© David Birri
Der Zahlenjongleur im Bergsport Sicherheitsexperte Ueli Mosimann zieht sich zurück
Ueli Mosimann, «Mister Sicherheit» beim SAC, gibt seine Funktionen weiter. Per Ende 2019 hat er nach 35 Jahren seine letzte Bergnotfallstatistik erstellt. Ein Gespräch über Sicherheit und Risiko im Bergsport.
Annette Marti: Kaum jemand verfolgt Anzahl und Gründe von Bergunfällen so intensiv wie du, Ueli. Seit 1984 machst du die Bergnotfallstatistik für den SAC. Muss man sich Sorgen machen um die Bergsportlerinnen und Bergsportler?
Ueli Mosimann: Nein, ich sehe keinen Grund zur Sorge. Allgemein stelle ich ein recht gesundes Risikoverhalten fest. Viele Bergsportlerinnen und Bergsportler befassen sich mit der Materie und lassen sich ausbilden. An einem schönen Wintertag unternehmen zum Beispiel im Diemtigtal Hunderte, ja übers ganze Wochenende vielleicht mehr als 1000 Leute eine Skitour, und es passiert selten etwas. Die Menschen sind vorsichtiger unterwegs als früher, aber natürlich gibt es auch Ausnahmen.
Belegen das auch die Zahlen?
Die Anzahl Bergunfälle muss man in Relation setzen mit der Anzahl Personen, die unterwegs sind. So gesehen passieren nicht mehr Bergunfälle. In Studien sind Vergleiche zum Verkehr angestellt worden, und es zeigt sich, dass Bergsteigen nicht gefährlicher ist, als am Strassenverkehr teilzunehmen. Nur verglichen mit dem öffentlichen Verkehr ist das Bergsteigen riskanter.
Wer lebt am gefährlichsten? Sind es die jungen Wilden, die sich kopflos in einen Tiefschneehang stürzen?
Nein, es sind nicht unbedingt die Jungen. Auch Frauen sind allgemein vorsichtiger. Am meisten gefährdet sind ältere Männer, frühpensionierte Rentner, die viel Zeit haben, Touren zu unternehmen, und häufig alleine losgehen.
Tatsächlich? Die Wahrnehmung der draufgängerischen Jugend ist also falsch?
Was die Variantenfahrer angeht, die in eine Lawine geraten, stelle ich fest, dass die Schweizer Medien besonders stark auf solche Fälle anspringen. Weshalb das so ist, weiss ich zwar nicht, aber es beeinflusst die Wahrnehmung. Hier fände ich es wichtig, auch andere Punkte zu diskutieren. Zum Beispiel, weshalb an Stationen vieler Bergbahnen Videos von Skifahrern gezeigt werden, die im stiebenden Pulverschnee über Felswände hinausspringen. Übrigens gibt es auf der Piste eine hohe Zahl an Unfällen, aber das ist kaum ein Thema.
Beeindrucken die Unfallzahlen die Leute?
Es ist nicht direkt der Sinn der Statistik, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. Da bewirken wir mit Ausbildung mehr – ausser bei beratungsresistenten Personen, die man mit solchen Informationen grundsätzlich schlecht erreicht. Interessant ist, dass es heute selten an der Ausrüstung liegt, wenn jemand verunfallt. Zwar kann es vorkommen, dass zum Beispiel leichte Skischuhe relativ schnell verbeulen und die Bindung deswegen nicht mehr richtig auslöst. Meistens führt aber eine unzureichende Tourenplanung zu einem Unfall, indem Wetter, Verhältnisse und persönliche Ressourcen zu wenig berücksichtigt werden. Und beim Klettern sind häufig Fehlmanipulationen im Spiel. Ganz allgemein helfen Ausbildung und Information, um Unfälle zu vermeiden, und in diesem Bereich hat man schon viel erreicht.
Sind Bergsportler gewillt, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen?
Es ist interessant, zu sehen, wie Menschen ein Risiko wahrnehmen: Können sie es selbst beeinflussen, sind sie bereit, einiges zu tragen. Sind sie aber einem Risiko ausgesetzt, auf das sie selbst keinen Einfluss haben, ist das Risikoempfinden sehr hoch. Im Bergsport nimmt man eine gewisse Gefahr in Kauf, weil man eben in der freien Natur unterwegs ist. Bei neuen Sportarten präsentiert sich die Lage anders. Da ist zu Beginn oft die Technik noch nicht ausgereift, und die Ausübung dieser Sportart ist mit mehr Risiken verbunden. Und damit sich die Menschen gar nicht erst einem Risiko aussetzen, gibt es in Italien und Frankreich beispielsweise bei erheblicher Lawinengefahr in bestimmten Bereichen Betretungsverbote. Ich finde es gut, wie es bei uns ist: Solange ein Bergsportler andere nicht gefährdet, kann er so unterwegs sein, wie er will. Und im Allgemeinen funktioniert das ganz gut.
Hinter all den statistischen Zahlen stehen Menschen und Schicksale. Hat das manchmal wehgetan?
Normalerweise weiss ich nicht, wer die Menschen hinter den Zahlen sind, weil keine Namen genannt werden. Ich erinnere mich aber an Ausnahmen, zum Beispiel an den tödlichen Unfall einer Bergwanderin, die man lange vermisst hatte. Um den Fall statistisch richtig einzuordnen, habe ich beim Rettungschef nachgefragt und herausgefunden, dass ich zufällig am Vorabend des Unfalls am gleichen Ort übernachtet hatte wie diese Frau. Ich hatte mich sogar länger mit ihr unterhalten. Diesen Unfall habe ich natürlich in einem anderen Licht gesehen.
Auch Bergführer sind manchmal in Unfälle verwickelt. Wie ist das für dich?
Das sind die schlimmsten Momente, weil man in der kleinen Szene schnell weiss, wer betroffen ist. Ich habe immer versucht, mir ein genaues Bild von dem zu machen, was passiert ist. Es gab sehr vereinzelt schon Unfälle, bei denen ich dachte: «Was bist du für ein Kamel.» Bei anderen Fällen war mir völlig klar, dass die betroffene Person schlicht im falschen Augenblick am falschen Ort war. Diese Variante ist natürlich schwieriger zu verarbeiten.
Wie gehst du damit um?
Mit dem Alter bin ich generell vorsichtiger geworden, und ich ärgere mich auch nicht, wenn ich beim Klettern irgendwo eine Stelle nicht schaffe oder das Mountainbike schieben muss. Diesen Sommer bin ich an einem Bikeunfall vorbeigekommen, der sich kurz zuvor ereignet hatte. Seither steige ich bei einer schwierigen Passage schneller ab. Im Grundsatz spielt aber auch bei mir der Mechanismus, wonach jeder davon ausgeht, ihm selbst werde sicher nichts passieren. Sonst würde man vielleicht gar nicht losgehen.
Bei Unfällen werden sofort Experten oder Berufskollegen um ihre Einschätzung gefragt. Sicher hat man jeweils auch bei dir nachgefragt?
Die Medienanfragen gehörten zu meiner Aufgabe. Und nicht immer waren sie angenehm, vor allem dann nicht, wenn ein Journalist zu einem Zeitpunkt anrief, in dem ich selbst noch gar keine Informationen hatte. Es gibt kein Rezept für solche Fälle, aber ich habe immer versucht, diplomatisch zu bleiben und notfalls auszuweichen.
Gab es auch spezielle Erlebnisse in deiner Statistikzeit?
Der Ursachencode 99 in den Daten der Bergrettung bedeutet «andere Ursachen». Da habe ich jeweils bei den Rettungsorganisationen nachgefragt, um die Fälle besser zuordnen zu können. Es gab manchmal skurrile Erklärungen: «Beim Abziehen der Skifelle die Schulter ausgerenkt» oder «Im Proviantsäckli ins offene Messer gegriffen». Legendär ist der Fall eines Nacktwanderers, der sich im Brombeergestrüpp verheddert hat und von der Rega herausgeschnitten werden musste …
Stimmt es, dass Bergsportler heute schneller Rettung herbeirufen, auch wenn sie gar nicht verletzt sind?
Die Schweizer Bergretter machen einen super Job, und damit beeinflussen sie die Sicherheit beim Bergsteigen wesentlich. Wären die nicht so gut, hätten wir viel mehr tödliche Unfälle. Im Jahr 2018 wurden mehr als 3000 Personen gerettet oder geborgen, rund ein Viertel davon war blockiert. Es ist schon möglich, dass sich einige dieser Leute quasi einen «Taxidienst» organisiert haben, aber in den meisten Fällen waren es blöde Ereignisse. Man kann Pech haben, zum Beispiel wenn beim Abseilen die Seile verklemmen oder man wegen Steinschlag blockiert ist. Ohne Bergrettung kann aus solchen Situationen ein schlimmer Unfall entstehen.
Vielleicht geht man ein höheres Risiko ein, weil die Alarmierung so einfach ist?
Das ist schwer zu sagen. Bei den LVS-Geräten war die Diskussion ja anfänglich die gleiche, und auch bei den Lawinenairbags ist das Thema gerade aktuell. Es kann schon sein, dass es Personen gibt, die ein höheres Risiko in Kauf nehmen. Aber ich finde, man kann es nicht verallgemeinern und sagen, dass die Leute risikofreudiger sind nur wegen der besseren Ausrüstung oder der guten Bergrettung.
Als du mit Bergsteigen angefangen hast, war das eine Tätigkeit für Exoten, heute ist es en vogue, Bergsport zu betreiben. Freut dich das?
Ich finde es gut, dass die Leute in die Natur gehen – auf jeden Fall. Und ein gewisser Respekt gegenüber der Umwelt scheint mir vorhanden zu sein. Das Schöne am Bergsteigen ist doch, dass es keine fixen Regeln gibt wie beim Fussball- oder beim Tennisspielen. Jeder ist so unterwegs, wie er möchte, und selbst für das verantwortlich, was er tut. Klar hat der Boom auch andere Seiten, so findet man heute seltener einsame Ziele. Im Winter habe ich deshalb begonnen, bei genug Schnee unbekannte, kleine Gipfel und Hügel zu besteigen. Das ist auch sehr schön.
Welche Zukunft siehst du im Bergsport?
Ich denke, das Bergsteigen in den Hochalpen wird sich in Zukunft dramatisch verändern. Es gibt kritische Themen wie der Rückzug der Gletscher oder der schwindende Permafrost. Schon heute kann man einige Bergtouren nur noch im Winter unternehmen. Die Zuspitzung dieser Probleme werde ich zum Glück nicht mehr erleben.