam. Es war die Expedition Arnold Heim/Ed. Imhof 1930 2. Der Minya Gongkar oder, wie die Amerikaner ihn schreiben, Minya Konka wurde zunächst auf etwa 7700 m Höhe bestimmt, nach neueren Vermessungen sogar auf « nur » 7587 m. Es ist ein mächtiger, formenschöner Berg, immerhin noch rund 1300 m niedriger als Chomo Lungma ( Mt. Everest ). Der amerikanischen « Sikong-Expedition 1932 » gelang die Eroberung des Minya Gongkar durch Terris Moore und R. L. Burdsall am 28. Oktober 1932 3. Somit ist uns dieses weltentlegene Hochgebirge jetzt in grossen Zügen bekannt.

Eine merkwürdige Parallele: Auch der Minya Gongkar galt einst als « Neuntausender ». Auch der Minya Gongkar befindet sich in der neuen chinesischen Provinz Hsikong, an der Ostgrenze von Tibet, also in derselben Gegend wie der neue rätselhafte « Neuntausender X » der « News Chronicle ». Daher liegt der Verdacht nahe, dass der amerikanische Flieger bei unsichtigem 1 Bisher jedenfalls waren Everest-Expeditionen eine rein britische Angelegenheit; Bergsteiger anderer Nationen waren davon ausgeschlossen. Wird man darin nach dem zweiten Weltkrieg weitherziger sein?

2 Vgl. z.B. Arnold Heim: « Minya Gongkar. Forschungsreise ins Hochgebirge von Chinesisch Tibet. » Verlag Hans Huber, Bern, 1933.

3 Vgl. G. O. Dyhrenfurth: « Die Siebentausender. » « Die Alpen » 1942, Heft 2, S. 59.

Wetter am Minya Gongkar gewesen ist und dass sein Höhenmesser eben doch nicht einwandfrei funktionierte. Die meisten Metallbarometer arbeiten leider in den grossen Höhen ziemlich ungenau. Auf unseren beiden Himalaya-Expeditionen 1930 und 1934 haben wir wiederholt feststellen müssen, dass unsere — vor der Ausreise genau geprüften — Aneroide nicht nur hinsichtlich der Höhenangaben ihrer drehbaren Skalen, sondern auch in ihren Luftdruckangaben recht unzuverlässige Werte geliefert haben. Allerdings müsste der Höhenmesser des amerikanischen Fliegers einen Fehler von rund 2000 m gemacht haben, und das ist natürlich bedenklich viel.

Andererseits ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Berg von etwa 9500 m im tibetisch-chinesischen Grenzgebiet bisher unbekannt geblieben wäre. Früher gehörte Hsikong ja tatsächlich zu den am wenigsten bekannten Gebieten der Erde, aber seit den erwähnten Expeditionen der Zürcher Gelehrten und der amerikanischen Bergsteiger ist das wesentlich anders geworden. Obendrein ist Chungking nun schon seit einer Reihe von Jahren die Hauptstadt des unabhängigen China, und dadurch sind auch die Gebiete westlich von Chungking, an der chinesisch-tibetischen Grenze, einigermassen erschlossen worden.

Ein Berg von 9500 m Höhe wäre auf grosse Entfernung sichtbar. Wie weit? Genauer ausgedrückt: Wie gross wäre bei vollkommen klarer Sicht und Anwendung aller optischen Hilfsmittel ( Feldstecher, Infrarot-Photographie usw. ) der Radius des Gesichtskreises unter Berücksichtigung der Erdkrümmung und der Strahlenbrechung? Wenn dieser 9500 m hohe « Berg X » am Meere stünde, würde man von seinem Gipfel etwa 370 km weit sehen. In Hsikong, inmitten einer Umgebung von rund 2000 m Meereshöhe, dürfen wir aber nur die Differenz zwischen 9500 und 2000, d.h. 7500 m der Berechnung der Sichtweite zugrunde legen, was eine Verminderung auf rund 330 km bedeutet. Diese Zahl erhöht sich jedoch wieder sehr wesentlich, wenn wir nicht von der Bergspitze bis zum Hochland, sondern von Gipfel zu Gipfel rechnen. Nehmen wir den Minya Gongkar ( 7587 m ), der ja tatsächlich bestiegen wurde und dessen bei strahlendem Wetter photographiertes Gipfelpanorama wir haben 1. Vom Minya Gongkar hat man über einem 2000 m hohen Bergland einen Gesichtskreis von. etwa 283 km Radius. 283 plus 330 = 613 km. Man würde also vom Minya Gongkar aus in 613 km Entfernung gerade noch die Spitze eines 9500 m hohen Berges sehen. Das würde allerdings nicht genügen, um diesen angenommenen Neuntausender X als hohen Berg ansprechen zu können. Runden wir also energisch nach unten ab: In 500 km Entfernung hätte man vom Minya Gongkar aus den ganzen oberen Teil eines Neuntausenders noch deutlich sehen müssen. 500 km entsprechen etwa der Distanz Zürich—Paris.

Wenn man sich das einmal klar gemacht hat, sieht man erst recht, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein Berg höher als Mount Everest im chine-sisch-tibetischen Grenzgebiet der Aufmerksamkeit bisher entgangen sein soll. Unwahrscheinlich... gewiss! Aber ganz unmöglich? Mit diesem Urteil kann 1 R. L. Burdsall and A. B. Emmons: Men against the clouds. The conquest of Minya Konka. Fig. 62. Harper Brothers, 1935.

man gar nicht vorsichtig genug sein. Absolut unmöglich ist es trotz allem nicht. Unsere Kenntnisse von Ost-Tibet sind tatsächlich noch recht lückenhaft. Mit Recht spricht Terris Moore von « the vast undulating plateau of Tibet, broken here and there by isolated snow ranges, mysterious and remote ».

Hoffen wir, dass ein paar Jahre nach dem Ende des grossen Krieges die Aero-Topographie uns auch auf diese leisen Zweifelsfragen eine klare Antwort geben wird. Dann erst werden wir mit mathematischer Gewissheit sagen können, ob Chomo Lungma, die Göttinmutter des Landes Tibet, endgültig « der Gipfel der Welt » ist und bleibt.

So viel über diese alte und jetzt wieder akut gewordene Frage. Nun zu unserem eigentlichen Thema:

Noch immer stellen die Achttausender die oberste sicher bekannte Rang-klasse dar. Für die nachfolgende Zusammenstellung bildet also die 8000-Meter-Linie die untere Grenze 1. Wir kennen bisher 14 Achttausender, womit selbständige Berge, nicht bloss verschiedene Gipfel eines und desselben Berges, gemeint sind. Von diesen 14 Giganten befinden sich 10 im eigentlichen Himalaya, 4 im Karakoram. Vollständig und in der — wahrscheinlich — richtigen Reihenfolge sind sie von mir 1939 zum ersten Male zusammengestellt worden 2. Diese Tabelle gilt auch heute noch, enthält aber eine Mindestzahl, die sich in Zukunft erhöhen kann und wahrscheinlich auch erhöhen wird, vor allem durch Neuvermessung und Neuberechnung. Es gibt nämlich hart unter der 8000-Meter-Linie mehrere « grosse Siebentausender », von denen der eine oder andere einmal zum Achttausender befördert werden könnte. Besonders denke ich da an Nepal. Ferner wollen wir nicht vergessen, dass ziemlich grosse Gebiete in Hochasien, vor allem in Tibet, noch nicht genau bekannt sind und Überraschungen bringen könnten — wenn auch wahrscheinlich keine Neuntausender, so doch vielleicht Achttausender.

Die Eroberung der Siebentausender war im vollen Gange.Vor dem zweiten Weltkrieg verging kaum ein Jahr, wo nicht mehrere — meistens allerdings « kleine Siebentausender » — bezwungen wurden. Die Achttausender aber, diese wahren « Gipfel der Welt », haben bisher allen Angriffen getrotzt. Manchmal war der Sieg scheinbar zum Greifen nahe, aber noch ist keines Achttausenders Spitze von eines Menschen Fuss betreten. Zwar hat man am Mount Everest und am K2 wiederholt grössere Höhen als 8000 m erreicht, aber... nicht den Gipfel. « Die Spitze ist des Berges Symbol, und nur wer seine Eisaxt dem Riesen auf das Haupt pflanzen kann, ist Sieger! » Es ist fast, als ob die Achttausender, diese « Throne der Götter », mit magischen Abwehrkräften ausgestattet wären. Warum glückte es sogar bei einem so grossen und schweren Siebentausender wie der Nanda Devi ( 7821 m )? Und warum kam bei Achttausendern immer etwas dazwischen? Wie ich 1939 1 8000 m = 26 248 ft. Wer also nach englischen Fuss rechnet, wird unsere Grenzziehung als etwas willkürlich empfinden. Aber schliesslich sind ja alle Grenzen etwas mehr oder weniger Künstliches.

2 G. O. Dyhrenfurth: « Baltoro, ein Himalaya-Buch », S. 88/89. ( Verlag Benno Schwabe, Basel, 1939. ) schrieb1: « Es ist eine sehr lange Reihe verschiedenartiger „ unglücklicher Zufälle, " über die man ein ganzes Buch schreiben könnte. Wer selbst um Chomo Lungma, Kangchendzönga oder Nanga Parbat gerungen hat, wer auch nur die Geschichte dieser Kämpfe aufmerksam verfolgte, weiss Bescheid. Ob er diese mit unheimlicher Regelmässigkeit auftretenden Zwischenfälle, die schon so viele Opfer gekostet haben, rationalistisch oder mystisch deutet, ist „ Geschmackssache ". Es gibt verschiedene Ausdrucksformen für ein und dasselbe. » Es bleibt der Nachkriegszeit und der jungen Generation der Himalaya-Bergsteiger vorbehalten, diesen Bann zu brechen.

Damit unsere Zusammenstellung für den Bergfreund, Alpinisten und Wissenschafter möglichst vielseitig verwendbar wird, enthält sie bei jedem der 14 Achttausender, so weit angängig, folgende 12 Angaben:

a ) Die laufende Nummer, der Höhe nach geordnet, also der Platz in der Rangliste, und der Name des Berges bzw. sein Vermessungszeichen.

b ) Die Übersetzung oder Deutung des Namens, so weit mir bekannt.

c ) Die Höhe in m und in ft. ( englischen Fuss ).

d ) Die Höhe in m, bis zu welcher der Berg bisher bestiegen wurde.

e ) Die geographische Breite ( nördlich ).

f ) Die geographische Länge ( östlich ).

g ) Das Gebiet bzw. die Berggruppe.

h ) Eine kurze Zusammenstellung der bisherigen Ersteigungsversuche.

i ) Die allerwichtigste Literatur. Es soll hier also nicht etwa eine vollständige Bibliographie gegeben werden — was den Rahmen dieser Arbeit sofort sprengen würde —, sondern nur eine kurze Anleitung, wo man sich über den betreffenden Gipfel näher unterrichten kann.

k ) Ein Hinweis auf leicht zugängliche Abbildungen.

l ) Bergsteigerische Winke. m ) Geologische Notizen.

1. a ) Chomo Lungma oder Mount Everest.

b ) Über die richtige Übersetzung bzw. Deutung des alten tibetischen Doppelnamens sind die Sprachforscher sich nicht ganz einig. Am wahrscheinlichsten ist: « Göttinmutter des Landes. » Das Ch wird wie Tsch gesprochen, daher die auch übliche Schreibweise: Tschomo Lungma. Die englische Benennung ist der einzige Personenname, den die Survey of India für einen Himalaya-Gipfel anerkennt. Sir George Everest, englischer Ingenieur, hat grosse Verdienste um die trigonometrische Vermessung Indiens, die von der Survey unter seiner Leitung in den Jahren 1823—1843 bis zum Himalaya ausgedehnt wurde. Er hat den weltberühmt gewordenen Berg nicht selbst entdeckt. Die hohen Himalaya-Gipfel waren von der indischen Ebene aus angepeilt worden, die Berechnungen wurden in Dehra Dun und Calcutta vorgenommen. Dabei stellte sich 1852 heraus, dass einer von ihnen, « Gipfel 1 « Baltoro », S. 193.

!

XV », 29 002 ft. hatte und damit der höchste bisher bekannte Berg der Erde war. 1857 wurde dieser Gipfel Sir George Everest zu Ehren benannt. Von der Existenz des alten einheimischen Namens Chomo Lungma wusste man damals noch nichts. Die Gleichsetzung von Mount Everest und Gaurisankar, die später jahrzehntelang üblich war, erwies sich endlich als Irrtum. Der Gaurisankar ist nur 7145 m = 23 440 ft. hoch und liegt 58 km westlich von Chomo Lungma ( Mt. Everest ).

c ) 8840 m = 29 002 ft. ist die alte Zahl, an der die Survey of India offiziell noch immer festhält. Man hat aber vor fast 100 Jahren die Lichtbrechung noch nicht ganz richtig eingesetzt. Wir wissen jetzt, dass der Mount Everest etwa 40—50 m höher ist. Die « offiziöse » Zahl, die schon auf manchen ( nichtamtlichen ) Karten steht, ist 8882 m = 29 142 ft. Es handelt sich dabei also nicht um eine neue trigonometrische Vermessung, sondern nur um eine neue Berechnung unter Berücksichtigung der Lichtbrechung.

d ) Grösste bisher erreichte Höhe etwa 8500 m, also rund 380 m unter dem Gipfel.

e ) 27° 59'16 " nördlicher Breite.

f ) 86° 55'40 " östlicher Länge.

g ) Ost-Himalaya, Grenze von Tibet und Nepal.

h ) 1921: Die erste Everest-Expedition diente einer ersten Erkundung und kartographischen Übersichtsaufnahme der ganzen Gruppe. Am 24. September 1921 erreichten G. L. Mallory und C. H. Bullock vom östlichen Rong-buk-Gletscher aus den Chang La oder « Nordcol » ( 7007 m ).

1922: Die zweite Everest-Expedition brachte die ersten entschlossenen Angriffsversuche auf den Gipfel selbst. Am 21. Mai — also in der Zeit vor dem Monsun — drangen Mallory, E. F. Norton und T. H. Somervell gegen die Schulter im NE-Grat ( 8348 m ) bis zu einer Höhe von 8225 m vor. Am 27. Mai erreichte der zweite Stosstrupp, der aus George Finch und Geoffrey Bruce bestand, auf breiten Felsbändern am NW-Hang des NE-Grates sogar 8300 m 1.

1924: Auf der dritten Expedition wurde, wie auf der zweiten, das Hochlager IV im Nordcol ( 7007 m ) aufgeschlagen, oberhalb des Chang La aber diesmal nicht bloss eines, sondern zwei weitere Lager: Camp V bei 7710 m und Camp VI bei 8140 m 2. Von dort wurden zwei Angriffe unternommen:

Am 4. Juni drangen Norton, der Expeditionsleiter, und Somervell auf der « Finch-Route » bis etwa 8500 m vor. Sie gingen ohne Sauerstoff-Apparate und hatten sehr schönes, fast windstilles Wetter. Gegen Mittag musste Somervell wegen starker Halsbeschwerden3 aufgeben und zurückbleiben. Norton ging 1 Die ersten drei Everest-Expeditionen sind so oft besprochen worden und so allgemein bekannt, dass ich glaube, mich da ganz kurz fassen zu können.

2 Hier gibt es eine kleine Unstimmigkeit. Beim Anstieg zum Lager VI ( 1924 ) kam man an der höchsten von Mallory, Norton und Somervell 1922 erreichten Stelle vorbei. Entweder lag also Camp VI höher als 8225 m oder — was wahrscheinlicher ist — dieser 1922 erreichte Punkt unter der NE-Schulter hatte in Wahrheit nur etwa 8125 m.

3 Man muss selbst einmal mit diesem entsetzlichen, krampfartigen « Höhenhusten » und den dadurch bedingten Erstickungsanfällen gekämpft haben, um dafür volles Verständnis zu empfinden.

allein noch eine Stunde weiter, bewältigte in dieser Zeit aber nur noch 270 m Horizontal- und 30 m Vertikaldistanz. Er überschritt noch das grosse Couloir, das knapp nordöstlich der Spitze, unter der Schlusspyramide, ausmündet. Dann war auch er durch Zeitmangel und Erschöpfung zur Umkehr gezwungen.

Am 8. Juni schritten Mallory und A. Irvine mit Sauerstoff-Apparaten auf der Gratroute zum Angriff, von dem sie nicht mehr zurückkehren sollten. Über dieses tragische Geheimnis ist bekanntlich seitdem schon sehr viel gemutmasst und geschrieben worden, sachlich und poetisch, vernünftig und « weniger vernünftig ». Wie hoch die beiden damals wirklich gekommen sind, wissen wir nicht. Dass sie den Gipfel erreicht haben, ist nicht absolut ausgeschlossen, aber recht unwahrscheinlich.

Ich persönlich vermute: Der berühmte « second step », ein bei 8577 m befindlicher, reichlich 30 m hoher, senkrechter Abbruch im NE-Grat, würde, wie wir heute wissen, auch in geringerer Meereshöhe ein sehr ernstes Hindernis und auf alle Fälle ausserordentlich schwere Kletterei bedeuten. Diese « zweite Stufe », die den NE-Grat sperrt, erwies sich wahrscheinlich für Mallory und Irvine als unüberwindlich. Noch am gleichen Tage zur « Norton-Traverse » in der NW-Wand abzusteigen und dort den Angriff fortzusetzen, war die Zeit wohl schon zu weit vorgeschritten. Darum entschlossen sie sich vermutlich, ins Lager VI zurückzukehren. Bei diesem Abstieg passierte das Unglück. Vielleicht ist Irvine, der ja noch ein alpiner Neuling war, auf den dachziegelartig liegenden, sandigen Schiefern ausgeglitten. Mallory legte rasch seinen Pickel beiseite, um beide Hände für das Seil frei zu haben, wurde aber trotzdem auf den wenig Sicherungsmöglichkeiten bietenden Platten mitgerissen. Der Eispickel ( von Willisch, Täsch ), den Wyn Harris und Wager am 30. Mai 1933 knapp 20 m unter dem Hauptgrat und 250 östlich der « ersten Stufe » fanden, markiert die Unfallstelle. Natürlich ist auch das nur eine Hypothese, aber wenigstens eine, die mir ziemlich viel Wahrscheinlichkeit zu haben scheint. Sicheres werden wir wohl nie darüber erfahren. Chomo Lungma, die « Göttinmutter », wahrt ihr Geheimnis.

1933: Neun Jahre vergingen, bis alle diplomatischen Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt waren und der Dalai Lama, der Priesterkönig von Tibet, die Genehmigung zu einer neuen Everest-Expedition erteilte. 1933 gab es sogar zwei Everest-Unternehmen:

1. Die vierte Everest-Expedition unter Leitung von Hugh Ruttledge. Das Basislager und die Camps I—V wurden an den üblichen Stellen errichtet, aber Hochlager VI wurde diesmal noch weiter vorgetrieben, nämlich bis 8350 m. Von dort aus erfolgten zwei Angriffe:

Am 30. Mai 1933 erkundeten P. Wyn Harris und L. R. Wager zunächst die Route über den NE-Grat, wobei sie, wie bereits erwähnt, einen Eispickel der verschollenen Partie Mallory-Irvine fanden. Sie gelangten schliesslich zu dem gleichen Ergebnis wie Norton 1924, nämlich, dass der Hauptgrat praktisch ungangbar sei, vor allem wegen der « zweiten Stufe ». Diese Erkundung hatte ihnen aber an einem schönen und ruhigen Tage drei wertvolle Stunden gekostet. Trotzdem versuchten sie auf den bekannten Bändern der NW-Flanke noch einen Vorstoss zum Gipfel. Sie querten das grosse Couloir etwas höher oben als Norton, doch war die Traverse dort schwieriger und zweifellos weniger günstig. Etwa 50 m jenseits des Couloirs gelangten sie zu einer steilen Rinne mit Pulverschnee, deren Betreten offenbar gefährlich war. Überdies war es bereits 12.30 Uhr mittags, und beide waren schon stark erschöpft. Sie hatten etwa die gleiche Stelle erreicht wie Norton 1924 — rund 8500 m, vielleicht ein paar Meter mehr — und traten nunmehr auf der « Norton-Traverse » den Rückzug an. Um 16 Uhr waren sie im Lager VI, wo inzwischen Smythe und Shipton als zweiter Sturmtrupp eingetroffen waren; darum stiegen sie noch am gleichen Abend nach Camp V ab.

Am 31. Mai war das Wetter schlecht, es schneite. Am 1. Juni aber konnten F. S. Smythe und E. E. Shipton zum Angriff schreiten. Leider musste Shipton wegen starker Magenbeschwerden aufgeben und nach Camp VI zurückkehren. Smythe ging allein weiter und gelangte schon um 10 Uhr vormittags zu ungefähr der gleichen Stelle wie Wyn Harris und Wager. Durch den Neuschnee, der am Vortage gefallen war, hatten sich die Verhältnisse noch verschlechtert; obendrein war Smythe allein. Auch er sah sich gezwungen zu verzichten; schon um 13.30 Uhr war er wieder in Lager VI. An Zeit hatte es diesmal also nicht gefehlt. Bereits am Abend des gleichen Tages setzte Sturm ein, der Monsun begann, die Expedition musste abgebrochen werden.

2. Die Houston-Mount-Everest-Expedition fand in einer zweimaligen Überfliegung des Everest-Gipfels, am 3. und 19. April, ihre Krönung und brachte reiche photographische und filmische Beute heim. Zweifellos war das für 1933 ein grosser Erfolg der englischen Flugzeug-Industrie und eine bemerkenswerte organisatorische und fliegerische Leistung aller Beteiligten. Aber wer da von einer « Eroberung des Everest » oder gar von einer « Bezwingung des Himalaya » redet, wie die Tagespresse es damals tat, der hat von diesem ganzen Problem, seinem Ernst und seiner menschlichen, bergsteigerischen und wissenschaftlichen Bedeutung keinen Hauch verspürt!

Wenige Monate später, am 15. Januar 1934, verursachte das gewaltige « Bihar-Nepal-Erdbeben » furchtbare Schäden und Menschenverluste. Tausende von Wohnhäusern, darunter die Paläste des Maharaja von Nepal, stürzten zusammen, nur die Tempel blieben so gut wie unversehrt. Als aufgeklärte abendländische Menschen sagen wir: Es war ein grosses tektonisches Beben, das mit der noch jetzt andauernden Hebung des Himalaya im Zusammenhang steht, und die Tempel sind offenbar solider gebaut als die menschlichen Wohnstätten. Aber wir dürfen uns nicht wundern, dass diese Katastrophe von der nepalischen und tibetischen Bevölkerung als göttliche Strafe für die freventliche Chomo-Lungma-Überfliegung aufgefasst wurde.

1934: In stärkstem Gegensatz zu der Everest-Flugexpedition, die mit reichen Geldmitteln und allen Errungenschaften der Technik arbeitete, steht der romantische Versuch des Einzelgängers Maurice Wilson. Als Tibeter verkleidet, denkbar primitiv ausgerüstet, nur mit drei Kulis, schlich er sich in Tibet ein. Er gelangte zum Rongbuk-Kloster und drang bis zum Platz von Camp III ( 6400 m ) vor. Weiter zu gehen weigerten sich seine Träger — begreiflicherweise. So versuchte er mehrmals allein, den Nordcol zu erreichen, doch ohne Erfolg, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist. Er starb an Er- Schöpfung und Kälte; seine Leiche wurde 1935 in der Nähe von Lager III gefunden. Ob wirklichkeitsfremder Idealist oder fanatischer Rekordjäger — jedenfalls hat er sein Leben entschlossen für seinen Wunschtraum geopfert.

1935: Die Erlaubnis des Dalai Lama war so spät gekommen, dass die Zeit für eine grosse Everest-Expedition nicht mehr ausreichte. Um aber die nun einmal vorliegende Bewilligung nach Möglichkeit auszunützen, wurde rasch unter der Leitung von E. E. Shipton eine kleine, bewegliche Erkundungs-Expedition organisiert. Am Everest selbst kam man nur bis zu dem so wohl bekannten Nordcol ( 7007 m ); dann zwang der Monsun, der in diesem Jahre ausnahmsweise erst am 9. Juli eintraf, zum Rückzug. Aber in der ganzen Everest-Gruppe wurde tüchtige Pionierarbeit geleistet: Erstbesteigung von drei Siebentausendernx und zahlreichen Sechstausendern, reiche photographische Ausbeute, wertvolle stereophotogrammetrische Aufnahmen durch den tüchtigen jungen Topographen Michael Spender usw. Es sind vor allem die beiden Kundfahrten von 1921 und 1935, denen wir unsere Kenntnis des ganzen Everest-Gebietes zu verdanken haben.

1936: Die sechste offizielle Everest-Expedition war ein vollständiger Fehlschlag. 1935, in dem Jahre, wo niemand rechtzeitig zur Stelle gewesen war, kam der Monsun mit reichlich drei Wochen Verspätung. Wenn man da, wie üblich, gegen Ende April in Rongbuk gewesen wäre, hätte man zehn Wochen lang fast ständig gutes Wetter gehabt, und die felsige NW-Flanke des Everest war bis zum 8. Juli aper. Dagegen 1936: Am 25. April war die Expedition in Rongbuk angekommen. Eine sehr gute, sachkundige Leitung ( Hugh Ruttledge ), eine grossartige Organisation, eine mit äusserster Sorgfalt ausgewählte erstklassige Mannschaft — alle Voraussetzungen für einen Erfolg schienen erfüllt. Am 7. und 8. Mai wurde Camp III eingerichtet, am 13. Mai Camp IV im Nordsattel. Aber bereits am 30. April hatten leichte Schneefälle begonnen, der Zustand der Felsen wurde immer schlechter, am 18. Mai gab es auf dem Nordcol schon zwei Fuss Neuschnee und am 20. Mai war der Monsun da, und zwar gleich mit voller Wucht. Drei bis vier Wochen zu früh! Die Expedition war gescheitert, ohne irgendeine Angriffsmöglichkeit gehabt zu haben. Wie M. Kurz schreibt2: « Ohne abergläubisch zu sein, könnte man wirklich annehmen, dass ein Fluch auf den Everest-Unternehmungen laste und dass dieser Berg von Dämonen verteidigt werde. » Als einziges kleines Positivum sei erwähnt, dass man zum erstenmal ernsthaft versuchte, den Nordsattel von der Westseite, vom Haupt-Rongbuk-Gletscher aus, zu erreichen. Schlechtwetter und elende Schneeverhältnisse vereitelten es zwar, aber diese Route schien gewisse Vorteile zu bieten, vor allem lawinensicherer zu sein als der Zugang vom östlichen Rongbuk-Gletscher.Fortsetzung folgt ) 1 Vgl. G. O. Dyhrenfurth: Die Siebentausender, Nr. 13, 22 und 24. « Die Alpen » 1942, S. 60 und 61.

2 « Die Alpen » 1937, S. 412/413.

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