Dezemberbesteigung des Hangendgletscherhorns
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Dezemberbesteigung des Hangendgletscherhorns

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schicken. In Getta habe ich dann vernommen, dass das alte Fräulein America heisse, ein im Tessin oft gehörter weiblicher und männlicher Vorname ( Ame-rico ). Als wir uns trennen, umschliessen sich unsere Hände fest, und ihre Segenswünsche berühren mich mit der Kraft eines Gebetes. Kurz ist die Zeit des Blühens und der Musse für die Frauen dieser Täler. Früh kommt schwerste Arbeit auch für Mädchen, und spätere Mutterpflichten ändern daran nichts. Erst die gebrechliche Nonna ist nicht mehr eingespannt im unerbittlichen Laufe des Alltages.

Getta mit seinem schönen Kastanienhain ist immer noch etwa 500 m über Iragna. Im Zickzack und steinig geht es hinunter. Iragna ist mir zu allen Jahreszeiten vertraut, doch jetzt ziehe ich ohne Halt fürbass, Biasca zu; auf staubiger Strasse, verstaubt, unansehnlich, in mir aber ist es hell vom Widerschein des reichen Tages. Ein Auto flitzt vorbei, ich achte es kaum, noch bin ich wie entrückt im Raum und Leben einer Welt, die vor tausend Jahren nicht anders war. Wie ich, wieder fast in der Dämmerung, zu der Tessinbrücke komme, von der ich am Vorabend den Berg hinan gestiegen bin, nähert sich ein Velofahrer. Jäh durchzuckt es mich, und ich rufe: Pierrino! Er kennt mich für einen Moment nicht, es sind ja vier Jahre her, dass der dunkle, riesenstarke Senne in Camana den halben Nostrano meiner Feldflasche leerte, spielend meinen schweren Rucksack auf seine bereits übervolle Gerla schwang und dann mit Handschlag mein patenter Führer über die Fuorcla Grarescio wurde. Nein, er fahre nicht mehr zu Alp. Aber ich solle berichten, wenn ich über den Kamm gehe, er wolle gerne wieder mit!... a rive-derciamo...

Dezemberbesteigung

des Hangendgletscherhorns

Von Karl Schmid

Mit 1 Bild ( 130 ) ( Luzern ) Die Steigung nimmt fühlbar zu. Die Nacht lässt zwar noch alles gleich in gleich erscheinen und versucht, eine sanfte Neigung vorzutäuschen, wo die Skis schon lange vergeblich nach einem Halt suchen und der Körper sich mühsam nach vorn schiebt. Es ist 7 Uhr. Vor einer Stunde schlossen wir die Tür der Gaulihütte. Und immer noch ist finstere Nacht. Mehr ahnend als sehend tasten wir uns das abschüssige Couloir des Kammlibachs hinauf. Langsam verliert der Himmel sein gänzendes Schwarz; fahle Schatten lassen nach und nach die Bodengestalt erkennen, und unmerklich ist der letzte Stern ausgelöscht, nur der Mond hat sich für eine kurze Spanne von der Nacht ins bleiche Tagesgrauen gerettet. Das Couloir weitet sich zu einem kleinen Tal. Der Schnee deckt meterhoch verlassene Steinwüsten und erweckt unwillkürlich die Vorstellung von darunterliegenden saftig grünen Triften. Ich hebe meinen Blick und gewahre, wie ein leises Glimmen an den Graten leckt. Dunkelroter Flammenschein umschlingt Fels und Eis. Das Rot steigert sich zu einem ungeheuren Leuchten des Berges! Als wolle der Berg selbst aufbrechen und seine Rotglut von sich geben! Und dann ist plötzlich alles vorbei. Die Sonne übergiesst die Welt mit ihrem Licht, und Nacht und Glut sind überwunden.

Schon lange schreiten wir auf dem Gletscher. Wir wagen uns an den Rand einer Spalte und bestaunen die Vielfalt der Formen, welche sich im Sonnenglast wie geschliffener Kristall ausnehmen. Ein steiler Hang bäumt sich vor uns auf. Windgepresster Pulverschnee ermöglicht ein leichtes Steigen; Schritt um Schritt, Stunde um Stunde. Wir kommen zu den Gipfelfelsen und müssen hier unsere Skis zurücklassen. Sorgfältig versenken wir sie in den tief en Schnee, denn hier braust ein starker Südwest. Bis über die Knie versinken wir im weichen Pulverschnee, so dass wir mehr und mehr nach den Felsen streben, die ein leichteres Steigen versprechen. In leichter Blockkletterei gelangen wir zum Grataufschwung. Der Grat ist schmal, verschneit, und hie und da mit Wächten belegt. Einige kleine Gendarmen müssen überwunden werden. Dann führt uns der Grat direkt zum Gipfel. Tritt um Tritt tasten sich die Füsse aufwärts; der Körper stemmt sich gegen den Wind und sucht das Gleichgewicht zu halten. Beidseitig rieselt der Schnee lautlos in die Tiefe. Dann reichen wir uns beim Steinmann die Hände mit den dicken wollenen Fäustlingen. Wir lassen uns auf dem Gipfel nieder, und der Blick fällt in die Tiefe, streift über die zerrissenen Schründe des Renfengletschers, huscht an den Flanken der Engelhörner und des Dossenhorns hin und sucht die Dossenhütte zu erspähen. Tief unten in grünem Tal grüsst Innertkirchen und gegenüber — welch ein Gegensatz — die eisgepanzerten Fluchten des Schreckhorns, abweisend und kaum bezwingbar. Doch über alles dominierend und mit schwarzem Wolkenhut bedeckt beherrscht das Finsteraarhorn weit und breit die Runde.Vor uns können wir deutlich die Spuren erkennen, die wir gestern bei der Besteigung des « Ankenbällis » traten. Als feiner Faden laufen sie über die Steilstufe des Gipfels hinab, um sich auf dem Gletscher zu verlieren. In der Ferne aber leuchtet das weisse, schillernde Gipfelheer bis in den Horizont und zwingt zum Schauen und Bewundern, ohne an Namen zu denken.

Der West hat sich so verstärkt, dass wir uns zum Abstieg rüsten. Noch ein letzter Blick in die weite Runde der Gipfel, als gelte es, ihnen den Abschiedsgruss zu geben und noch möglichst viel für die Erinnerung zu erhaschen. Aus den Seitencouloirs des Südgrates peitschen hohe Schneefontänen, dass wir die Arme schützend vors Gesicht halten und uns jeweils ducken, bis das Ärgste vorüber ist. Ein körniger haltloser Pulverschnee liegt auf vereistem Geröll. Die Kälte erschwert klare Gedanken und erzeugt ein animalisches Getriebensein nach Stall und Wärme. Seillänge um Seillänge klettern wir schnell, aber wachsam zu unserem Skidepot hinunter. Endlich stehen wir mit klammen Fingern auf unsern Skis, stemmen langsam zum ersten Bogen, reissen den zweiten, dass der Pulverschnee aufstäubt, und dann gleiten wir in die Steilhänge. Wir scheinen nicht mehr an die Erde gebunden, wir glauben wie zwischen Erde und Himmel zu sein, fast näher dem Himmel! Wir sind im Windschatten, so dass wir uns ungestört dem Genusse des Gleitens hin- geben können. Da tönt plötzlich ein feines Flöten und Orgeln über die Scharten des Kammligrates, und wie ich nach den Worten der Melodie suche, steigt ein hoher Schneewirbel auf, sich rasend um die eigene Achse drehend. Wie eine Bergfee in feinem Tüllkleid eilt dieses Naturwunder an uns vorüber, hinter ihr noch eine und noch eine. Mit eng gehaltenen Füsschen wirbeln sie über die glatte Fläche des Gletschers, setzen in weichem Sprung über klaffende Risse, neigen sich, recken sich und brausen geradewegs auf uns zu. Wie sich die erste nach mir bückt, denke ich, sie wolle mich zum Tanze holen. Aber ob der tollen Musik geht mir schier gar der Atem aus! Ich ducke mich, dass ihr weisses Kleid über mich hinwegrauscht, einen kalten Duft in meiner Kapuze hinterlassend, dass mich schaudert.

In aller Eile durchmessen wir die Mulden, die ich mir am Morgen so lebhaft als saftige Weide vorstellte. Die Sonne wirft ihre Strahlen von Westen her gegen uns und durchdringt unsere Körper mit letzter Wärme. Unsere weit ausholenden Schwünge werden im Talboden des Kammlibaches enger. Das Tälchen wird zur Runse, und die Beschaulichkeit weicht wieder dem Kampf. Wir stecken im engen, steilen Couloir und suchen die Tücken des Geländes auf alle Art zu überlisten. Aber es taucht noch ein neuer Gegner auf: ein leichter Bruchharsch. Ich möchte dagegen protestieren, als sei er ein Spiel gegen die Regeln. Auch der Bruchharsch wird bezwungen...

Sind wir die Sieger? Nein, wir sind eher die Geduldeten. Der Berg bringt uns Freundlichkeit und Wohlwollen entgegen und beschenkt uns mit allem seinem grossen Reichtum.

Die schleichenden Schatten der Dämmerung lassen uns frösteln. Und mit Freude betreten wir die Gaulihütte. Gegenüber, genau im Dachwinkel, streben die schmalen Pfeiler des Ritzlihorns ins kalte Blau des Firmaments. Die Tiefen ertrinken in kaltem, leblosem Dunkel, und der Blick sucht die himmelfernen Grate, die letztes Licht mit verblassendem Rosa umspielt.

Herrlicher Tag, voll Sonne im Monat Dezember — ein Sonnentag des Lebens!

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