Der Zentralturm des Paine
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Der Zentralturm des Paine

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON C. J. S. BONINGTON

Wie Luftballons blies der Wind unsre Windjacken auf, und das Seil zwischen uns war wie ein gespannter Bogen; der Wind zerrte und rüttelte an unseren Körpern, er versuchte uns aus unsren Griffen wegzureissen und das steile, felsige Couloir hinunter zu fegen. Er hatte die unwiderstehliche Wucht der Sturmflut, und die Kraft, die wir ihm entgegensetzten, schien lächerlich und unbedeutend.

Ian Clough und ich duckten uns in der Scharte zwischen dem Zentral- und dem Nordturm des Paine in Südpatagonien. Von allen Seiten erheben sich Granitwände, die in einem aufsteigenden Wolkenwirbel verschwanden. Hinter uns, dort, woher wir gekommen waren, zieht ein Schneecouloir hinunter, mit einer Steilstufe von 30 Metern in brüchigem Felsen beginnend. An der anderen Seite verschwand eine Rinne in die Tiefe des 700 Meter weiter unten liegenden Gletschers. Ihre Wände waren glatt, ohne die geringste Unebenheit. Auf der anderen Seite des Gletschers erhebt sich, wie ein unförmiger Haufen von Felsen und Eis, der Paine Chico; noch weiter links die breite, flache Weite der Pampa, ohne jeden Anhaltspunkt, fast irreal.

Ian und ich hatten die Augen auf die Wand des Zentralturms geheftet. Nach einer kurzen Steilstufe oberhalb unserer Scharte zieht sich ein deutlich erkennbarer Riss hinauf, den wir, allem Wind zum Trotz, zu erklettern hofften. Aber gerade im Moment, als wir unsere Haken und Steigbügel umhängten, befiel uns ein solches Kältegefühl, dass unsre Glieder erstarrten und unsre Entschlossenheit verflog. Dennoch begann ich die zum Fuss des Risses führende Stufe zu erklettern. Bald wurden meine Hände gefühllos, und der Mut verliess mich. Ich schaute zu Ian hinunter. In eine Nische geduckt, suchte er sich umsonst vor dem Winde zu schützen und fror noch mehr als ich. Wir gaben es auf und flohen zu unsrem Zelt hinunter, das etwa 300 Meter tiefer auf dem zur Scharte führenden Abhang aufgeschlagen war.

Dies bot uns allerdings nur eine vorübergehende Erleichterung. Während der Nacht erhob sich ein richtiger Sturm. Am Anfang war alles ruhig, dann hörte man den brausenden, sich durch die Scharte stürzenden Wind immer lauter. Ein starker Windstoss schlug gegen den Turm und stürzte den Abhang hinunter bis zu unsrem Zelt. Es war, als ob wir in einem Lawinenzug lägen und jeden Augenblick verschüttet werden könnten. Die Windstösse, die unser Zelt schüttelten und peitschten, klangen beinahe wie Hammerschläge oder Knallen. Es schien unmöglich, dass der Zeltstoff eine solche Belastung aushalten würde. Aber gerade im Moment, wo wir jede Hoffnung aufgaben und unsre Schlafsäcke einzupacken begannen, flog der Wind weiter und alles blieb still und ruhig bis zum nächsten Windstoss. In dieser Nacht schliefen wir nicht viel. Am nächsten Tag stiegen wir zum 1000 Meter tiefer gelegenen Gletscher ab, wo die anderen Expeditionsmitglieder auf uns warteten. Unser erster Angriff gegen den Zentralturm war abgeschlagen worden. Nicht genug damit, dass unsre Besteigung misslungen war, waren wir auch noch gezwungen worden, das oberste Lager zu verlassen, da kein Zelt einem solchen Wind widerstehen konnte.

In dieser Nacht versammelten wir uns in unserem grössten Zelt zum Essen und um Kriegsrat zu halten. Dieses Zelt mit einem Durcheinander von Armen und Beinen von sechs Bergsteigern, Konservenbüchsen und schmutzigem Geschirr hatte etwas Beruhigendes an sich. Dicker Zigarettenrauch erfüllte die Luft, in der das Summen des Primuskochers eine heimelige Atmosphäre schaffte. Barry Page, Vic Bray und Derek Walker waren schon in dieser Gegend gewesen. Don Whillans hatte voriges Jahr das Gebiet des Fitzroy, einige hundert Kilometer nördlicher, durchwandert. Ian Clough und ich hingegen waren zum erstenmal in Südamerika. Wir waren alle der Meinung, dass wir noch nie mit einem so heftigen Wind zu tun gehabt hatten und dass, solange er blies, es hoffnungslos war, den Turm besteigen zu können. Wir wollten aber in der Nähe der Scharte bleiben, um bereit zu sein, die ersten Stunden schönen Wetters auszunützen und keine Zeit zum Aufstieg zu verlieren.

Unser Kampf mit dem Wetter dauerte einige Tage. Clough und ich verbrachten noch eine Nacht im obersten Lager, dann waren Don Whillans und Berry Page an der Reihe, mussten aber erleben, wie das Zelt über ihren Köpfen zusammenbrach. Sogar auf dem Gletscher wurden die Zelte in kleine Stücke zerrissen. Aus Verzweiflung begannen wir eine Grotte unter einem Felsblock auszugraben.

Ein amüsantes Ereignis brachte einige Abwechslung. John Streetly, der auf der Insel Trinidad lebte, sollte uns anfangs Dezember auf dem Luftweg einholen. Damit er seinen Weg leichter finde, hatten wir ihm im Basislager eine Beschreibung der Route bis zum Gletscherlager hinterlassen. Eines Tages stieg ich mit Ian zum Basislager ab, um Proviant zu holen, und stellte fest, dass John sich am Tag vorher auf den Weg zu unsrem Lager gemacht haben musste. Die Tatsache, dass wir ihm unterwegs nicht begegnet waren, beunruhigte uns nicht allzusehr. Es gab ja keinen Weg in einem Dickicht, durch welches wir marschieren mussten, so dass wir an ihm hätten vorbeigehen können, ohne ihn zu sehen. Am nächsten Tag, als wir die anderen einholten, fanden wir kein Lebenszeichen von Streetly. Er hatte zwei Nächte draussen verbracht, und wir stellten uns schon vor, wie er, von einem Baum oder Steinschlag verletzt, irgendwo in diesem wilden Gelände steckengeblieben sein musste.

Voll Sorgen eilten wir das Tal hinunter, um eine gründliche Durchsuchung zu organisieren. Bei einbrechender Nacht erreichten wir ein Proviantdepot, das wir beim Aufstieg hinterlassen hatten. Don, der voranging, stiess einen Ruf aus. Die Blache, mit der die Vorräte zugedeckt waren, hatte sich in ein Zelt verwandelt, und ein braungebranntes, lächelndes Gesicht, wie das eines Zwerges, guckte heraus. « Wo zum Teufel wart ihr denn? Ich suche euch bereits seit zwei Tagen und dachte schon, ihr seid von einer Lawine verschüttet worden. » Er hatte uns auf einem falschen Gletscher gesucht, was leicht geschehen kann, wenn man nur eine Beschreibung von einer völlig unbekannten Gegend besitzt. Wir hielten einen kurzen Kriegsrat und beschlossen, dass John und ich zum Gletscherlager wieder aufsteigen und dort im Felsen einen Schutzraum bauen sollten, um abzuwarten, bis zwei andere uns dort bei günstigerem Wetter ersetzen würden. Es hatte keinen Zweck, die ganze Mannschaft dort zu belassen, denn sie hätte nichts anderes getan, als die Vorräte, die wir mit grosser Mühe hinaufgetragen hatten, zu verzehren.

Den nächsten Tag verbringen John und ich damit, eine Mauer vor der Grotte zu bauen. Das Schleppen von Steinblöcken gibt uns das angenehme Gefühl, etwas geleistet zu haben, aber gegen Abend beginnt unsre Begeisterung abzuflauen. Es ist unmöglich, alle Zwischenräume zuzustopfen, und mit jedem Windstoss kommt eine ganze Wolke von Schneestaub herein. Dieser Staub bedeckt alles, dringt in unsre Schlafsäcke, mischt sich in unsre Speisen. Aber wenigstens sind wir im Trockenen, und es besteht keine Gefahr, dass unsere Unterkunft weggefegt wird.

In der Nacht werde ich von einem Geräusch fliessenden Wassers geweckt. Mein Schlafsack ist völlig durchnässt. Vergebens suche ich nach der Taschenlampe. Ganz verschlafen, kann ich nicht begreifen, was mir zugestossen ist. Endlich findet John die Lampe. Längs des Daches unsrer Grotte fliesst ein Bach und rinnt auf meinen Schlafsack. Wir brechen in ein schallendes Gelächter aus. Mit einem Menschen wie John kann man nie deprimiert sein. Wankend stehe ich auf und versuche einen vor dem Wasser sichern Schlafplatz zu finden. Am nächsten Tag bemühen wir uns, mit einer Blache ein besseres Dach zu machen. Aber die Blache senkt sich, und unsere Unterkunft wird zu einem mit Wasser und Schmelzschnee gefüllten Schwimmbassin. Das Wetter wird etwas besser, der Berg lockt uns. Auf der Scharte ist es kalt und windig. Wir beschliessen, ein paar Seillängen hinaufzuklettern. Im Osten, gegen die Pampa, sehen wir die mit leichten Wolken bedeckten, sanften, runden Hügel. Dort ist es sicher warm, aber in der Scharte herrscht eine eisige Kälte. Wir müssen unseren ganzen Mut einsetzen, um unser Material zu sortieren. Sobald ich aber zu klettern anfange, vergesse ich die Kälte. Ich befasse mich nur mit dem Felsen, der vor mir emporragt. Ich brauche anderthalb Stunden, um 25 Meter zu erklimmen Aber die Zeit spielt für mich keine Rolle; dem unten wartenden John scheint sie aber unendlich. Es ist zu spät, um das Klettern fortzusetzen. Ich befestige eine Seilleiter, die wir an Ort und Stelle lassen, und wir kehren zum Lager zurück. Das schlechte Wetter herrscht weiter. Am nächsten Tag steigen wir zum Basislager ab. Nach fünf Wochen bitteren Kampfes haben wir praktisch nichts erreicht.

Es ist bald Weihnachten. Deshalb essen wir gebratene Schafe, trinken eine Unmenge chilenischen Wein und Bier und verbringen so die Festtage.

Nach Weihnachten trifft eine italienische Expedition ein. Sie hat das gleiche Ziel wie wir: den Zentralturm des Paine. Es ist ärgerlich, dass die chilenische Regierung eine solche Situation zugelassen hat. Jetzt aber ist es an uns, Mittel und Wege zu einer Verständigung zu finden. Wir laden die Italiener zu einem Essen ein. Das Hauptproblem ist, eine gemeinsame Sprache zu finden, denn keiner versteht die Sprache des anderen. Bloss einige elementare Kenntnisse des Französischen und des Spanischen sind uns gemein. Die Italiener sind älter als wir und allem Anschein nach erstklassige Bergsteiger. Sie sind von ihren Sektionen des CAI für diese Expedition ausgewählt worden. Ihr bester Kletterer ist Armando Aste, der die schwierigsten Routen der Dolomiten gemacht hat. Selbstverständlich hat er es auf den Zentralturm abgesehen, denn das ist das ihnen gesteckte Ziel. Ihr Beschluss ist uns unangenehm. Unsrer Meinung nach gibt es nur einen Weg zum Gipfel, und wir sehen allerlei Schwierigkeiten voraus, wenn zwei Expeditionen wetteifern, um den Gipfel zu erreichen. Wir haben einige tausend Kilometer zurückgelegt, um jungfräuliche Gipfel zu finden, und schon viele Tage im schweren Kampf mit Schlechtwetter verbracht. So wollen wir auch das Vergnügen haben, einen unangetasteten Gipfel zu betreten. Zweifellos dachte die italienische Mannschaft ebenso!

Unsre Lösung ist, während des schlechten Wetters in greifbarer Nähe des Turmes zu bleiben, jede Wetterbesserung ausnützen zu können. Don Whillans und Vic Bray, die mit einem praktischen Sinn begabt sind, fällt es ein, im Basislager eine vorfabrizierte Hütte mit einem mit Zeltblachen bespannbaren Holzrahmen zu bauen, diesen dann zu zerlegen und in Teilen in das oberste Lager zu transportieren, um ihn dort wieder zu montieren.

In einem Schneesturm bauen wir am Neujahrstag 1963 die Hütte und ziehen uns dann wieder in den Wald zurück, um ein neues, von Bäumen geschütztes Lager, etwa eine Marschstunde unter unserem alten Gletscherlager, einzurichten. Am nächsten Tag steigen Barry Page und ich zur Hütte, um die erste Wache zu halten. Wir planen, zwei Bergsteiger ständig in der Hütte zu lassen, damit sie die erste Gelegenheit benutzen können, einige Fortschritte zur Besteigung des Turms zu machen. Inzwischen suchen die Italiener nach einem Weg das Tal hinauf und organisieren ihren Transport. Bei jeder Begegnung sagen sie immer dasselbe: « Mucho vento ». Wir sind mit ihnen völlig einverstanden. Ich habe den Eindruck, sie seien bei ihrer Ankunft durch unsre geringen Fortschritte, unsre lustige Lebensweise und unsre fröhliche Stellungnahme der Besteigung gegenüber überrascht gewesen. Jetzt aber beginnen sie zu verstehen, welche Schwierigkeiten wir während der fünf letzten Wochen überstanden haben.

Die Hütte ist einer kleinen Schachtel von 2 x 2 m und 1,5 m Höhe ähnlich. Sie hat eine Tür, aber keine Fenster. An der Tür steht geschrieben « Hotel Britannico ». Obschon das Wetter schlecht bleibt, sind wir voll Optimismus. Wir haben das Hauptproblem gelöst, nämlich auf der Höhe zu leben. Die Hütte ist ebenso solid wie eine alpine Clubhütte und widersteht dem Wind, wie es kein Zelt tun könnte. Aber man fühlt sich darin wie in einer von tausend Kompressoren geschlagenen Trommel. Nach drei Tagen lösen uns Whillans und Clough ab. Am zweiten Morgen ihres Aufenthaltes bessert sich das Wetter. Aber unsre Kameraden haben sich so an das schlechte Wetter gewöhnt, dass sie erst am späteren Morgen aus der Hütte hinausgucken.

Sobald sie den Wetterumschlag festgestellt haben, machen sie sich auf den Weg zur Scharte. Es ist nicht ihre Absicht, den Aufstieg zum Gipfel zu versuchen, sie wollen aber möglichst hoch steigen und beim Abstieg feste Seile zurücklassen, damit wir bei der nächsten Schönwetterperiode den Aufstieg zum Gipfel versuchen können. Die Route ist klar zuerst ein 120 m hoher, sich an den Turm anlehnender felsiger Vorbau, dann eine Reihe von Rissen bis zur Schulter. Zwischen dem höchsten Punkt des Vorbaus und dem Anfang der Risse befindet sich eine Zone von Platten, die von unten vollständig glatt scheinen.

Um elf Uhr steigen sie in die Wand ein, unter Benutzung der von John Streetly und mir vor Weihnachten befestigten Leiter. Weiter oben ist die Kletterei leichter, als sie vorgesehen haben, und bald erreichen sie den obersten Teil des Vorsprunges. Es weht kein Wind, und es ist warm genug, um hemdärmelig zu klettern. Ein angenehmer Gegensatz zu den vorigen Wochen. Schon erreichen sie den Fuss der Platten. Ein waagrechtes Pendelmanöver führt sie zu einem 30-m-Riss, der sich weiter oben verliert. In dieser Art von Kletterei ist Don unübertrefflich. Die Zigarette keck im Mundwinkel, erklettert er die glatte Platte mit ausbalancierten Bewegungen. Es gibt keine eigentlichen Griffe, nur kleine Unebenheiten. Langsam, aber sicher, bald rechts, bald links findet er den einzigen möglichen Weg. Es gibt keine Risse, um Haken zu schlagen, und eine Rückkehr wäre ausgeschlossen. Nach 30 Metern erreicht er den Fuss einer grauen Verschneidung, den ersten der grossen von unten beobachteten Risse.

Es ist spät. Unheimliche Wolken sammeln sich im Westen, ein sicheres Zeichen des sich annähernden schlechten Wetters. Längs der Abstiegsroute lassen sie feste Seile zurück. Endlich haben wir die Bastion des Zentralturms angegriffen!

In dieser Nacht setzt das normale schlechte Wetter wieder ein. Ein paar Tage später steige ich mit John Streetly zum Turm auf. Bei schlechten Verhältnissen können wir nicht weiter, als die anderen vorstiessen. So begnügen wir uns, auf einen windlosen Tag zu warten, um den Gipfel dann zu stürmen! Inzwischen haben die Italiener oberhalb unsrer Hütte ein Zelt aufgeschlagen, das aber vom Wind sehr bald weggefegt wird.

Einige Tage später scheint das Wetter sich zu bessern. Am 15. Januar, abends, steigen unser vier zur Hütte. Es ist eine wunderbare Nacht. Im Norden und im Westen sieht man heute in voller Klarheit eine weite Gletscherfläche, die bis jetzt immer in Wolken eingehüllt war. Mit ihren schneebedeckten namenlosen Gipfeln erweckt sie den Eindruck einer antarktischen Landschaft. In scharfem Gegensatz dazu ragt auf der anderen Seite des Tales die felsige Masse der Forteresse empor. Ihre 1200 m hohe, glatte Granitwand zeichnet sich gegen den nächtlichen Himmel ab.

Diese Nacht kann ich nicht schlafen. Ich liege aufgeregt in meinem Schlafsack und denke an die bevorstehende Kletterei. So lange haben wir in den Wänden des Zentralturms gekämpft, so oft sind wir zurückgewiesen worden, dass ich all mein Sinnen und Trachten auf diesen Gipfel konzentriert habe. Alle meine physischen und seelischen Fähigkeiten streben ausschliesslich nach diesem einzigen Ziel. Ganz sicher sind alle Mitglieder unsrer Mannschaft in der gleichen Stimmung, und John Streetly, der neben mir liegt, scheint ebenso aufgeregt zu sein wie ich selbst.

Um vier Uhr klingelt endlich der Wecker. Wir trinken Kaffee und machen uns auf den Weg zur Scharte. Don und ich gehen voran, um den Weg zu bahnen. Barry Page und John Streetly sollen uns folgen, mit Proviant und der Biwakausrüstung. Um sechs Uhr erreichen wir die Scharte. Auf der Platte weichen wir knapp einer Katastrophe aus. Das darüber laufende Seil ist vom heftigen Wind stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Don, der als erster steigt, zieht mehrmals daran, um seine Solidität zu prüfen. Es scheint zuverlässig zu sein. Mit einem Prusigknoten, am Handgelenk, beginnt er zu steigen, das Seil als Geländer benutzend. Plötzlich reisst das Seil oberhalb seiner Hand, gerade im Moment wie er, zwanzig Meter über mir, einen heiklen Schritt wagt. Nur dank seinen festen Nerven hält er aus. Gott weiss, wie es ihm gelingt, auf der 60° steilen Platte sein Gleichgewicht zu behalten, das Seilende nicht aus der Hand zu lassen und es wieder zu befestigen.

Um acht Uhr haben wir den Einstieg in die Verschneidung erreicht. Jetzt muss ich führen. Die Verschneidung ist senkrecht, griff los, von Überhängen durchsetzt. Es gibt aber kleine Risse, in die man Haken schlagen kann. Mit Haken, Holzkeilen und Karabinern behängt, bin ich bald völlig mit Klettern befasst. Die ersten Meter bis zum grossen Dach überraschen mich durch ihre Leichtigkeit. Dann aber müssen Steigbügel zum Einsatz kommen Wie ich mich strecke, um einen Überhang zu bewältigen, gleitet mein Fuss aus dem Bügel, und schon hänge ich in der Luft, drei Meter tiefer! Aber die Haken haben meinen Sturz aufgehalten. Wegen meiner Ungeschicklichkeit verärgert, klettere ich rasch bis zum Rand des Überhanges, schlage einen Haken und ziehe mich hinauf. Die Kletterei ist sehr genussreich, künstliches und freies Klettern wechseln ab. Die Risse sind bald zu eng und bald zu breit. Nach 25 Metern gibt es noch nicht den geringsten Sicherungsplatz, und das Seil ist bald zu Ende. Ich lasse Don bis zu mir nachkommen und steige weiter. Die Müdigkeit befällt mich allmählich, ich bekomme Krämpfe in den Händen und muss mit den Zähnen die Finger, die den Hammer halten, wieder aufrichten. Während der letzten Wochen haben wir ein gutes Marsch-training, aber keine Vorbereitung zur Kletterei des obersten Grades gewonnen. Schliesslich, nachdem das ganze Seil wieder ausgegeben ist, erreiche ich eine schmale Terrasse. Ich habe fünf Stunden gebraucht, um 85 Meter zu gewinnen. Das erinnert mich an Chamonix. Etwas Ähnliches haben wir an der Ostwand des Capucin oder dem Süd-West-Sporn der Drus erlebt, als diese Routen noch nicht mit Haken versehen waren.

Don folgt mir regelmässig, die Hilfe des Seils nur selten verlangend. Wie er mich einholt, flucht er und schnauft. Es gibt nichts Deprimierenderes, als in langen Passagen künstlicher Kletterei als zweiter am Seil zu folgen, nachdem man stundenlang auf engen Sicherungsstellen hat warten müssen. Er ist ein ausserordentlich ruhiger zweiter gewesen, aber jetzt kann ich seine Ungeduld und seinen Wunsch, als erster zu steigen, gut verstehen. Wir stehen auf einer kleinen Terrasse unter einer Verschneidung im roten Granit, der sogenannten « Roten Verschneidung ». Don steigt wie im Laufschritt, schlägt einen Haken, befestigt einen Steigbügel, klettert weiter, macht einen freien Schritt, schlägt mit ausgestrecktem Arm einen neuen Haken. Seine ausserordentliche Beweglichkeit und die Kraft seiner Muskeln kompensieren reichlich seine kleinere Gestalt. In einigen Minuten ist er schon 20 Meter über mir und überwältigt einen ausgeprägten Überhang. Er hält an und ruft. Die Neigung wird schwächer, wir werden schneller vorwärtskommen.

Allmählich sieht der Turm immer mehr wie eine klassische, viel begangene Route in Chamonix aus als wie eine jungfräuliche Spitze « am Ende der Welt ». John Streetly und Barry Page sind in der Verschneidung unter uns. Noch weiter unten folgen fünf Mitglieder der italienischen Expedition, die unsere Haken benützen. Die übrigen Mitglieder unsrer Mannschaft sonnen sich auf der Scharte und geniessen das Schauspiel. Die aufgeregten Rufe der Italiener gesellen sich zu den ironischen Ermutigungen unsrer Zuschauer. Wir sind über John und Barry beunruhigt. Sie haben kaum genug Karabiner und Steigbügel, um zur « Roten Verschneidung » zu gelangen. Um Zeit zu gewinnen, erklären sie sich grosszügig einverstanden, zurückzukehren.

Don und ich beschleunigen das Tempo. Obschon wir beide müde sind, fühlen wir uns durch das rasche Klettern ohne den Wirrwarr von Steigbügeln angespornt. Es ist so angenehm, nur hie und da einen Sicherungshaken schlagen zu müssen. Um halb sechs Uhr erreichen wir die Schulter. Jetzt führt unsre Route über die Ostflanke des Turms, in einem zerbröckelten, mit Schnee und Eis be- deckten Fels. Endlich bekommen wir den Gipfelgrat in Sicht und denken schon, den Gipfel zu sehen. Aber wir irren uns, weiter gibt es noch einen Gratturm, der noch höher scheint, und wie wir ihn erklimmen, erscheint noch einer, zum Glück der letzte!

Es ist halb acht abends, wie wir den Gipfel des Zentralturms des Paine erreichen. Wir bleiben nur einige Minuten oben, denn wir möchten bis zur Schulter absteigen, bevor es ganz dunkel ist. Sollte schlechtes Wetter kommen, während wir noch im oberen Teil der Wand sind, so könnten wir ohne Fixseile nicht zurückkehren, denn der starke Wind würde das zum Abseilen ausgeworfene Seil waagrecht wegblasen, und der Abstieg wäre unmöglich.

Wir stossen einen Freudenschrei aus, den unsre Kameraden unten vernehmen, machen einige Aufnahmen vom Gipfel aus und beginnen einen schnellen Abstieg, bei einbrechender Dunkelheit. Wie es kommen musste, bleibt das Seil schon beim ersten Abseilen klemmen Zweimal muss Don hinaufklettern, um es zu lösen. Es ist schon Nacht, wie wir die Schulter erreichen und uns freudig zum Biwak einrichten.

Es ist uns warm genug, denn wir haben uns mit Fusssäcken und Flaumwesten versehen, aber es bleibt uns nur noch ein bisschen Schokolade zum Essen und, was viel schlimmer ist, nichts zum trinken. Die anderen haben den ganzen Proviant und den Primus. Aber trotz schrecklichem Durst sind wir zufrieden. Das Wetter ist sicher geworden, und wir werden ganz bestimmt morgen absteigen können.

Um sechs Uhr morgens machen wir uns auf den Abstieg und seilen längs der oberen Risse ab. Am Fuss der « Roten Verschneidung » begegnen wir dem ersten Italiener. Sie haben eine unbequeme Nacht in der Verschneidung verbracht, auf winzigen Simsen sitzend. Wir begrüssen sie mit einigen Worten, wollen aber keine Zeit verlieren. Sie eilen hinauf und wir hinunter!

Wir sind schon fast in Sicherheit, nur vier Meter trennen uns von unsren Kameraden, die uns mit Essen und Trinken in der Scharte erwarten. Don ist schon unten, und wie ich am letzten Seil gleite, reisst es, und ungesichert stürze ich kopfüber. Ich stosse gegen einen Felsenrand, pralle aber ab und rolle eine Platte hinunter, den Felsen mit den Händen kratzend. Ich weiss nicht, wie es mir gelingt, am Rand eines 150 m hohen Absturzes anzuhalten. Tief erschüttert und keuchend bleibe ich auf einer engen Plattform liegen. Ich habe mir nur einen Knöchel verstaucht, kann aber zurück.

Am gleichen Tag bestiegen Derek Walker und Ian Clough den Nordturm I, und die Italiener erreichten den Gipfel des Zentralturms. Im Laufe der folgenden Wochen versuchten wir einen anderen Berg dieser Gegend zu besteigen, einen der Gipfel der Cuernos. Aber kurz vor dem Gipfel wurde der Fels so brüchig und steil, dass wir verzichten mussten. Die Italiener nahmen den Südturm über seinen Nordgrat in Angriff. Der in seinem unteren Teil sehr schwierige Grat wurde dann leichter, und es gelang ihnen, den Gipfel zu erreichen. Unterdessen umgingen Don Whillans, Ian Clough und Barry Page den Südturm und versuchten den Südgrat. Dieser erwies sich als viel länger, als vermutet, und da das Unwetter drohte, mussten sie aufgeben.

Wir haben den Zentralturm erklommen, nachdem wir einige Wochen ungeduldig im Basislager gesessen und die Zugänge zum Turm in beiden Richtungen rekognosziert hatten. Wir haben zwanzig Stunden auf einem soliden und warmen Felsen verbracht, der aber die höchsten Ansprüche an unsre Kräfte stellte.

Für diese 700 Meter Kletterei haben wir Hunderte Kilometer zurückgelegt; aber dieser einzige Tag des Gelingens hat alle unsre Anstrengungen belohnt!

( Aus dem Französischen übersetzt von Nina Pfister ) ( Original in The Alpine Journal, November 1963, No. 307 ) 1 Die Erstbesteigung des Nordturms wurde 1958 von einer italienischen Mamschaft gemacht. Mitgliedern der argentinischen Expedition gelang 1960 die zweite Besteigung.

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